Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa - Europa2024 Ein Testlauf für 2027?

Setzt die Europawahl den Trend für die nächste französische Präsidentschaft?

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Marine Le Pen bei einer Europawahl-Veranstanstaltung im südfranzösischen Perpignan (1.5.2024). Der von ihr geführte rechtsextreme Rassemblement National liegt momentan in den Umfragen mindestens 10 Prozent vor Emmanuel Macrons Partei Renaissance. Foto: IMAGO / ABACAPRESS

Aufschwung des Rassemblement National, Sinkflug des bürgerlichen Macron-Blocks, Spaltung der Linken bei globalen und europäischen Fragen – wird die Europawahl die neuen Kräfteverhältnisse für die Präsidentschaftswahl 2027 vorhersagen?

William Bouchardon ist Wirtschaftsredakteur bei Le Vent Se Leve, einem unabhängigen französischem Online-Magazin.

Interessiert sich Frankreich für die Europawahl? Aktuell gibt es wenig Begeisterung für den Wahlkampf. Allerdings hat dieser auch erst vor kurzem begonnen und in den letzten Monaten richtete sich die mediale Aufmerksamkeit vor allem auf die neue Regierung und die Proteste der Landwirt*innen. Die erste Fernsehdebatte, die am 14. März auf dem Kanal Public Sénat stattfand, war ein Sinnbild des Desinteresses: Weniger als drei Monate vor der Wahl brauchte es einen zweitrangigen öffentlichen Sender, um den Wahlkampf anzustoßen. Und was für ein Auftakt: Der Favorit Jordan Bardella, Kandidat des rechtsextremen Rassemblement National (RN, dt. Nationale Versammlung) und Nummer 2 der Partei, kam der Einladung erst gar nicht nach und keine der Aussagen der weiteren Kandidat*innen sorgte für Schlagzeilen.

Die Frage der Wahlbeteiligung

Der geringe Bekanntheitsgrad der Kandidat*innen – mit Ausnahme von Bardella – erklärt teilweise diese Gleichgültigkeit. Die Spitzenkandidatin des Präsidentenlagers, Valérie Hayer, ist der Öffentlichkeit ebenso unbekannt wie Marie Toussaint von Les Écologistes (Grüne) und Léon Deffontaines von der Parti Communiste Français (PCF). Die Vetreter*innen von La France Insoumise (Manon Aubry), Parti Socialiste (Raphaël Glucksmann) und Les Republicains (François-Xavier Bellamy) sowie Marion Maréchal, die Nichte von Marine Le Pen, die Eric Zemmours Partei Reconquête beigetreten ist, stehen allesamt nicht im Vordergrund des politischen Geschehens. Die ersten Parteiversammlungen sind ein Beispiel dafür: La France Insoumise (LFI, dt. Unbeugsames Frankreich) holte Jean-Luc Mélenchon zurück, der offiziell «zurückgezogen, aber nicht im Ruhestand» ist, um den Wahlkampf einzuläuten, während der Macron-Block auf seine Minister*innen setzt, um die Wähler*innenschaft zu mobilisieren.

Passend zu diesem zähen Wahlkampfauftakt ist die erwartete Wahlbeteiligung - nur 44 Prozent der Französ*innen sind sich sicher, dass sie wählen gehen werden. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass das Interesse in letzter Minute noch zunimmt. Auch 2019 waren die Kandidat*innen unbekannt und der Wahlkampf begann wegen der Gelbwestenbewegung mit Verzögerung. Dennoch wählte schließlich jede*r zweite Französ*in und damit 8 Prozent mehr als 2014. Dieser Anstieg lag darin begründet, dass es die erste Wahl seit 2017 war und somit eine Gelegenheit, zum Beginn von Emmanuel Macrons Amtszeit Stellung zu beziehen. Diesmal hingegen ist die Europawahl die letzte auf nationaler Ebene vor der Präsidentschaftswahl, die als einzige noch für ein hohes Maß an Interesse und Beteiligung sorgt – und Macron darf nach seiner Wiederwahl infolge des Sieges gegen die rechtsextreme Marine Le Pen nicht erneut antreten.

Dies ist allen Parteien sehr wohl bewusst, weshalb die Europawahl auch als Stimmungsbild zum Zustand des Landes und vorzeitige Bilanz der Ära Macron wahrgenommen wird. Das System der Verhältniswahl eignet sich dafür gut: Da alle Listen, die sich mehr als 5 Prozent der Stimmen sichern, Sitze erhalten, ermutigt dies Wähler*innen dazu, entsprechend ihrer parteipolitischen Präferenz zu wählen, statt eine strategische Entscheidung zu treffen, die davon abhängt, wer es in die zweite Runde schaffen könnte. Die linken Parteien, die 2022 schlecht abschnitten – PCF, Grüne (Les Écologistes – Europe Écologie Les Verts, EELV) und Parti Socialiste (PS) – weigerten sich daher, das von La France Insoumise dominierte Bündnis fortzuführen, in der Hoffnung, das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu verschieben. Gleichermaßen hoffen die konservativen Les Republicains (LR,dt.Republikaner) und die rechtsextreme Reconquête (R!, dt. Rückeroberung), Wähler*innen Macrons liberaler Partei Renaissance und des rechtsextremen Rassemblement National für sich überzeugen zu können.

Der Niedergang des Macron-Lagers

Seit den Parlamentswahlen im Juni 2022, bei denen Macron seine absolute Mehrheit verlor und sich mit der Linken – damals vereint unter dem Banner des sogenannten NUPES-Bündnisses – und dem rechtsextremen Block auf Augenhöhe wiederfand, hat sich Frankreichs politische Landschaft verändert. Während die Linke erneut in ein sozialdemokratisches Lager und eine radikale Randgruppe gespalten ist, dürfte der RN in dieser Runde gegen Renaissance seine Revanche bekommen. Die Wahlumfragen sehen die Partei von Marine Le Pen mindestens 10 Prozent vor jener Emmanuel Macrons, bei Werten von jeweils 30 Prozent bzw. 20 Prozent.

Die Angst der Macronist*innen vor einer politischen Niederlage scheint berechtigt. Seit seiner Wiederwahl hat Macron die Feindseligkeit ihm gegenüber weiter verschärft, insbesondere im Mitte-Links-Lager. Nach der erzwungenen Durchsetzung der Rentenreform, die 9 von 10 Erwerbstätige ablehnten, wurde Ende 2023 ein zutiefst restriktives Einwanderungsgesetz verabschiedet, das historische Forderungen der extremen Rechten aufgreift. Macrons Kalkül, dadurch Stimmen von Rechten und Rechtsextremen zu gewinnen, ging nicht auf. Um ihr politisches Fortbestehen zu legitimieren, verstanden es die Republikaner, ihre Schlüsselrolle in der Nationalversammlung und ihre Mehrheit im Senat auszuspielen, um immer radikalere Maßnahmen durchzubringen wie die Abschaffung der Regularisierung und der staatlichen medizinischen Versorgung für irreguläre Einwanderer*innen, die Einführung von Migrationsquoten und die Begrenzung des Rechts auf Familiennachzug. Dadurch wurde auch der RN, der für das Einwanderungsgesetz gestimmt hatte, gestärkt. Aktuell konzentriert sich die Regierung auf Haushaltskürzungen: Im Februar wurden 10 Milliarden Euro an Sparmaßnahmen angekündigt, weitere sollen nach der Europawahl folgen.

Damit diese unpopulären Maßnahmen in Vergessenheit geraten, setzt das Präsidentenlager auf das immergleiche Rezept: die Dämonisierung seiner Gegner*innen. Mit ihrem Konzept des «republikanischen Bogens», versucht das Macron-Lager, jede Stimme für die Linke als unmoralisch darzustellen, als Unterstützung der «Exzesse» von Jean-Luc Mélenchon, und so LFI auf eine Ebene mit dem historisch antirepublikanischen Rassemblement National zu stellen. Die angebliche republikanische Schutzmauer, welche die Macronist*innen gegen den RN errichtet hatten, weist immer tiefere Risse auf. Die gemeinsamen Stimmen von RN und des Präsidentenlagers bei mehreren wichtigen Themen, von der Ablehnung der Erhöhung des Mindestlohns bis zum Einwanderungsgesetz, weisen auf eine ideologische Annäherung im Rahmen einer autoritären, antisozialen Agenda hin.

Um seine vorrangig alte und reiche Wähler*innenschaft zu mobilisieren und sich von dem RN abzugrenzen, setzt Macron darauf, die Europawahl zu einer Abstimmung über die Unterstützung für die Ukraine zu machen. Das erklärt seine kriegstreiberischen Äußerungen, in denen er sogar davon sprach, Bodentruppen in die Ukraine zu schicken. Dieser Vorstoß wurde allerdings von Frankreichs Verbündeten (Deutschland, Italien, USA, Spanien, Vereinigtes Königreich) sofort zurückgewiesen, da dies den Kriegseintritt eines Landes bedeuten würde, das Atomwaffen besitzt und NATO-Mitglied ist.

Macrons Spiel mit dem Feuer dient vor allem innenpolitischen Zwecken: Er provoziert die Kräfte der Opposition, die seine drastischen verbalen Äußerungen einhellig kritisierten, um sie dann als zu zaghafte Unterstützer*innen der Ukraine oder gar als verdeckte Anhänger
*innen Putins darzustellen. Dieses Szenario trat besonders bei der Parlamentsdebatte zum Sicherheitsabkommen zwischen Paris und Kiew hervor. Dieses sieht den künftigen Beitritt der Ukraine zur EU und zur NATO, eine verstärkte militärische und zivile Zusammenarbeit sowie Finanzhilfen in Höhe von 3 Mrd. Euro im Jahr 2024 vor.

Der RN rückt von der Ablehnung der EU und der Unterstützung für Russland ab

Macrons politischer Coup gelang: La France Insoumise und die kommunistische PCF wurden aufgrund ihrer Gegenstimmen bei der Abstimmung über das erwähnte Sicherheitsabkommen von der Regierung als Staatsfeinde angeprangert. Die Enthaltung von RN offenbart allerdings die uneindeutige Position der Partei. Vor Kriegsbeginn lag die ideologische Nähe von RN zum autoritären Konservatismus Putins auf der Hand. Das hatte auch finanzielle Gründe: 2014 erhielt die rechtsextreme Partei von russischen Banken zwei Darlehen in Höhe von 11 Mio. Euro. Im Gegenzug befürwortete RN die Annexion der Krim und organisierte mehrere Treffen mit russischen Staatsvertreter*innen, unter anderem eines von Marine Le Pen mit Wladimir Putin im März 2017.

Seit 2022 aber sah sich die langjährige Bewunderin des russischen Diktators gezwungen, die Ukraine halbherzig zu verteidigen. Obgleich Marine Le Pen die mangelnde Wirksamkeit der Wirtschaftssanktionen gegen Moskau und die politische Instrumentalisierung des Konflikts kritisierte, bleibt sie in ihren Aussagen vage. Diese unklare Position zeigt sich auch im Zögern des RN im Europäischen Parlament bei der Frage, ob seine Abgeordneten in der Fraktion Identität und Demokratie (ID) bleiben oder aber der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) beitreten. Die beiden rechtsextremen europäischen Fraktionen sind sich tatsächlich bei zwei entscheidenden Themen uneins: In Fragen der Außenpolitik und bei der Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den traditionellen Konservativen der Europäischen Volkspartei (EVP). Gegenüber der ID-Fraktion, zu der rechtsradikale und eher prorussische Parteien wie die AfD oder Salvinis Lega gehören, ziehen die anderen Abgeordneten eine klare Grenze. Die EKR-Fraktion hingegen versammelt die ultrakonservativen Parteien PiS (Polen), Fratelli d'Italia (Italien) und Vox (Spanien), die klar für transatlantische Kooperation und eher offen für Bündnisse mit der konservativen EVP sind.

Die Ankündigung des RN-Vorsitzenden Jordan Bardella, letzten Dienstag (21. Mai), die Allianz seiner Partei mit der Alternative für Deutschland (AfD) zu kündigen, nachdem AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah sich apologetisch gegenüber der nationalsozialistischen SS geäußert hatte, kann als weiterer Schritt in diese Richtung gewertet werden. «Der RN wird nach den Wahlen neue Verbündete haben. Die Fraktionen im Europäischen Parlament werden nach den Wahlen am 9. Juni auf Null gesetzt» äußerte sich Bardella dazu.

Ein Beitritt von RN zur EKR-Fraktion wäre ein deutliches Zeichen ihrer Institutionalisierung. Bereits seit 2022 hat der RN seine Rhetorik gegenüber der EU deutlich abgeschwächt. So wird nicht mehr die Abschaffung des Euro und eine Volksabstimmung zum EU-Austritt gefordert, sondern ein «Europa der Nationen» à la carte, was jene Rechtswähler*innen besänftigen soll, die einen «Frexit» mit Sorge sehen. In wirtschaftlicher Hinsicht versucht die Partei, das französische Kapital von sich zu überzeugen, indem sie gegen Vorschläge der Linken für soziale Maßnahmen stimmt, sämtliche liberalen Plattitüden zur staatlichen Verschuldung übernimmt und zahlreiche Treffen mit Arbeitgebern organisiert. Und schließlich konnte Marine Le Pen den Kreis ihrer sogenannten «Horaces» erweitern und bildete ein Schattenkabinett aus hochrangigen Funktionär*innen, ehemaligen Berater*innen von Minister*innen und Führungskräften großer Unternehmen, dessen Ergüsse sich zwischen Kampf der Kulturen und leidenschaftliche Plädoyers für Wirtschaftsliberalismus bewegen.

Auf dem Weg zu einem Bündnis von Rechten und Rechtsextremen?

Als Folge dieses Flirts mit der Arbeitgeberschaft bleibt die Parteiposition bei mehreren Themen schwammig. Bei der Landwirtschaft beispielsweise stimmte RN für die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), lehnte dann jedoch den mehrjährigen Finanzrahmen der EU ab, dessen größter Posten just die GAP ist. Beim Umweltschutz wurde Marine Le Pens Kritik an Pestiziden auf dem Altar der landwirtschaftlichen Produktivität geopfert.

Lediglich der hartnäckige Widerstand gegen Freihandel blieb bei diesem Balztanz der RN vor den Großkonzernen bestehen. Ein weiteres Zeichen für den Imagewandel der Partei war die Abwerbung von Fabrice Leggeri, ehemaliger Chef von Frontex, was in den Medien für großen Wirbel sorgte. Als Absolvent einer Elite-Uni sowie der ENA und hoher Funktionär im Innenministerium wird er als Garant für Seriosität vorgezeigt. Dabei hatte RN, als Leggeri noch Chef von Frontex war, die Abschaffung der Agentur gefordert, die sie als «Helfer der Schlepper» verunglimpfte.

Den Umfragewerten zufolge scheint die Wette des RN aufzugehen: Die Partei könnte ihre Basis an Protestwähler*innen aufrechterhalten und zudem weitere Bevölkerungsschichten, insbesondere Wohlhabendere, für sich gewinnen. Die Partei hat bisher nur auf Kommunalebene regiert, was ihr zahlreiche Protestwähler*innen beschert, zu denen sie nun die Wähler*innen der traditionellen Konservativen summieren möchte. Während der Erfolg dieser Kombination aus Wähler*innen aus dem «einfachen Volk» und gebildeteren und einkommensstarken Klassen noch ungewiss ist, setzt RN in ihrem Diskurs darauf, die Last der schmerzhaften neoliberalen Reformen auf die Einwanderer*innen abzuwälzen und den Groll über Sozialleistungen auszunutzen, um diese beiden Wähler*innengruppen zusammenzubringen.

Während der RN versucht, die Wähler*innenschaft der Konservativen abzugreifen, gehen diese in die entgegengesetzte Richtung: Beim Thema Einwanderung beispielweise werden Die Republikaner immer radikaler. Nachdem sie das französische Gesetz stark verschärften, fordern sie nun ein Referendum und stimmten in Brüssel gemeinsam mit der extremen Rechten gegen den EU-Pakt zu Asyl und Migration, der eine Verteilung der Migrant*innen auf die Mitgliedstaaten vorsieht, um Ankunftsländer wie Italien zu entlasten. Zudem kritisieren sie den europäischen Grünen Deal, da dieser einen Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion bedeute, und stellen sich gegen die Wiederwahl von Ursula von der Leyen, obwohl sie derselben politischen Familie und ihrer Mehrheit angehören. Diese Äußerungen ähneln jenen von Reconquête, der rechtsextremen Partei von Eric Zemmour, die aktuell um ihr politisches Überleben kämpft. Die Fraktionen ID und EKR dürfen mit starken Zugewinnen rechnen und eine Allianz zwischen der extremen Rechten und der EVP scheint nicht mehr unvorstellbar. Eine solche Koalition existiert bereits in mehreren europäischen Ländern und könnte RN, Republikaner und Reconquête ermutigen, enger zusammenzuarbeiten. Dieses Szenario ist bisher zwar rein hypothetisch, doch die ideologischen Barrieren, die eine Zusammenarbeit zwischen diesen Parteien verhinderten, wurden aus dem Weg geräumt.

Ein kurzlebiges Bündnis der Linken

Während sich ein Block aus Rechten und Rechtsextremen bildet, bleibt die französische Linke gespalten. Der plötzliche Elan für das NUPES-Bündnis (Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale, dt. Neue Ökologische und Soziale Volksunion) bei den Parlamentswahlen 2022 war nicht von Dauer. Dieses wurde allerdings vor allem mit Blick auf die Wahl geschlossen. Angesichts der sinkenden Wahlbeteiligung zwischen den Präsidentschafts- und den Parlamentswahlen fürchtete die Linke, erneut die Macron-Kandidat*innen gegenüber der RN unterstützen zu müssen. Um dieses Szenario zu verhindern, drängte Jean-Luc Mélenchon, der gerade seine führende Rolle und die von La France Insoumise im linken Lager untermauert hatte, Umweltschützer*innen, Kommunist*innen und Sozialist*innen, sich bereits für die erste Runde zusammenzuschließen. Gegen diesen Vorschlag gab es wenig einzuwenden, da man ansonsten Gefahr lief, zu wenige Abgeordnete zu stellen, um in der Nationalversammlung Fraktionen bilden zu können. Mit dem NUPES-Bündnis gelang es, Konkurrenz innerhalb des linken Lagers zu verhindern und somit 150 Sitze zu erlangen, davon 75 für LFI.

Neben dem Wahlbündnis hatte die NUPES auch ein gemeinsames Programm, das weitgehend von LFI inspiriert war, deren politische Positionierung damit die Oberhand gegenüber der gemäßigteren Haltung der Sozialist*innen und der Grünen hatte. Zu den wichtigsten Maßnahmen gehörten die Begrenzung der Preise für Dinge des täglichen Bedarfs, der Widerstand gegen bestimmte europäische Vorschriften, die Ausrufung der Sechsten Republik, die Erhöhung des Mindestlohns auf 1.500 € und ein Aktionsplan für die Planung von Umweltschutzmaßnahmen. Bezüglich der Aufrichtigkeit dieses ideologischen Sinneswandels der Vorsitzenden dieser Partien kamen jedoch schnell Zweifel auf. Tatsächlich haben sie seit dem Ende der Regierung Hollande linkere Positionen eingenommen und ihre Abstimmungen im Europäischen Parlament nähern sich der Position von LFI an. Dennoch bestehen weiterhin grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten, insbesondere in der Außenpolitik und beim europäischen Projekt. Darüber hinaus wurde die NUPES durch die Feindseligkeit vieler linker Persönlichkeiten gegenüber Jean-Luc Mélenchon und die Tatsache, dass jede Partei ihr eigenes Überleben in den Vordergrund zu stellt, schnell geschwächt.

Nach einer Reihe von durch die Medien aufgebauschten Kontroversen führten die Äußerungen von LFI zum Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 – sie bezeichneten diesen als «Kriegsverbrechen» und nicht als «Terrorismus» – dazu, dass die drei Partner von LFI das Bündnis aufkündigten. Um dies nicht als Niederlage erscheinen zu lassen, beschuldigte La France Insoumise die «alte Linke» der Unaufrichtigkeit. Parallel dazu präsentiert sich LFI als Sammelliste der Linken, indem sie Foren mit Jugendlichen anderer Parteien organisiert und Überläufer*innen in ihren Listen aufnimmt, beispielsweise den grünen Europaabgeordneten Damien Carême. Noch ist ungewiss, welche Wirkung diese politischen Manöver bei den linken Wähler*innen haben werden.

Zurück in Zeiten zweier unversöhnlicher linker Kräfte

Über die internen Streitigkeiten hinaus gibt es weiterhin Themen, welche die Linke eindeutig spalten. Diese dürften bei der Europawahl von entscheidender Bedeutung sein. Mit Blick auf die internationale Ebene sprechen sich die Parti Communiste Français und LFI für den NATO-Austritt und eine blockfreie Politik aus, während die Grünen und die Parti Socialiste die transatlantische Zusammenarbeit befürworten. Auch wenn keine Partei einen Frexit fordert, zeigen sich Kommunist*innen und LFI kritisch gegenüber einem Europa, das den Markt zum Maß aller Dinge macht, und plädieren dafür, dass Frankreich bestimmte Verträge nicht einhalten sollte. Als Befürworter*innen eines «sozialen Europas» stehen die Grünen und die Sozialist*innen weiter klar für Europa und für Föderalismus. Die Frage des Beitritts der Ukraine zur EU ließ die alte Kluft, die bereits während des Referendums 2005 sichtbar wurde, wieder zutage treten: Während LFI und PCF die Ukraine im Agrar- und Lohnbereich als unhaltbare Konkurrenz für die französischen Arbeitnehmer*innen anprangerten, sehen die Grünen und die PS dies als Selbstverständlichkeit und als Mittel zur Bekämpfung Russlands.

Der Wahlkampf der Sozialist*innen drehte sich übrigens fast ausschließlich um die Ukraine. Raphaël Glucksmann scheint besessen von Russland und der «Kriegswirtschaft» zu sein und pocht auf das Narrativ eines Kampfes zwischen Demokratien und Diktaturen. Sein kriegstreiberischer Diskurs, der dem von Emmanuel Macron ähnelt, findet in den Medien Anklang und verschafft ihm in den Umfragen einen soliden dritten Platz. Allerdings könnten seine bewegte Vergangenheit und sein Desinteresse an der Palästinafrage Zugewinnen bei linksgerichteteren Wähler*innen im Wege stehen. Im Gegensatz dazu positioniert sich LFI als Verfechterin des Friedens und plädiert für Verhandlungen, Sanktionen gegen Israel und die Einhaltung des Völkerrechts. Die Gallionsfigur dieses Kampfes ist die französisch-palästinensische Juristin Rima Hassan, die Siebte auf der Liste von LFI. Sie wurde zum Ziel falscher Anschuldigungen wegen Antisemitismus, im Zuge derer sie neben der LFI-Fraktionsvorsitzenden, Mathilde Panot, vor Gericht der «Terrorverherrlichung» bezichtigt wurde. Infolgedessen wurden mehrere Vorträge von LFI an Universitäten abgesagt. Jean-Luc Mélenchon sprach angesichts dessen von McCarthyismus. In jedem Fall wurde LFI dadurch große mediale Aufmerksamkeit zuteil, welche die Partei nutzen will, um breitere Bevölkerungsschichten zu erreichen.

Während PS und LFI bei diesen beiden Kriegen gänzlich entgegengesetzte Positionen vertreten, ist die Haltung der Grünen weniger klar. Sie fordern einerseits einen Waffenstillstand in Gaza und andererseits eine massive Aufrüstung der Ukraine, was den Eindruck von Wankelmütigkeit erweckt. Vor fünf Jahren noch hatten sie mit 13,5 Prozent ein starkes Ergebnis erzielt, doch momentan läuft es nicht gut. Marie Toussaint fiel bisher höchstens durch ihre «Booty Therapy» zum Wahlkampfauftakt und Begriffe wie «soziales Veto» und pauvrophobie, «Angst vor Armen», auf. Die kommunistische Partei wiederum verfügt über wenige Mittel für ihren Wahlkampf und legt den Schwerpunkt auf Atomenergie als Lösung für den Klimawandel.

Atomenergie dürfte die Wähler*innen kaum begeistern, doch andere Themen wecken mehr Interesse: So wurden durch die Krise in der Landwirtschaft Freihandelsabkommen in den Vordergrund gerückt. Während die soziale Bewegung der Landwirt*innen, die in Frankreich viel Unterstützung findet, gespalten ist zwischen den Forderungen der Rechten (Kritik an Steuern und Vorschriften) und der Linken (Förderung von Bio-Landwirtschaft), ist sie sich einig bei der Ablehnung der unlauteren Konkurrenz aus dem Ausland. Dies bringt die Macronist*innen und die Republikaner*innen in Verlegenheit, die für Freihandelsabkommen der EU mit Chile, Kenia und Neuseeland gestimmt haben – weshalb sie sich nun gegen das Abkommen mit Mercosur aussprechen. RN, PS und Grüne befinden sich in einer noch verzwickteren Lage: Ihre Wähler*innen stimmten gegen ebendiese Abkommen, doch ihre Fraktionen im Europäischen Parlament größtenteils dafür. Nur die Fraktion der Linken, zu der La France Insoumise gehört, lehnt Freihandelsabkommen rundum ab.

Neben der Opposition gegen Freihandel versucht LFI auch, ihre Siege in Brüssel hervorzuheben, z. B. den Schutz von Plattformarbeitnehmer*innen, das Verbot der Elektrofischerei und die Kontrollpflicht für multinationale Konzerne. Diese Erfolge legitimieren die Entscheidung, Vertreter*innen aus Gewerkschaften und Verbänden auf ihre Liste zu setzen: Manon Aubry (Oxfam), Leïla Chaibi (Génération Précaire), Marina Mesure (Gewerkschafterin) und Anthony Smith (Arbeitsaufsichtbeamter). Die Grünen und insbesondere PS hingegen vergaben Plätze an Vertraute aus engen politischen Kreisen. Dies trifft auch auf Renaissance und LR zu, wohingegen es dem RN gelang, einige externe Persönlichkeiten wie Fabrice Leggeri oder die Essayistin Malika Sorel in ihre Reihen zu bringen, was ihren zunehmenden Einfluss in der französischen Politik belegt.

Zwei unterschiedliche Wahlsysteme

Marine Le Pens Partei könnte durch die Europawahl die Weihen für die kommende Präsidentschaftswahl erhalten: Sollte sie mit großem Vorsprung den ersten Platz belegen, würde ein Sieg 2027 wahrscheinlicher. Diese Möglichkeit rückt zunehmend in greifbare Nähe, da die Risse in der «republikanischen Schutzmauer» größer werden und die herrschende Klasse in Frankreich immer mehr Zugeständnisse erhält. Die anderen beiden großen Strömungen haben noch keine klare Strategie für diese Bedrohung gefunden. Im Präsidentenlager dürfte die zu erwartende herbe Niederlage den Kampf um Macrons Nachfolge, der im Hintergrund bereits geführt wird, zusätzlich anfachen. Gabriel Attal, Bruno Le Maire, Edouard Philippe, Gérald Darmanin und andere Führungspersönlichkeiten dürften sich bereits auf die Zukunft vorbereiten und geizen nicht mit Ankündigungen und schockierenden Aussagen, um den bürgerlichen Block hinter sich zu versammeln.

Bei den Linken könnte ein Erfolg von Raphaël Glucksmann die Sozialdemokratie wiederbeleben, die sich nach Hollandes desaströser Amtszeit in ihren Hochburgen verschanzen musste. Emmanuel Macrons Rechtsruck bietet zugegebenermaßen einen gewissen Raum, um die Linke «im Stile von Delors und Badinter» wiederaufzubauen, wie es der Kandidat von PS formuliert, eine Linke, die für «glückliche Globalisierung», proeuropäische Politik und sozialen Progressivismus steht. Doch die Vergangenheit mahnt zur Vorsicht: Die Grünen hatten bei der Europawahl 2019 mit 13,5 Prozent ein gutes Ergebnis erzielt und dann 2020 das Bürgermeister*innenamt in mehreren französischen Großstädten gewonnen, sodass sie bei der Präsidentschaftswahl 2022 mit einem Durchbruch rechneten. Am Ende erhielten sie jedoch weniger als 5 Prozent der Stimmen. Diese Episode sollte La France Insoumise nicht vergessen, gerade im Fall eines guten Abschneidens von Glucksmann. So oder so ist nicht damit zu rechnen, dass die Europawahl bei den französischen Linken zu einer Klärung der internen Querelen führt und eine natürliche Führungspersönlichkeit hervorbringt.

Die Europawahl als Vorhersage für politische Trends zu verstehen, wie es die Fernsehsender vom Wahlabend an tun werden, ist jedoch brandgefährlich. Erst einmal begünstigt das System der Verhältniswahl eine Streuung der Stimmen. Bei der französischen Präsidentschaftswahl hingegen ist die zweite Runde eine Stichwahl, was nicht zu einer Mehrparteienlandschaft passt, sodass die Streuung verringert wird. Dazu kommt, dass die Europawahl aufgrund der geringen Wahlbeteiligung nur schlecht als Anhaltspunkt für zukünftige Entwicklungen dienen kann. Dies gilt insbesondere für die Jugendlichen, die Ärmsten und die am wenigsten Gebildeten, die LFI und RN wählen. Sollte RN tatsächlich den Sieg gegenüber Renaissance davontragen, ist das als klares Warnsignal für die Wahl 2027 zu verstehen, bei der Marine Le Pen auf eine noch größere Wähler*innenschaft zählen kann.

Aus dem Französischen übersetzt von Guerilla Media Collective.