Bericht | China - Demokratischer Sozialismus Auf die Volksrepublik zugehen

Unser Büro in Peking setzt nach der Pandemie seine Arbeit zur Stärkung des Austauschs zwischen China und der globalen Linken fort

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Autor

Loren Balhorn,

Die Aussage ist so banal wie wahr: Chinas ökonomischer und geopolitischer Aufstieg in den letzten vier Jahrzehnten hat das Land ebenso wie die Welt geprägt und wird dies auch in den kommenden Jahrzehnten tun. Innerhalb von zwei Generationen ist die Volksrepublik China von einem der ärmsten Länder der Welt zur zweitgrößten Volkswirtschaft und aufstrebenden Weltmacht aufgestiegen und hat dabei sein eigenes Entwicklungsmodell beibehalten. Die staatlich gelenkte Marktwirtschaft hat mehr als 800 Millionen Menschen aus der Armut geholt und das Interesse anderer Entwicklungsländer geweckt, die sich aus der «Middle-Income Trap» (Stagnieren auf mittlerem Einkommensniveau) befreien wollen.

Loren Balhorn arbeitet als Leitender Redakteur von rosalux.org.

Daher war es nur folgerichtig, dass die Rosa-Luxemburg-Stiftung 2002 mit der Förderung von Projekten in China begann und dort 2008 eines ihrer ersten Auslandsbüros eröffnete. Seitdem hat sich unser Büro in Peking von einem bescheidenen Außenposten zu einem vollwertigen Regionalbüro entwickelt, das mit einer Reihe von Universitäten, Forschungsinstituten und sogar der Kommunistischen Partei Chinas Austausch, gemeinsame Konferenzen und Publikationen organisiert. Vor dem Hintergrund zunehmender geopolitischer Spannungen zielt die Arbeit der Stiftung darauf ab, Diskussions- und Austauschräume zu erhalten und zu erweitern und den wechselseitigen Erfahrungsaustausch im Interesse des gegenseitigen Verständnisses zu ermöglichen. Trotz vieler Unterschiede zwischen China, Deutschland und Europa sind wir davon überzeugt, dass Konflikte nur im Dialog konstruktiv gelöst werden können.

Mit dem Abklingen der COVID-Pandemie und der Lockerung der Reisebeschränkungen hat das Büro seine Aktivitäten wieder intensiviert, mehrere internationale Delegationen empfangen und eine Reihe von Seminaren und Workshops in China und Deutschland organisiert. Auch mit dem Start einer neuen zweisprachigen Website bemüht sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung um eine Wiederbelebung der Beziehungen zwischen China und progressiven Parteien und Bewegungen in Deutschland, um eine globale Debatte über das Wesen des Sozialismus im 21. Jahrhundert zu fördern. Chinesische Akademiker*innen betonen häufig, dass ihre Erfahrungen einzigartig sind und nicht als Blaupause für Bewegungen und Parteien in anderen Teilen der Welt dienen können. Dennoch können wir es uns in der Diskussion über die heutigen Perspektiven des Sozialismus nicht leisten, die Erfahrungen von 1,4 Milliarden Menschen zu ignorieren, die in einem System leben, das sich selbst als «Sozialismus chinesischer Prägung» bezeichnet.

Freund*innen aus der Ferne

Jüngstes Zeichen der verstärkten Aktivitäten des Büros war Ende März eine hochrangige Delegationsreise nach China, die von der Chinesischen Volksvereinigung für Freundschaft mit dem Ausland (CPAFFC) organisiert und vom Vorsitzenden der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Dr. Heinz Bierbaum, geleitet wurde. Gemeinsam mit Vertreter*innen des Vorstands und des Wissenschaftlichen Beirats der Stiftung besuchte Dr. Bierbaum Peking, Hangzhou und Shanghai und traf dort Vertreter*innen von Stadtverwaltungen, Kultureinrichtungen und der Kommunistischen Partei.

Zu Beginn der Reise besuchte die Delegation die Zentrale Parteihochschule in Peking, wo Vizepräsident Li Yi mit den Gästen über die sozialistische Modernisierung Chinas diskutierte und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit in den internationalen Beziehungen betonte. Im weiteren Verlauf wurden die Delegierten vom Präsidenten des CPAFFC, Yang Wanming, empfangen, der die langjährige Rolle der Rosa-Luxemburg-Stiftung bei der Förderung des persönlichen Austausches zwischen China und Deutschland hervorhob und sich optimistisch zeigte, dass sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern weiterhin positiv entwickeln. Weitere Treffen mit Vertreter*innen der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees und des Nationalen Volkskongresses unterstrichen die intensive Zusammenarbeit, die die Stiftung in den letzten zwei Jahrzehnten in China aufgebaut hat.

Nach der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten in Peking reiste die Delegation weiter ins südlich gelegene Hangzhou, der Hauptstadt der ostchinesischen Küstenprovinz Zhejiang. Dort besuchten die Teilnehmer*innen das nahe gelegene Modelldorf Xiaogucheng, in dem die lokale Parteiführung eine Reihe wirksamer Maßnahmen zur Armutsbekämpfung durchgeführt und neue Strukturen für die Kommunalverwaltung geschaffen hat. Auch bei der Zusammenführung von Hightech-Entwicklung und ökologisch nachhaltiger Stadtplanung geht Hangzhou neue Wege, wie die Delegation in Dream Town erfahren konnte, einem großen Technologiezentrum am historischen Stadthafen, das den bestehenden ökologischen und urbanen Raum nicht ersetzen, sondern einbeziehen will.

Der Besuch der Delegation endete in Shanghai, einer der größten und wohlhabendsten Städte Chinas, wo die Gäste mit Chen Jing, dem Präsidenten der Shanghaier Volksvereinigung für Freundschaft mit dem Ausland, zusammentrafen und sich über das beispiellose Wachstum der Stadt unter den Bedingungen einer staatlich gelenkten Marktwirtschaft informierten. Der Masterplan Shanghai für den Zeitraum von 2017 bis 2035 zielt darauf, Shanghai in eine «moderne sozialistische internationale Metropole» zu verwandeln, in der Leben, Arbeiten und Umwelt im Einklang stehen. Er ist beispielhaft für Chinas Entwicklungsansatz, die grundlegenden Parameter des Wirtschaftswachstums in einer Reihe von Fünfjahresplänen festzulegen, die viel Raum für Experimente und Kreativität auf lokaler und regionaler Ebene lassen.

Besonders bemerkenswert für die Delegationsteilnehmer*innen waren die großen Fortschritte der Volksrepublik auf dem Weg zu einer «ökologischen Zivilisation», wie China es nennt. In jeder Stadt, die die Delegation besuchte, waren Elektrofahrzeuge zu sehen, die sich durch leise Motoren und grüne Nummernschilder vom übrigen motorisierten Verkehr abhoben. In Shanghai sind mehr als die Hälfte der neu zugelassenen Fahrzeuge elektrisch betrieben. Das 45.000 Kilometer lange Schnellbahnnetz des Landes, das zwei Drittel aller Hochgeschwindigkeitsstrecken der Welt ausmacht, hat dazu beigetragen, Chinas Verkehrssystem umzugestalten und zeigt, welche Art von grüner Infrastrukturentwicklung unter den richtigen Bedingungen möglich ist. Zusammenfassend äußerte sich Dr. Bierbaum «tief beeindruckt von dem erreichten wirtschaftlichen und technischen Entwicklungsstand, vor allem aber davon, in welchem Umfang qualitative und vor allem ökologische Aspekte berücksichtigt wurden».

Ausweitung des Gesprächs

Zukünftig wird sich die Arbeit des Pekinger Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung auf den Austausch zwischen europäischen und chinesischen Marxist*innen konzentrieren und chinesische Debatten in westliche Kontexte übersetzen sowie umgekehrt.

Dr. Jan Turowski, seit 2017 Leiter des Büros, betont, dass bei der Bewertung der Debatten über Marxismus und Sozialismus immer die unterschiedlichen historischen Kontexte berücksichtigt werden müssten:

«In China und insbesondere in der Kommunistischen Partei wird Sozialismus weniger als Zustand denn als zielgerichteter strategischer Prozess verstanden. Die chinesische Sozialismusdebatte ist im Grunde eine Hintergrundmelodie für das praktische politische Geschäft, das von den verschiedenen sozioökonomischen Herausforderungen und tagespolitischen Zwängen geprägt ist. Als theoretische Debatte steht sie in ständiger Wechselwirkung mit praktischen Entwicklungen, Interessenkonflikten und politischen Forderungen. Sie wandelt sich, experimentiert, passt sich an und strukturiert zugleich den politischen Prozess, indem sie ihm eine langfristige Orientierung gibt.

Nicht zuletzt bietet der Sozialismus den chinesischen Entscheidungsträger*innen eine normative, wenn auch abstrakte Zielvorstellung und einen umfassenden Katalog an Konzepten und historischen Referenzen. Im Gegensatz dazu konzentriert sich die westliche Debatte darüber, ob China sozialistisch sei oder nicht, häufig – und wenig ergiebig – auf den Status quo sowie auf eine Reihe von binären Kategorien: Entweder sei eine Gesellschaft sozialistisch oder nicht. Viele westliche Linke ordnen Chinas Widersprüche als gut oder schlecht, richtig oder falsch ein, anstatt sie als integralen Bestandteil des sozialistischen Experiments zu betrachten. Dennoch könnte eine offene und interessierte Annäherung der chinesischen und westlichen Debatten über den Sozialismus, ohne die vielen Unterschiede zu leugnen, manche kreative Ideen hervorbringen.»

In den letzten zwei Jahren hat Turowski zusammen mit chinesischen Kolleg*innen eine Reihe von Sammelbänden herausgegeben, die Beiträge zu chinesischen marxistischen Debatten sammeln und einem deutschsprachigen Publikum zugänglich machen. Der erste, gemeinsam mit Yang Ping von der Zeitschrift Wenhua Zongheng herausgegebene Band konzentriert sich auf Übersetzungen der innerchinesischen Debatten zum Sozialismus chinesischer Prägung. Ziel der Reihe soll es weniger sein, über den chinesischen Sozialismus zu sprechen, als vielmehr die Auseinandersetzung mit ihm anzuregen. Wie theoretisieren chinesische Politiker*innen und Gelehrte den chinesischen Sozialismus? Werden binäre Gegensätze zwischen Markt und Plan oder Demokratie und Autoritarismus der chinesischen Realität wirklich gerecht, oder sind differenziertere Konzepte erforderlich? Welche Kritik üben chinesische Denker*innen an ihrem eigenen System, und was verteidigen sie?

Der zweite Band, der gemeinsam mit Meng Jie vom Institut für Marxismus der Fudan-Universität herausgegeben wurde, verfolgt einen ähnlichen Ansatz und versucht zu erklären, wie der chinesische Marktsozialismus funktioniert und wie er in China selbst verstanden wird. Durch die Zusammenstellung von Beiträgen aus der gesamten chinesischen Wissenschaft vermittelt der Band Gemeinsamkeiten und Kontroversen und stellt für ausländische Leser*innen die grundlegenden Parameter der chinesischen Diskussion über das Modell dar. Die nächsten Bände werden sich mit der Beziehung zwischen dem chinesischen und dem westlichen Verständnis von Modernisierung und den möglichen Auswirkungen des Aufstiegs Chinas auf den internationalen Sozialismus befassen.

Die neue Website des Büros versucht Ähnliches für ein englischsprachiges Publikum zu leisten, indem sie regelmäßig Übersetzungen von Artikeln aus der bereits erwähnten Wenhua Zongheng, einer führenden Zeitschrift für Theorie und Sozialwissenschaften in China, veröffentlicht. In der fortlaufenden Übersetzungsreihe «Debate Unblocked» werden Highlights aus den jüngsten Ausgaben der Zeitschrift veröffentlicht, um die weltweiten Debatten über Chinas Beitrag zum internationalen Sozialismus buchstäblich «freizulegen», indem das Quellenmaterial einem nicht-chinesischen Publikum zugänglich gemacht wird. Das Büro veröffentlicht auch Übersetzungen chinesischer Forschungsbeiträge und führt regelmäßig Interviews mit chinesischen Intellektuellen und Politikexpert*innen, um internationalen Leser*innen weitere Informationen über Chinas sozialistisches Modell zur Verfügung zu stellen.

Diese Publikationen sowie die Reihe «China Basics», in der Dutzende von fremdartig klingenden chinesischen Begriffen für die ausländische Leser*innenschaft entschlüsselt werden, dienen dazu, der internationalen Linken das Leben in China näher zu bringen. Die Leser*innen werden vielleicht nicht mit allem einverstanden sein, was sie lesen, aber genau darum geht es: den Dialog zu eröffnen und Vorurteile abzubauen.

Mit Blick auf die westliche Rezeption des innenpolitischen Diskurses in China bemerkt Turowski:

«China diskutiert mit sich selbst über sich selbst, und dieser chinesische China-Diskurs ist in seiner eigenen Logik und historischen Bedingtheit ernst zu nehmen. In ihm kommen chinesische Stimmen zu Wort, die in einem differenzierten und komplexen Gefüge politischer Fragen und Probleme miteinander und gegeneinander über das Land diskutieren. Einen solchen Diskurs ernst zu nehmen bedeutet auch, sich mit Positionen und Konzepten auseinanderzusetzen, die eher fremd und manchmal unbequem sind. Diese Fremdheit oder das Unbehagen müssen nicht kritiklos hingenommen werden. Aber um China zu verstehen, ist es notwendig, es mit seinen eigenen Begriffen und Konzepten zu lesen.»

Auch 2024 wird das Büro die internationale Debatte in China fördern. In diesem Jahr wird das Büro seine enge Zusammenarbeit mit der China Research Group on Socialist Eco-civilization (China-Forschungsgruppe zur sozialistischen ökologischen Zivilisation, CRGSE) ausbauen, die 2017 gemeinsam mit dem Institut für Marxismusforschung der Universität Peking gegründet wurde und in der chinesischen Debatte zunehmend an Einfluss gewinnt. Beide werden bei Symposien und Konferenzen zu verschiedenen politischen Aspekten und strategischen Fragen der sozial-ökologischen Transformation zusammenarbeiten. Darüber hinaus wird das Büro einen gemeinsamen Workshop mit dem Chunqiu Institute for Development and Strategic Studies zum Thema Sicherheit und Geopolitik in Ostasien sowie einen gemeinsamen Workshop mit dem Forschungsinstitut für Parteigeschichte und Dokumente zum Thema «Modernisierung und politische Organisationen» veranstalten.

Globale Probleme gemeinsam anpacken

In den Tagen nach der Rückkehr der Delegation der Rosa-Luxemburg-Stiftung nach Berlin besuchte auch die US-Finanzministerin Janet Yellen China. Mit scharfen Worten warf sie der chinesischen Exportwirtschaft vor, die westlichen Märkte mit «Billigprodukten» zu überschwemmen und westliche Hersteller zu übervorteilen. Solche Äußerungen spiegeln die wachsende Feindseligkeit der USA und ihrer europäischen Verbündeten gegenüber China in einer Zeit zunehmender geopolitischer Spannungen und des Ausbruchs verheerender Kriege in der Ukraine, im Gazastreifen und an vielen anderen Orten, die allzu oft nicht ins Bewusstsein rücken. Während die größten Länder der Welt zusammenarbeiten sollten, um Herausforderungen wie dem Klimawandel zu begegnen, ist eine neue Ideologie der Spaltung entstanden, die Fortschritte auf beiden Seiten zu behindern droht.

Der Einfluss der Rosa-Luxemburg-Stiftung auf die Geopolitik ist bescheiden, um es vorsichtig auszudrücken, aber sowohl das Büro in Peking als auch die vielen anderen Regionalbüros in der Welt sind entschlossen, ihren Beitrag zu einer Welt zu leisten, in der Sicherheit auf Frieden beruht und in der die internationalen Beziehungen von Kooperation und nicht von Rivalität und ungezügeltem Wettbewerb geprägt sind. Durch die Übersetzung von Publikationen und die Förderung des persönlichen Dialogs zwischen China und der internationalen Linken hoffen wir, das Verständnis für den bemerkenswerten Aufstieg Chinas zu vertiefen und gleichzeitig zu erkunden, welche Lehren China aus den Erfahrungen der übrigen Welt ziehen kann. Die Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaften stehen, sind global. Wenn wir voneinander lernen, können wir sie gemeinsam bewältigen.
 

Übersetzung aus dem Englischen von Camilla Elle und Daniel Fastner für Gegensatz Translation Collective.