In Folge einer Geiselnahme in einem Fernsehstudio in Guyaquil hat Ecuadors Präsident Daniel Noboa im Januar 2024 dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt. Über eine nachhaltige Strategie zur Eindämmung der Gewalt verfügt er dabei nicht, warnen die Sozialwissenschaftlerinnen Carmen Gómez und Cristina Vega aus Quito. Vielmehr trifft die Militarisierung die ärmsten Teile der Bevölkerung.
Das Interview führte Frederic Schnatterer
Die Bilder von der Geiselnahme in einem Fernsehsender in Guyaquil und die anschließende Kriegserklärung von Präsident Daniel Noboa an das Verbrechen wurden in Deutschland von zahlreichen Medien aufgegriffen. Heute, fast ein halbes Jahr später, spricht hierzulande praktisch niemand mehr über die Situation in Ecuador. Wie ist die Lage im Land?
Carmen Gómez: Im Moment herrscht eine Art angespannte Ruhe. Das Problem ist keineswegs gelöst, auch die Gewalt ist nicht unter Kontrolle. Aber sie hat sich verändert, und auch der gesellschaftliche Umgang mit ihr ist ein anderer. Es geht nicht nur um die Soldaten auf den Straßen, sondern es gibt darüber hinaus einen Diskurs der sozialen Kontrolle. Alles dreht sich um die Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Andere Formen der Gewalt, die die Situation mit sich bringt, werden dabei unsichtbar gemacht: die institutionelle, die militärische oder polizeiliche. Zudem erleben wir, dass die Gewalt sich nun auch auf Orte ausweitet, die zuvor weniger betroffen waren, beispielsweise solche, wo Bodenschätze abgebaut werden oder sich Kleinbauern auflehnen, wie jüngst in Palo Quemado und Las Pampas in der Andenprovinz Cotopaxi. Die Bevölkerung dort wehrt sich gegen das kanadische Unternehmen Atico Mining.
Cristina Vega: Wir haben gerade ein Referendum hinter uns, in dem es sowohl um die Rolle des Militärs als auch um wirtschaftsliberale Reformen ging. Die Punkte, in denen es um eine Prekarisierung des Arbeitsmarkts ging, wurden abgelehnt. Alle anderen jedoch, die mit der Militarisierung zu tun hatten, wurden von einer großen Mehrheit unterstützt. Das zeigt: Es hat sich eine Logik durchgesetzt, in der ein großer Teil der Bevölkerung die Militarisierung als gerechtfertigte, unmittelbare Antwort auf das Problem der kriminellen Banden betrachtet. Nächstes Jahr sind wieder Wahlen - und der Regierung Noboa geht es bei ihrer Strategie der Militarisierung ganz klar darum, politische Unterstützung zu organisieren.
Carmen Gómez und Cristina Vega forschen und lehren am Institut für Soziologie und Geschlechterstudien der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) in Quito, Ecuador.
Cristina Vega lebt seit 2011 in Quito und ist dort feministisch aktiv. Derzeit arbeitet sie unter anderem im Forschungsprogramm „Erweiterte Reproduktion: Körper, Nahrung, Umwelt und Gemeingüter“, das sich an der Schnittstelle zwischen feministischer Ökonomie, Reproduktions- und Pflegestudien und feministischer und politischer Stadtökologie bewegt.
Carmen Gómez beschäftigt sich insbesondere mit den Themen Migration und gewaltvolle Vertreibung in der Region.
Wie hat sich der Alltag durch die Gewalt und Militarisierung verändert?
Gómez: An einigen Orten, zum Beispiel hier in Quito, sieht man wenig Militär auf der Straße. Die Unterschiede zwischen den Regionen sind groß. Die Ober- und die Mittelschichten im Hochland fühlen sich ziemlich sicher. In den Medien wird permanent von Razzien, Verhaftungen und Operationen jeglicher Art berichtet. Militär und Polizei zeigen an peripheren und marginalisierten Orten starke Präsenz, in den Küstengebieten und den Gefängnissen, ebenso in Regionen, in denen es Widerstand gegen den Vormarsch von Bergbauprojekten gibt. Ziel ist die Stigmatisierung der Bewohner dieser Orte. Am 9. Januar entstand der Eindruck, ganz Ecuador stehe in Flammen. Die Gewaltakte konzentierten sich jedoch auf wenige Orte, insbesondere an der Küste und in den Gefängnissen. Trotzdem entstand eine kollektive Hysterie in der Stadt. Das Chaos wurde durch Bilder ausgelöst, die aus anderen Orten kamen. Diese waren aus dem Zusammenhang gerissen oder direkt gefälscht. Die Folge ist eine weitverbreitete Angst.
Vega: Die Situation in Ecuador ist nicht neu, aber sie hat sich in letzter Zeit verschärft. Das hat brutale Auswirkungen, vor allem auf die jungen Männer aus der verarmten und rassifizierten Bevölkerung. Junge Menschen, praktisch noch Kinder, werden von Drogenbanden rekrutiert. Der kriminelle Kapitalismus setzt sich aus mehreren Ebenen zusammen. Ganz unten stehen die Jugendlichen, die sich den Banden anschließen; ganz oben diejenigen, die den lateinamerikanischen Drogenhandel – das Zusammenspiel von mexikanischen Kartellen mit Europa und den USA – vorantreiben. Die militärische und polizeiliche Antwort des ecuadorianischen Staates rückt nur die unterste Ebene ins Blickfeld. Die kriminellen Eliten hingegen bleiben unangetastet. So entsteht der Eindruck, unsere Sicherheit oder Unsicherheit sei vom Verhalten der ärmsten Teile der Bevölkerung abhängig, nicht von den oberen Akteuren, von denen wir wissen, dass auch der Staat und die Sicherheitskräfte auf ihre Weise mit verwickelt sind.
Warum ist dann das Narrativ, dass Militarisierung eine Lösung sei, so erfolgreich?
Gómez: Das Narrativ schafft ein Gefühl der Kontrolle. Ecuador ist ein Land mit einer extrem ausgeprägten sozialen Ungleichheit, der Rassismus gegen die schwarze und die indigene Bevölkerung ist stark. In Folge der landesweiten Streiks 2019 und 2020, mit denen vor allem die indigene Bewegung gegen neoliberale Wirtschaftsmaßnahmen mobilisierte, hat das weiter zugenommen. Es wurde ein innerer Feind geschaffen, ein Anderes, das verdächtig war – meist rassifizierte und junge Menschen. Das trifft auch Menschen aus Kolumbien, Venezuela und auch aus Mexiko. Viele hier glauben, sie kommen nach Ecuador, um Verbrechen zu begehen.
Und dann war die Geiselnahme am 9. Januar natürlich ein harter Schlag für Ecuador. Das Land war ein solches Ausmaß an Gewalt nicht gewohnt. Die Bevölkerung verfiel in kollektive Panik. Die Regierung nutzt diese aus.
Vega: Dabei stützt sich Noboa auch auf das Prestige, das die Streitkräfte in Ecuador im Vergleich zu anderen Ländern der Region genießen. In Chile, Argentinien und Uruguay, wo das Militär mit Diktaturen und autoritären Regimen in Verbindung gebracht wird, wäre das unmöglich. In Ecuador hingegen haben die Streitkräfte historisch gesehen eine andere Bedeutung gehabt. Die Bevölkerung sieht sie als unkorrumpierbar, gerade verglichen mit der Polizei, von der jeder weiß, dass sie eng mit dem Drogenhandel verwoben ist. Mit Blick auf die Wahlen 2025 und das Referendum hat sich die Regierung Noboa mit der Militarisierung zu Legitimität verholfen. Allerdings ist die Situation im Kontext einer allgemeinen autoritären Welle zu sehen. Noboa ist kein Einzelfall. Derzeit ist in verschiedenen Ländern ein Vormarsch des autoritären Neoliberalismus zu beobachten. Dabei spielt die Armee eine zentrale Rolle.
Besteht darin das Ziel der Militarisierung? Im Aufbau eines autoritären Regimes, wie es beispielsweise auch Nayib Bukele in El Salvador errichtet hat?
Vega: Bukele wird regional durchaus als Vorbild für die Bekämpfung der Kriminalität gesehen. Ich denke, man kann zumindest sagen: Die Militarisierung folgt der Logik einer Schockstrategie, in Naomi Kleins Worten. Die Bevölkerung war weder ein solches Ausmaß an Erpressung, Auftragsmorden und Gewalt, noch ein solches Ausmaß an Militarisierung gewohnt. Das erklärt, warum es von den sozialen Bewegungen keine deutlicheren und energischeren Reaktionen gab, keine Stimmen gegen die Militarisierung.
Gómez: Trotzdem ist Ecuador nicht El Salvador. Die hier aktiven Gruppen der organisierten Kriminalität haben andere Charakteristika. Sie haben sich in den letzten Jahren weiterentwickelt, da sich der Staat zu großen Teilen aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hat. Mit dem Friedensabkommen zwischen der FARC-Guerilla und dem Staat in Kolumbien und der Ausbreitung des mexikanisch kontrollierten Drogenhandels in ganz Lateinamerika veränderten sich ihre Dynamiken. Ecuador wurde extrem attraktiv für die Banden: Das Land ist dollarisiert, hat eine lange Küste und war bereits zuvor ein idealer Ort für Geldwäsche. Die Politik der harten Hand ist eine Fassade, um die autoritäre Durchsetzung von wirtschaftlicher Maßnahmen durchzusetzen.
In welche Richtung entwickelt sich das Land dann?
Vega: Seit dem 9. Januar wurde eine ganze Reihe neoliberaler Maßnahmen beschlossen, unter anderem wurde die Mehrwertsteuer auf 15 Prozent angehoben. Gut möglich, dass die Regierung nach den Wahlen im kommenden Jahr an die Treibstoffsubventionen rangeht – ein für die sozialen Bewegungen, für die indigenen, bäuerlichen und die Organisationen der Transportarbeitern extrem heikles Thema.
Es dürfte für die Regierung nicht einfach werden, das durchzusetzen. Die ecuadorianische Bevölkerung reagiert sehr sensibel auf sozioökonomische Angriffe, das hat sie beim jüngsten Referendum gezeigt. Zudem reagiert sie sehr sensibel auf Fragen der Rohstoffgewinnung und des Umweltschutzes. Das war auch beim Referendum über den Yasuní deutlich, bei dem sich im vergangenen Jahr eine Mehrheit gegen die Förderung von Öl und für den Schutz des Nationalparks ausgesprochen hat. Noch steht die ecuadorianische Gesellschaft unter Schock - wir haben die Zusammenhänge zwischen den wirtschaftlichen Fragen, der Enteignung der Ärmsten und der Militarisierung und dem Rassismus noch nicht erfasst. Es wird also noch eine Weile dauern, bis wir verstehen können, dass die Prozesse über ein Akkumulationsregime miteinander verknüpft sind. Sie sind ein Ausdruck eines kriminellen Kapitalismus, der sich der Regionen als reinem Selbstbedienungsladen bedient.
Gómez: Außerdem ist zu beobachten, wie die Institutionen und die Justiz versuchen, Entscheidungen rückgängig zu machen, die in Volksbefragungen getroffen wurden und die ihnen nicht passen. Neben dem persönlichen Interesse von Noboa, die Wahlen zu gewinnen, geht es darum, ein extraktivistisches Wirtschaftsmodell zu konsolidieren. Dieses Modell benötigt eine Bevölkerung, die offen dafür ist, dass das Militär zur Kontrolle der natürlichen Ressourcen eingesetzt wird.
Sie beide haben im April gemeinsam mit anderen Dozent*innen ein Manifest verfasst, in dem Sie vor der Militarisierung des Landes warnen. Um was ging es Ihnen genau?
Vega: In dem Manifest kritisieren wir die Normalisierung des Militarismus in der Gesellschaft. Als Vertreter*innen des Bildungsbereichs sehen wir unsere Aufgabe darin, Alternativen zur Ausweitung der Militarisierung zu suchen. Hinzu kommt, dass die Kürzungen im Bildungswesen, die vor allem marginalisierte Gruppen treffen, der Nährboden für die derzeitige Situation sind. Junge Menschen an der Küste, in den vernachlässigten Vierteln von Guayaquil oder Esmeraldas, sehen keine Alternativen als von der Schule abzugehen und sich einer Bande anzuschließen, da das zumindest ein Überleben ermöglicht.
Mit dieser Position stehen Sie – zumindest im Politikbetrieb Ecuadors – relativ alleine da. Nach der Präsentation des Manifests beleidigte Präsident Noboa dessen Unterzeichner*innen aufs übelste …
Vega: Die Parteien, auch die der Oppositon, sprechen sich nicht gegen die Militarisierung aus, da sie Angst haben, an Unterstützung zu verlieren. Es gibt derzeit keine Vorstellung davon, wie eine Politik aussehen könnte, mit der das vom kriminellen Kapitalismus zerrissene soziale Gefüge wiederhergestellt werden könnte. Es muss jedoch darum gehen, wieder Hoffnung schöpfen zu könnnen, was auch mit einer öffentlichen Sozialpolitik verbunden sein muss.
Und es gibt durchaus beeindruckende Beispiele der Selbstorganisation: das Frauenkollektiv Mujeres de Frente hier in Quito und das Comité de Familiares por Justicia en Cárceles, prangern an, was in den ecuadorianischen Gefängnissen geschieht und straffrei bleibt: Die Häftlinge leiden an Hunger, werden gedemütigt, oder gar ermordet. Außerdem natürlich die Erfahrungen, die im ökologischen Bereich und im Kampf gegen den Bergbau gemacht wurden, wie die des Kollektivs Mujeres de Asfalto, das den institutionellen Rassismus und seine Auswirkungen in Esmeraldas und anderen Gebieten bekämpft. Diese Formen des Widerstands müssen wir sichtbar machen. Sie können Alternativen zur Militarisierung und zum Autoritarismus aufzeigen.