In der Studie «Maßnahmen zur Bekämpfung des Ärzt*innenmangels in Brandenburg» (März 2024) untersuchen die Autor*innen Dr. Charlotte M. Kugler und Prof. Dr. Dawid Pieper von der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane erfolgreiche Ansätze in anderen Regionen. Ulrike Hempel von der Rosa-Luxemburg-Stiftung fragt vor diesem Hintergrund Dr. med. Daniel Rühmkorf nach seiner Einschätzung als Gesundheitspolitiker, vor allem aber als Allgemeinmediziner mit Niederlassung in Woltersdorf/Brandenburg.
Ulrike Hempel: Die Politik kündigt gerade eine ganz schwierige Versorgungssituation im hausärztlichen Bereich für die Zukunft an. Aber haben wir die nicht schon lange: War der Ärzt*innenmangel in Brandenburg nicht schon seit vielen Jahren absehbar, Ärztevertreter*innen warnten davor?
Daniel Rühmkorf: Seit über zwanzig Jahren ist das Problem der mangelnden hausärztlichen Versorgung bekannt. Sukzessive erfolgten eine Reihe von Maßnahmen, die die Hausärzt*innen aufwerteten, sowohl hinsichtlich ihrer Mitsprachemöglichkeiten in den Kassenärztlichen Vereinigungen, der Honorarverteilung als auch der Finanzierung von Weiterbildungsplätzen, um neue Allgemeinmediziner*innen in den Praxen der Niedergelassenen auszubilden. Alle diese Maßnahmen erfolgten gegen den Widerstand der Kassenärztlichen Vereinigungen und den dort dominierenden Fachärzt*innen. Es ist wenig tröstlich, aber: Ohne diese Maßnahmen stünde auch Brandenburg heute wesentlich schlechter da. Trotzdem: Die Situation ist besorgniserregend.
Viele Ärzt*innen, weniger Versorgung
Ulrike Hempel: Lässt sich dieses Paradox erklären: Noch nie gab es hierzulande so viele Ärzt*innen, auch die Pro-Kopf-Versorgung lag nie höher als zuletzt. Gleichzeitig sehen wir lange Wartezeit für einen Termin und Aufnahmestopps in vielen Praxen?
Daniel Rühmkorf: Die Zeiten, in denen ein Arzt oder eine Ärztin rund um die Uhr für ihre Patient*innen erreichbar sind, sind endgültig vorbei. Heute fragt sich jede junge Medizinerin, wie viel ihrer Zeit sie dem Beruf widmen möchte. Und auch ältere Kolleg*innen sagen von einem individuellen Punkt an: Genug ist genug. Insofern steht pro Arzt weniger Behandlungszeit zur Verfügung. Logischerweise können dann auch nur begrenzt Patient*innen behandelt werden.
Dr. med. Heinrich-Daniel Rühmkorf leitet seit dem Jahr 2022 als Allgemeinmediziner eine Praxis in Woltersdorf. Er war von 2009 bis 2012 Staatssekretär im Ministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg. Von 2005 bis 2009 war er Referent für Gesundheitspolitik und Pflege in der Bundestagsfraktion Die Linke, danach Staatssekretär im Ministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg bis 2012.
Rühmkorf arbeitete als freier Medizinjournalist u. a. für den Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte, die Bundesärztekammer und für Film und Fernsehen. Zuvor praktizierte er als Assistenzarzt in Berlin und Sölden/Tirol und arbeitete als Medizinischer Projektmanager in Ludwigshafen. Seine Medizinstudien in Marburg, Berlin und Amsterdam schloss er 1997 mit der Promotion zum Thema «Organisationsformen eines Primärärztlichen Bereichs» ab.
Aber auch grundsätzlich betrachtet: Medizin ist kein Fließbandgeschäft. Statistisch mag vieles gut oder machbar aussehen und auch ich hatte in meiner gesundheitspolitischen Zeit die geistige und psychische Belastung der Sprechstunden nur unzureichend eingeschätzt. Aus der Praxis wissen wir aber, es ist eine ständige Herausforderung, jeder Patientin und jedem Patienten gerecht zu werden. Gleichzeitig müssen wir die Frage stellen, was für Anliegen die Menschen in eine Praxis führen. Häufig sind Bagatellerkrankungen wie Erkältungen oder Magenverstimmungen Grund für den Arztbesuch. Hier erlebe ich es oft, dass Patient*innen ihre Beschwerden richtig einordnen und sie wissen, wie sie sich behandeln müssen. Es wäre im Sinne einer effizienten Versorgung wünschenswert, wenn hier Patient*innen nicht in die Praxis kommen müssten und selbst entscheiden könnten, ob sie sich arbeitsfähig fühlen. Die heutige Regelung in vielen Arbeitsverträgen, bis zu drei Tage ohne Krankschreibung fehlen zu dürfen, geht in die richtige Richtung. Und auch die telefonische Beratung zur Erkrankung und Arbeitsunfähigkeit entlastet die Sprechstunde.
Ein weiterer Grund zum «Arztbesuch» sind die Ausfertigungen von Rezepten und Verordnungen. Rezepte können seit diesem Jahr elektronisch ausgestellt werden. Unsere Patien*innen können sich z.B. per Email melden und bekommen ihr Medikament direkt in der Apotheke, ohne noch in der Praxis vorbeikommen zu müssen. Das ist insbesondere bei Wiederholungsrezepten von chronisch kranken Menschen sehr hilfreich. Und wichtig ist auch die Neuerung, dass Ergotherapeut*innen für bestimmte Patientengruppen von mir eine Blankoverordnung erhalten und sie aus ihrer fachlichen Expertise heraus entscheiden, wie lange eine Therapie erfolgen soll.
Es ist eine ständige Herausforderung, jeder Patientin und jedem Patienten gerecht zu werden.
Sie kennen diese Problematik sowohl als ausgewiesener Experte des Gesundheitssystems, seit 2022 nun aber auch als Allgemeinmediziner mit einer Praxis in Woltersdorf. Wie geht das zusammen, was passt da gar nicht?
Ich wusste ziemlich genau, auf was ich mich mit der Niederlassung einlasse. Ich konnte die Praxis eines Kollegen, der in den Ruhestand ging, übernehmen. Zwei umfassend aus- und weitergebildete MFA sind meine Stützen im täglichen Betrieb. Vertrauen konnte ich auch dadurch aufbauen, weil vieles Bekannte, seien es die Räumlichkeiten, die Angestellten und die Öffnungszeiten dieselben geblieben sind. Die Einzelpraxis, so wie ich sie jetzt sehr gerne betreibe, hat allerdings auch Nachteile: Es ist doch anachronistisch, dass am Mittwoch- oder Freitagnachmittag kaum ein Hausarzt zu erreichen ist. Die personellen und die räumlichen Ressourcen könnten besser genutzt werden, wenn die Praxis von 8 bis 18 Uhr geöffnet wäre und sich mehr Beschäftigte die Öffnungszeiten aufteilen. Medizinische Versorgungszentren (MVZ) sind beispielsweise dazu bereits in der Lage. Dann könnten die beschäftigten Ärzt*innen und die MFA einen fortlaufenden Betrieb gewährleisten und damit mehr Patient*innen versorgen. MVZ und die Möglichkeit der Teilzeitbeschäftigung entsprechen auch eher den Berufsvorstellungen vieler jungen Allgemeinmediziner*innen.
Kein Verständnis für Untergangsszenarien
Vielleicht nutzt mir meine Erfahrung als ehemaliger Staatssekretär und Gesundheitspolitiker, die Dinge etwas gelassener zu sehen. Es fällt mir mitunter schwer, die Untergangsszenarien der Standesorganisationen zu verstehen. Aus meiner Sicht werde ich für die Arbeit, die ich mache, gut honoriert. Und ich hoffe, dass meine Angestellten dasselbe von ihrem Arbeitsverhältnis sagen.
Ich denke, dass ich Glück habe, ich habe genauso viele Patient*innen, dass ich die Arbeit allein bewältigen kann. Trotzdem werde ich in Kürze noch eine Kollegin einstellen, um mehr Zeit für die einzelnen Patient*innen zu haben. Sei es aufgrund der Erkrankung, sei es aus allgemeiner Sorge oder auch aus Einsamkeit: Als Hausarzt lässt sich der Grund für den Besuch in der Sprechstunde bei vielen nicht in wenigen Minuten erkennen. Denn das eigentliche Problem liegt oft nicht an der Oberfläche.
Die Autor*innen der Studie «Maßnahmen zur Bekämpfung des Ärzt*innenmangels in Brandenburg - Erfolgreiche Ansätze aus anderen Regionen» von der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane wenden sich diesen Aspekten zu: Maßnahmen zur Reform des Medizinstudiums; Fachärztliche Weiterbildung; Attraktive Arbeitsbedingungen: Praxisformen mit Anstellungsverhältnissen; Stärkung nicht-ärztlicher Gesundheitsprofessionen; finanzielle Anreize. Worin sehen Sie mögliche Lösungsansätze für Brandenburg?
Der kranke Mensch braucht Klarheit über seine Beschwerden und Zuwendung zu seiner Krankheit. Klarheit entsteht über die Diagnosestellung. Diese sollte Aufgabe des Arztes bleiben. Als Hausarzt habe ich im Idealfall eine langjährige Bindung zu meinen Patient*innen und ihren Familien und ich kann ganzheitlich auf die Beschwerden einwirken.
Wenn es mir gelingt, Patient*innen von einem gesünderen Lebenswandel zu überzeugen, freue ich mich. Medizinstudierende sollten im Laufe des Studiums so oft es geht in die hausärztliche Welt «reinschnuppern», um sich diese Herangehensweise zu erschließen. Nicht jeder Patient muss in der Praxis gesehen werden. Videokonsultationen, Email-Kommunikation oder Telefonate können insbesondere bei den Jüngeren ihren Dienst leisten. Bereits heute übernehmen meine Mitarbeiterinnen einen Teil dieser «elektronischen Zuwendung». Wer entsprechende Kenntnisse hat, sollte diese auch zur Anwendung bringen dürfen.
Wir brauchen eine wirkliche Stärkung der nichtärztlichen Gesundheitsberufe, bessere Ressourcenverteilung und eine bessere Gliederung der Arbeitsabläufe.
Die Frage der Finanzierung des Gesundheitssystems muss auf der Tagesordnung bleiben. Eine Zwei-Klassen-Medizin mit privat und gesetzlich Versicherten sollte zu einer Bürger*innenversicherung zusammengeführt werden. Die Beitragsbemessungsgrenze sollte sukzessive steigen, um Menschen mit hohem Einkommen stärker an den Kosten zu
beteiligen. Und gleichzeitig muss der Beweis erbracht werden, dass die Mittel im System nicht versickern, sondern in der Gesundheitsversorgung auch ankommen. Das Gesundheitssystem in Deutschland verursacht bereits jetzt Kosten in Höhe von fast einer halben Billion Euro. Für jeden einzelnen von uns sind das immerhin 6000 Euro im Jahr. Deshalb sind weitere finanzielle Anreize nur die ultima ratio.
Gleichzeitig muss der Beweis erbracht werden, dass die Mittel im System nicht versickern, sondern in der Gesundheitsversorgung auch ankommen.
Ebenso halte ich die ungesteuerte Ausbildung von Mediziner*innen für den falschen Weg. Wir brauchen eine solide hausärztliche Basis, die durch entsprechende fachärztliche Expertise zeitnah unterstützt wird. Wo möglich, sollte die Diagnostik und Behandlung ambulant erfolgen. Hier kommt es leider immer noch aufgrund der schlechten Abstimmung zwischen den verschiedenen Praxen, aber auch den Krankenhäusern zu viel Frust auf allen Seiten.
Zähes Ringen um beste Versorgung
Gibt es Tage, an denen Sie Ihren Entschluss als Hausarzt in Brandenburg tätig zu sein, anzweifeln?
Ich habe mit und ohne Amt und seit meinem Studium Gesundheitspolitik gemacht. Wenn man so lange dabei ist, hat das einen Grund und ich habe es unglaublich gerne gemacht. Es ist ein zähes Ringen um den besten Weg zu einer guten medizinischen und pflegerischen Versorgung. Und das kann man auch auf der anderen Seite des Tisches machen. Ich bin froh, seit zehn Jahren als politischer Mensch wieder im ärztlichen Beruf zu arbeiten. Und ich habe fast jeden Tag das Gefühl, den Menschen geholfen zu haben. Von daher habe ich den Entschluss bis heute nicht bereut.