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Nach den Wahlen wird mit Claudia Sheinbaum erstmals eine Frau das Land regieren

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Der mexikanische Präsident Lopez Obrador zeigt während einer Pressekonferenz im Nationalpalast am 3. Juni 2024 in Mexiko-Stadt eine Grafik mit dem überwältigenden Sieg von Claudia Sheinbaum mit 58 % gegen ihre Konkurrentin Xochitl Galvez mit 26 %.
«Die Armen zuerst!» Mit seinen Sozialprogrammen hat Präsident Lopez Obrador (AMLO) einen Großteil der marginalisierten Bevölkerung angesprochen. Einen strukturellen Wandel der oft ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse in Mexiko hat die AMLO-Regierung allerdings nicht erreicht. Wagt seine Nachfolgerin Claudia Sheinbaum nun den sozialen Umbau der mexikanischen Gesellschaft?
  Pressekonferenz mit AMLO im Nationalpalast am 3. Juni 2024 in Mexiko-Stadt, Foto: IMAGO / aal.photo

Die Umfragen haben es in diesem Fall richtig vorhergesagt: Claudia Sheinbaum, die ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt und Kandidatin der linksgemäßigten regierenden Nationalen Erneuerungsbewegung (MORENA), hat die Präsidentschaftswahl am 2. Juni deutlich gewonnen. Mit Sheinbaum, die am 1. Oktober 2024 die Nachfolge des charismatischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) antritt, wird erstmalig eine Frau das Land regieren. Im Parlament könnte die für sechs Jahre Gewählte, anders als ihr Vorgänger, möglicherweise sogar über eine Zweidrittelmehrheit verfügen.

Gerold Schmidt leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Mexiko-Stadt.

Auch wenn bis Montagabend deutscher Zeit noch nicht alle Stimmen ausgezählt waren, dürfte Sheinbaum bei einem Endergebnis von knapp 60 Prozent der Stimmen landen. Xóchitl Gálvez, ihre wichtigste Widersacherin, kommt auf nur 28 Prozent. Die Kandidatin des konservativen und wirtschaftsliberalen Bündnisses, zu dem sich die Partei der Nationalen Aktion (PAN), die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) und die Partei der Demokratischen Revolution (PRD) zusammengeschlossen hatten, verkündete direkt nach Schluss der Wahllokale noch vollmundig ihren angeblichen Triumph. Von den 60 Prozent der fast 100 Millionen Mexikaner*innen, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten, sah das eine klare Mehrheit anders.

Vor allem in den armen Bundesstaaten im Landessüden verzeichnete Sheinbaum wahre Erdrutschsiege. Doch selbst im reicheren und eher konservativen Norden lag sie fast überall vor ihrer Konkurrentin. Abgerundet wird das Ergebnis der MORENA-Partei durch den knapperen, aber dennoch eindeutigen Sieg bei der Bürgermeisterwahl in Mexiko-Stadt. Dort hatte die Opposition auf Kosten ihres Bundeswahlkampfs in den letzten Wochen alles in die Waagschale geworfen, um den Erfolg von Sheinbaums Parteigenossin, der feministischen und explizit linken Bürgermeisterkandidatin Clara Brugada, zu verhindern. Für Teile der Mittel- und Oberschicht ist Brugada ein Schreckgespenst, da sie sich vor allem auf die vielfältigen popularen Bewegungen der Metropole stützt.

Die Regierungsmacht der frisch gewählten Präsidentin wird stark von den endgültigen Mehrheitsverhältnissen im Senat und im Abgeordnetenhaus abhängen. Im Bündnis mit MORENAs Juniorpartnern von der Arbeiterpartei (PT) und den mexikanischen Grünen (PVEM) verfügt Sheinbaum im Abgeordnetenhaus nach letztem Auszählungsstand über eine Zweidrittelmehrheit; ob dies auch im Senat gelingt, steht noch auf der Kippe. Sollte die Regierung in beiden Kammern eine Zweidrittelmehrheit erringen, kann sie ohne Verhandlungen mit der Opposition Verfassungsänderungen durchsetzen. Sollte es hierfür nicht reichen, käme der sozialdemokratisch ausgerichteten Oppositionspartei der Bürgerbewegung (MC) wohl eine Schlüsselrolle bei der Verabschiedung tiefgreifender Reformen zu.

Die Präsidentschaftswahl und die Wahlentscheidung in der Hauptstadt drückten die gleichzeitigen Gouverneurswahlen in acht Bundesstaaten in den Hintergrund. Aber auch hier gewann MORENA dazu. Nur zehn Jahre nach ihrer Gründung hat sich die Partei damit zur eindeutig dominierenden politischen Kraft im Land entwickelt.

Das klare Wahlergebnis birgt jedoch auch Täuschungspotenzial. Zum einen dürften viele Menschen ihre Stimmabgabe eher als Votum gegen die in ihrer effekthaschenden Oberflächlichkeit kaum repräsentable Oppositionskandidatin Xóchitl Gálvez und das wenig glaubwürdige Bündnis hinter ihr begreifen – und nicht als ein begeistertes Ja zur nüchternen Claudia Sheinbaum. Zum anderen war die Wahl ein Plebiszit über den noch amtierenden Präsidenten López Obrador. Dessen Wahlspruch lautete «Die Armen zuerst» – und in der Tat haben die Sozialprogramme seiner Regierung einen Großteil der marginalisierten Bevölkerung erreicht. Nach einer Reihe neoliberal orientierter Regierungen von PRI und PAN fühlte sich diese endlich wieder wahr- und ernstgenommen.

Zwischen Sozialprogrammen und Militär

Claudia Sheinbaum will die Politik ihres Amtsvorgängers im Wesentlichen fortsetzen. Dabei steht sie jedoch vor einer Reihe von Herausforderungen und schwierigen Entscheidungen. Kontinuität in der Sozialpolitik heißt konkret, die bestehenden Sozialprogramme für die unteren Einkommensschichten fortzuführen und auszubauen. Ob dafür das Geld reichen wird, ist indes fraglich. Wahrscheinlich könnte nur eine radikale Steuerreform, die mit stark progressiven Sätzen einen Teil des Reichtums der Eliten abschöpft, entsprechende Einnahmen generieren. Sheinbaum müsste sich dafür auf einen offenen Konflikt mit der mexikanischen Wirtschaft einlassen; ob sie dazu gewillt ist, bleibt abzuwarten. Fest steht aber zugleich: Sollte sie die Hoffnung der armen Bevölkerungsschichten auf mehr soziale Gerechtigkeit enttäuschen, kann sie deren Rückhalt auch schnell wieder verlieren.

Trotz der (stark karitativen) Sozialprogramme der AMLO-Regierung und ihrer Erhöhung des Mindestlohns um real 110 Prozent ist die extreme Armut im Mexiko mit etwa sieben Prozent nahezu unverändert geblieben. Die sogenannte Einkommensarmut sank dagegen deutlich, von knapp 50 auf 43,5 Prozent. Das heißt aber auch: Immer noch können 56 Millionen Mexikaner*innen von ihrem Arbeitseinkommen alleine nicht leben. Einen strukturellen Wandel der oft ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse in Mexiko hat die AMLO-Regierung im Zeitraum 2018 bis 2024 nicht erreicht.

Ein schweres Erbe bedeutet der unter AMLO enorm gewachsene Einfluss des mexikanischen Militärs in verschiedensten zivilen Bereichen. Vom umstrittenen Tren Maya auf der Halbinsel Yucatán über Flughäfen, Häfen und eine eigene Fluglinie bis zum Infrastruktur- und Transportprojekt des «Interozeanischen Korridors» (eine Eisenbahnverbindung zwischen Atlantik- und Pazifikküste) und dem Bau der Zweigstellen der neuen staatlichen Wohlfahrtsbank – überall ist die Armee beteiligt, mal in kontrollierender Funktion, mal als direkte Betreiberin.

Die unter dem noch amtierenden Präsidenten geschaffene Nationalgarde ist faktisch ein verlängerter Arm der Militärs. AMLO führte stets Disziplin und Effizienz als Argumente für sein großes Vertrauen ins Militär an. Den Einfluss des Militärs kurzfristig zurückzudrängen, scheint fast unmöglich. Noch schwieriger dürfte es sein, die Militärs für ihre vermutete Beteiligung an Verbrechen – wie dem Verschwindenlassen der 43 Lehramtsstudenten von Ayotzinapa vor fast zehn Jahren – zur Rechenschaft zu ziehen. Daran scheiterte bereits López Obrador.

Drogenkartelle, Menschenrechte und Energiepolitik

Die Menschenrechtslage in Mexiko ist in den meisten Regionen nahezu unverändert schlecht. Auch unter AMLO sind Jahr für Jahr mehr als 30.000 Personen ermordet worden. Die Morde stehen vor allem im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen Drogenkartellen und anderen Formen der Organisierten Kriminalität. Viele Menschenrechtsverteidiger*innen, Umweltschützer*innen, Journalist*innen sowie kleinbäuerliche und indigene örtliche Führungspersönlichkeiten wurden getötet; unzählige andere müssen tagtäglich um ihr Leben fürchten. Etwa 100.000 Personen gelten in Mexiko als verschwunden. Sheinbaum wird zeigen müssen, ob sie für das Thema sensibler ist als López Obrador. Selbst wenn die Attacken auf die Opfer nicht vom Staat selbst ausgehen: Die Regierung war in den zurückliegenden Jahren nicht willens oder in der Lage, gefährdeten Personen hinreichend Schutz zu bieten. Und es ist nicht absehbar, wie die Macht der Drogenkartelle gebrochen oder auch nur eingedämmt werden kann.

Eine auf den ersten Blick leichtere Aufgabe der neuen Regierung ist die Energiepolitik. Die anerkannte Wissenschaftlerin Sheinbaum, die einen Doktortitel in Energietechnik und Physik erwarb, wird am ehesten in der Umwelt- und Energiepolitik eigene Akzente setzen (können). Ihr Vorgänger setzte vor allem auf fossile Brennstoffe und die Rettung des staatlichen Ölkonzerns Pemex. Sheinbaum ist gegenüber erneuerbaren Energien aufgeschlossener. Sie hat aber wiederholt betont, dass entsprechende Projekte sozialverträglich umgesetzt werden müssten. Denn in der Vergangenheit beraubten vor allem groß angelegte Windparks die Bevölkerung ihrer Landrechte. Der produzierte Strom ging an Privatunternehmen, den Gemeinden vor Ort nutzten die erneuerbaren Energien in der Regel nichts.

Das Thema einer gerechten Energiewende ist eng mit dem Klimawandel verknüpft, der sich auch in Mexiko verstärkt bemerkbar macht. In der ersten Jahreshälfte 2024 gab es Hitzerekorde in der Hauptstadt und vielen anderen Landesteilen. Ausbleibende Regenfälle führen zu historischen Tiefständen in Stauseen, zu Ernteeinbrüchen und wachsenden Problemen bei der Trinkwasserversorgung.

Schwieriges Verhältnis zu den USA

Und dann ist da noch die geopolitische Situation Mexikos. Die neu gewählte Präsidentin wird, wie ihr Vorgänger, weiterhin auf die wirtschaftliche Verflechtung mit den USA und ein möglichst konfliktfreies Verhältnis zum großen Nachbarn im Norden setzen. Mexiko ist – noch vor China und Kanada – der wichtigste Handelspartner der USA. Im Zuge des sogenannten Nearshoring siedeln derzeit vermehrt US-Unternehmen und andere internationale Konzerne ihre Produktion im Norden Mexikos an. Dies fördert kurz- und mittelfristig die makroökonomische Stabilität; die Rücküberweisungen von in den USA lebenden Mexikaner*innen an ihre Familien stützen die einheimische Wirtschaft zusätzlich. Doch der unsichere Ausgang der US-Wahlen im November dieses Jahres bedeutet politische und wirtschaftliche Ungewissheit für das künftige Verhältnis zum mächtigen Nachbarn im Norden.

Ungelöst bleibt das Thema Migration. Mexiko spielt de facto die Rolle eines Auffanglagers für die USA. Das Land gerät dabei mit seinen Kapazitäten an die Grenzen. Unter einer Trump-Regierung könnte sich die Situation weiter zuspitzen. Sheinbaum reagierte bisher zurückhaltend auf Donald Trumps aggressive und drohende Rhetorik gegen die überwiegend mittelamerikanischen Migrant*innen. Doch bei dessen Wahlsieg wird sie einer Konfrontation kaum ausweichen können.

Die folgenden Monate werden zeigen, ob Claudia Sheinbaum gewillt ist, aus dem Schatten ihres Vorgängers herauszutreten. Die Zusammensetzung ihres Kabinetts wird erste Aufschlüsse geben, ob ihre Regierung in die Mitte rücken oder einen tiefgreifenden sozialen Umbau der mexikanischen Gesellschaft wagen wird.

Mit ihrem Wahlsieg hat Claudia Sheinbaum die konservative Opposition erst einmal in die Schranken gewiesen und ein starkes Mandat gewonnen. Die spannende Frage der kommenden Monate und Jahre wird sein, was sie daraus machen kann.