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In Rumänien fallen die Europawahlen 2024 in eine Zeit entscheidender Veränderungen in der politischen Landschaft

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Der rumänische Präsident Klaus Iohannis bei einer Pressekonferenz in Bukarest, 10. Oktober 2023.
Der rumänische Präsident Klaus Iohannis bei einer Pressekonferenz in Bukarest, 10. Oktober 2023.  Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Die diesjährige Europawahl in Rumänien findet zu einer Zeit statt, in der sich die Politik des Landes von Grund auf neu ausrichtet: Sozialdemokraten (PSD) und Nationalliberale (PNL), Rumäniens größte Parteien die sich bis dato als Gegenspielerinnen positioniert hatten, bilden eine Koalition. Dabei handelt es sich nicht um einen vorübergehenden Wandel, sondern um eine grundsätzliche Abkehr von den Grundprinzipien, die die rumänische Politik der letzten 35 Jahre geleitet haben. Der Europawahl kommt so eine ungewöhnliche Bedeutung zu, und sowohl die Wahlergebnisse als auch deren langfristige Folgen lassen sich nur schwer einschätzen.

Florin Poenaru studierte Anthropologie an der Central European University und der CUNY. Er beschäftigt sich mit Fragen der Klasse, Theorien der Geschichtsschreibung und der Geschichte des Staatssozialismus.

Die gleichen Gesichter in den Machtpositionen

Nach dem Sturz von Nicolae Ceaușescu im Dezember 1989 übernahm die Front zur Nationalen Rettung (FSN) die Macht. Sie brachte vergrämte Apparatschiks, antikommunistische Regimekritiker*innen, berühmte Intellektuelle und Künstler*innen des alten Regimes, Arbeiter*innen und Gewerkschafter*innen sowie politische Abenteurer*innen zusammen. Die FSN stützte sich stark auf die Strukturen des Vorgängerregimes – insbesondere auf die lokalen Behörden und das Militär – und verhinderte so den vollständigen Zusammenbruch des Staates. Dies nährte Vorwürfe, die neue Regierung sei neokommunistisch und wolle das alte Regime lediglich ohne die Familie Ceaușescu weiterführen. Im März 1992 spaltete sich die FSN, wobei die Sozialdemokratische Partei (PSD) die größte Splittergruppe bildete, die sowohl die Grundzüge der FSN als auch deren Kritikpunkte erben würde.

Unter den vehementesten Kritiker*innen der FSN und später der PSD befanden sich rechte Parteien, insbesondere die Nationalliberale Partei (PNL) und die Nationale Christdemokratische Bauernpartei (PNTCD). Beide Parteien waren 1948 von den Kommunist*innen verboten worden und betraten nun mit Beginn des Regimewechsels erneut die Arena. Ihre Visionen artikulierten sie rund um ehemalige politische Gefangene, die nach 1989 eine unangefochtene moralische Legitimität genossen. Diese politischen Kräfte waren zutiefst antikommunistisch und stellten sich als einzige Alternative zur Vorherrschaft der ehemaligen Apparatschiks dar, die von der PSD vertreten wurden. Die Differenzen zwischen FSN/PSD und deren Kritiker*innen waren somit die treibende Kraft hinter der rumänischen Politik in der postkommunistischen Ära.

Trotz ihrer gegensätzlichen Positionen ist dies aber nicht das erste Mal, dass PSD und PNL eine Koalition bilden. Eines der einprägsamsten Bündnisse erfolgte, als sich beide Parteien gegen den ehemaligen Präsidenten Traian Băsescu zusammentaten sowie gegen die Sparpolitik, die sein Premierminister Emil Boc (heute PNL-Mitglied) im Zuge der Finanzkrise 2009–12 durchsetze. Nun, im Vorfeld der Europawahl 2024, stellen beide Parteien eine gemeinsame Wahlliste auf, obwohl sie unterschiedlichen europäischen Fraktionen angehören: der Progressiven Allianz der Sozialistendemokraten auf der einen Seite und der Europäischen Volkspartei (EVP) auf der anderen. Es handelt sich also nicht einfach um ein Wahlbündnis, sondern um eine gemeinsame politische Struktur, zumindest für die Europawahl.

Im Zuge der postpandemischen Wirtschaftskrise und des Krieges in der Ukraine regieren PSD und PNL seit 2021 zusammen. Trotzdem ist ihr Bündnis für die Europawahl überraschend, da ihre Positionen und ihre Wählerschaft recht unterschiedlich sind. Die PSD gab ihren Neoreformismus auf, um sich mit Anbruch des neuen Jahrtausends einer Sozialdemokratie des Dritten Wegs im Stile Tony Blairs zuzuwenden. Sie entwickelte eine zunehmend zentristische Politik, die sich durch niedrige Steuersätze und auch sonst eine Steuerpolitik auszeichnete, die die Interessen des internationalen und nationalen Kapitals bediente. Sie begrenzte die Sozialausgaben und setzte aktiv auf einen höheren Mindestlohn und höhere Gehälter im öffentlichen Sektor, um die Folgen der verheerenden Austeritätsjahre zu bekämpfen. So fand die Partei Zuspruch unter Beamt*innen in der öffentlichen Verwaltung sowie anderen Berufen des öffentlichen Dienstes (z. B. Ärzt*innen und Lehrer*innen) und konnte gleichzeitig einkommensschwächere rumänische Erwerbstätige als Wähler*innen gewinnen. Darüber hinaus hat die Partei, mit Ausnahme Transsilvaniens, die Lokalverwaltungen vieler rumänischer Städte und Gemeinden weiterhin fest im Griff. In der Vergangenheit hat sie die meisten Kommunalwahlen gewonnen und stellt die meisten Bürgermeister*innen und Gemeindevertreter*innen, was auf eine starke Unterstützung vor allem außerhalb der großen Städte und in den wirtschaftlich schwächsten Regionen schließen lässt.

Die PNL beruft sich nicht nur auf ein antikommunistisches Erbe, sondern auf die politischen Hinterlassenschaften der rumänischen Liberalen des späten 19. Jahrhunderts, die die Interessen eines aufstrebenden rumänischen Bürgertums und deren Verbindungen mit dem Banken- und Industriekapital vertraten. In ihrer Praxis glichen die Nationalliberalen in den postkommunistischen Jahren dogmatischen Neoliberalen: freier Markt, schlanker Staat, Anreize für Unternehmer*innen und fehlender Schutz für Arbeitnehmer*innen. In ihrer ersten Amtszeit, zwischen 1996 und 2006, in der sie mit den Christdemokraten und der Demokratischen Partei regierten, begannen die Liberalen, Staatseigentum zu privatisieren. Damit zogen sie die Wirtschaft stark in Mitleidenschaft und zwangen Millionen von Menschen, auf der Suche nach Arbeit auszuwandern. Die von dieser Koalition ausgelöste Katastrophe führte letzten Endes auch zur Auflösung der christdemokratischen Partei. Nicht wenige der heutigen Schlüsselfiguren der PNL haben in der Vergangenheit die Sparmaßnahmen nicht nur unterstützt, sondern sich mitunter auch an deren Umsetzung beteiligt.

Zuletzt regierte die PNL während der Pandemie. Und auch in dieser Krise war ihre Antwort desaströs: Auf planlose und inkohärente Beschlüsse, die der Bevölkerung unzulänglich erklärt wurden, folgte eine Reihe von Vorfällen, wie etwa Krankenhausbrände, bei denen COVID-Patient*innen ums Leben kamen. Die Zahl der Infektions- und folglich auch der Todesfälle stieg rasant an. Da die Regierung nicht in der Lage war, die Verbreitung des Virus einzudämmen, fuhr sie mit der Verordnung irrationaler Maßnahmen und sozialer Einschränkungen fort und trug damit bei den Wahlen 2020 zum schnellen Aufstieg der extremen Rechten bei. Später wurden Berichte über Korruption und Veruntreuung von Geldern bei der Beschaffung von Impfstoffen und anderen medizinischen Hilfsgütern publik. Einer der Gründe, warum die PSD 2021 kooptiert wurde, war die rapide Abnahme der Regierungsfähigkeit der PNL. In der Vergangenheit hatte die PNL gute Umfrageergebnisse unter den freien Berufen (Anwält*innen, Notar*innen) erzielt, sowie bei rechten Intellektuellen, Universitätsprofessor*innen großer Universitäten und bei kleinen und mittelgroßen Unternehmer*innen – z. B. in der Holzindustrie oder im Transportwesen – die die Sozialausgaben der PSD ablehnten (die man als «kostenloses Mittagessen» für die selbstverschuldeten Armen sah). Zudem war die Partei unter den Angestellten multinationaler Unternehmen beliebt, die sich nach 2007 in Rumänien niedergelassen hatten und sich weitgehend in den entwickelten Städten des Landes ansiedelten, wie zum Beispiel in der Hauptstadt Bukarest und auch in Timisoara und Cluj (die Vorherrschaft der PNL in Transsilvanien, der wirtschaftlich stärksten Region des Landes, ist daher nicht überraschend).  

Die Ambitionen des Präsidenten

Der amtierende Präsident Klaus Johannis, einst Vorsitzender der PNL, war ein wichtiger Wegbereiter für die Koalition zwischen PSD und PNL. Die Entscheidung war zum Teil strategisch und sollte der PNL eine vernichtende Niederlage bei den Wahlen 2024 ersparen. Sie erfolgte also nicht zuletzt aus Eigeninteresse. Als ehemaliger Bürgermeister von Sibiu bzw. Hermannstadt, einer kleinen, historisch überwiegend deutschen Stadt, gewann Klaus Johannis 2014 überraschenderweise die Präsidentschaftswahlen und schlug damit Victor Ponta, den damaligen Premierminister und PSD-Vorsitzenden. Tatsächlich stimmten die Rumän*innen eher gegen Ponta als für Johannis. Ponta wurde als arrogant und korrupt wahrgenommen und man warf ihm vor, in klientelistische Beziehungen verstrickt zu sein, in denen politischer Gehorsam mit Familieninteressen zusammenfiel. Am anderen Ende des Spektrums stand Klaus Johannis als angebliche Verkörperung des Mythos deutscher Seriosität, Präzision, Disziplin und der Gepflogenheit, die Dinge so zu tun, «wie es sich gehört». Dabei hatte der Mythos eine solche Strahlkraft, dass Johannis als Person nur wenig Beachtung geschenkt wurde. Es schien nicht weiter wichtig, dass er während seiner Zeit als Bürgermeister und auch zuvor als Physiklehrer am örtlichen Gymnasium ein riesiges Vermögen angehäuft hatte. Einem Gerichtsurteil, wonach sich Johannis beim Kauf einer seiner zahlreichen Immobilien der Dokumentenfälschung schuldig gemacht hatte, wurde ebenso wenig Beachtung geschenkt wie seiner eher dürftigen Erfolgsbilanz als Bürgermeister, die hinter dem Schatten seines aufwändig sanierten Stadtzentrums verschwand.

Innerhalb weniger Monate wurde nicht nur klar, wie unvorbereitet Johannis für das Präsidentenamt war, sondern auch, wie sehr er die Vorzüge seines Amtes – das diplomatische Protokoll, Reisen und dergleichen – genoss. Während er zu Beginn seiner Amtszeit ein eher aufbrausendes Staatsoberhaupt abgab, entwickelte sich Johannis später zunehmend zum distanzierten Politiker, der abgeschottet in seinem Präsidentenpalast residierte. Er sprach kaum in der Öffentlichkeit, in den zehn Jahren seines Amtes gewährte er den Medien kein einziges Interview. Das Leitmotiv seiner Amtszeit war die aktive Opposition gegen die PSD. 2017 schloss er sich einem Straßenprotest gegen seine politischen Rival*innen an, etwas, was noch nie ein rumänischer Präsident vor ihm getan hatte. Die politische Kluft zwischen ihm und der PSD war so gewaltig, dass er sich im Vorfeld der Wahlen 2019 weigerte, an einer Debatte mit der PSD-Kandidatin teilzunehmen. Unermüdlich bediente er sich des Anti-PSD-Gefühls, das ihn an die Macht gebracht hatte und wurde schließlich erneut gewählt. So ging es bis 2021, als Johannis urplötzlich eine Regierungskoalition zwischen PSD und PNL befürwortete, die das Land bis zu den Wahlen 2024 führen sollte. Kurz vor dem Ende seiner zweiten Amtszeit hofft Johannis nun auf einen internationalen Spitzenposten. Dafür benötigt er allerdings eine breite politische Unterstützung im eigenen Land. Um eine mögliche Kritik von Seiten der PSD zu umgehen, hat Johannis die Partei mit an die Macht geholt. Heute ist er ein offizieller Kandidat für die NATO-Führung, aber viele Analyst*innen sind der Ansicht, es handle sich dabei nur um eine Strategie, die ihm einen Vorteil in den Verhandlungen um einen anderen Posten sichern soll: Er will Mitglied der neuen EU-Kommission werden. Eine geschlossene Front der PSD-PNL-Abgeordneten im Europäischen Parlament ist in dieser Hinsicht entscheidend.

Das Spektrum der Opposition

Die Opposition gegen das Bündnis zwischen PNL und PSD wird von der Union Rettet Rumänien (USR) und deren Juniorpartnern angeführt: der Kraft der Rechten (FD), einer Splittergruppe der PNL, und der Partei der Volksbewegung (PMP). Wirtschaftlich vertritt die USR eine quasi libertäre Politik, während sie auf politischer Ebene die neobürgerlichen Werte der Idealisierung von Unternehmerschaft und Selbstinitiative mit einer herablassenden Haltung gegenüber wirtschaftlich Schwächeren vereint. Ihre Führungspersonen stammen mitunter aus reichen Familien mit Verbindungen zu den kommunistischen Apparatschiks, auch wenn die Partei für einen aggressiven Antikommunismus steht. Andere sind durch ihre Arbeit als gut bezahlte Berater*innen für EU-geförderte Projekte zu ihrem Wohlstand gekommen. Zur Wählerschaft der Partei zählen weitgehend kleinbürgerliche IT-Unternehmer*innen, bürgerliche Arbeitnehmer*innen aus den größeren Städten sowie Selbstständige, die auf Projektbasis arbeiten und somit die unternehmerische Vision der Partei und deren Kritik an der Einkommenssteuer teilen. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts liegt die Koalition in den Umfragen bei 10–15 Prozent, was darauf schließen lässt, dass sie aus der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem PNL-PSD-Deal kein Kapital schlagen konnte. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Opposition mit keinem alternativen politischen Projekt aufwarten kann. Tatsächlich stimmen PSD, PNL und USR weitgehend mit der EU-Politik überein und unterstützen daher die Positionen, die ihre Fraktionen im Europaparlament vertreten. Keine*r der Kandidat*innen hat sich bisher die Mühe gemacht, zu erwähnen, wofür sie stehen und was sie als Europaabgeordnete zu erreichen hoffen.

Die dynamischste und bei weitem unberechenbarste Partei ist und bleibt die AUR (was für «Allianz für die Vereinigung der Rumänen» steht und gleichzeitig das rumänische Wort für Gold ist). Nur wenige haben den Aufstieg der Partei in den Wahlen von 2020 vorhergesehen, als sie allen Erwartungen zuwider neun Prozent der Wählerschaft für sich gewinnen konnte. Ihr Wahlerfolg fußt in ihrer Opposition gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung. Sie machte sich die Verunsicherung lokaler Geschäftsinhaber*innen zunutze, insbesondere im Gastgewerbe, die ihre Gewinne durch die Einschränkungen geschmälert sahen. Auch andere Geschäftsinhaber*innen und deren Angestellte, darunter Friseurläden und kleine, familienbetriebene Geschäfte, schlossen sich der Kritik an. Dabei wurde die Partei zunehmend zum Sprachrohr und Treiber verschiedener Verschwörungstheorien und verbündete sich gleichzeitig mit verschiedenen radikalen Fraktionen der orthodoxen Kirche, die sich gegen das Verbot der liturgischen Gottesdienste wehrten. Es wäre allerdings falsch, den Erfolg der AUR auf die Pandemie und verschwörungstheoretische Ansichten zu reduzieren. Es handelt sich um ein weitaus komplexeres Phänomen. Die Partei ist höchst eklektisch und vereint hartgesottene nationalistische Fußballfans, rechtspopulistische Intellektuelle mit einer ausgeprägten Faszination für rumänische faschistische Gruppen der Zwischenkriegszeit (die Legionäre), Geheimdienstchefs im Ruhestand, lokale Geschäftsinhaber*innen, die der Meinung sind, die PSD und die PNL würden nur im Interesse des großen (privaten und staatlichen) Kapitals handeln, sowie eine nicht zu vernachlässigende Anzahl der politisch Unentschlossenen, die in den letzten zehn Jahren auf lokaler Ebene für verschiedene Parteien tätig waren. Ihren Ursprung hat die Partei in einer Mischung aus stark nationalistischen und antikommunistischen Netzwerken, die sich für die Vereinigung Rumäniens mit der Republik Moldau einsetzen. Diese nationalistische Gesinnung wurde zu einer Doktrin ausgebaut, die die Interessen aller Rumän*innen verteidigen will – eine bekannte souveränitäts-orientierte Metapher und Strömung, in die der AUR-Vorsitzende George Simion die Partei einfließen lassen wollte. Deshalb sieht man die Partei auch als Teil der europäischen rechtsextremen Kräfte, die in Europa derzeit auf dem Vormarsch sind. Ihr Diskurs ist jedoch wesentlich gemäßigter. So verfolgt die AUR zum Beispiel keinen «Roexit» (d. h. den Austritt Rumäniens aus der EU). Sie fordert lediglich eine bessere Vertretung der rumänischen Interessen in der EU und eine größere Beteiligung an den Gewinnen für Rumäniens Kapitalist*innen. Die AUR ist nicht die antisystemische Kraft, für die sie gehalten werden will: Sie will sich lediglich eine Position im System sichern.

Die Partei hat sich zum Sprachrohr im Ausland arbeitender Rumän*innen entwickelt, mit fünf Millionen Menschen eine nicht zu missachtende Wählerschaft. Bei früheren Wahlen hat die Diaspora dazu tendiert, entweder PNL oder USR (bzw. alle außer der PSD) zu wählen. Heute bedient sich die AUR eines populistischen Narrativs, um sich die Ausbeutungserfahrungen im Ausland tätiger Rumän*innen zunutze zu machen und deren Wut in Wählerstimmen umzumünzen. Der rechte Souveränitätsdiskurs, der in Europa auf dem Vormarsch ist, scheint auch in großen Teilen der rumänischen Diaspora Anklang zu finden, selbst wenn sie als Migrant*innen oft selbst zum Sündenbock eines solchen Diskurses gemacht wurden. Die AUR verspricht, sie zurück in ihr Heimatland zu holen indem sie die rumänische Wirtschaft wieder in Gang bringt und sich korrupter Politiker*innen entledigt. Das Versprechen untermauert die AUR mit einer stark nationalistischen Rhetorik und schafft somit einen Raum, in dem Rumän*innen stolz auf ihre Identität und Traditionen sein dürfen, ein Stolz, der an Stelle einer progressiven Politik in Krisenzeiten Halt bietet. Genau diese Synthese macht die Partei so unberechenbar. Auch ihr kometenhafter Aufstieg und die Gefahr eines noch größeren Wachstums trugen zur Allianz zwischen PSD und PNL bei.

Um weitere Gewinne der AUR zu verhindern, zog die Regierungskoalition die Kommunalwahlen vor, sodass sie mit der Europawahl zusammenfallen. Der Hintergrund ist dabei, dass die PSD und die PNL in der Kommunalpolitik fest verankert sind. Ihre Bürgermeister*innen und Stadträt*innen sollen die Wählerschaft mobilisieren und somit der AUR den Wind aus den Segeln nehmen, die auf lokaler Ebene weit weniger vertreten ist. Die Protestwahl, die sich bei der Europawahl abzeichnete, soll auf lokale Belange umgelenkt werden – so erhofft es sich zumindest die Regierungskoalition. Die Strategie der PSD-PNL-Koalition verhindert allerdings wichtige Auseinandersetzungen rund um europäische Themen und Fragen. Der Fokus wird auf die Bürgermeister*innenwahlen gelenkt, die in Rumänien von äußerster Wichtigkeit sind, da die Bürgermeister*innen die Machtbasis der rumänischen politischen Parteien darstellen. Das erklärt, warum jetzt schon von körperlicher und verbaler Gewalt unter den Kandidat*innen berichtet wurde. Um die Verwirrung noch zu vergrößern, stellen PNL und PSD in einigen Städten gemeinsame Kandidat*innen zur Wahl, während in anderen Städten (etwa in Bukarest) Vertreter*innen der beiden Parteien gegeneinander antreten.

Gewinne der Rechten, Verluste der Linken

Die skizzierte Umstrukturierung der politischen Landschaft – unvollendet und mit noch nicht absehbaren Folgen – bedeutet, dass es bei diesen Wahlen keine wirklichen Optionen gibt. Es fehlen politische Visionen, Strategien oder Programme, die gegeneinander antreten würden. Entscheidend ist letzten Endes, welche*r Kandidat*in die Gunst der Wählerschaft hat, manchmal sogar ungeachtet der Partei, für die sie oder er antritt. So bleiben die Missstände, die die rumänischen Städte plagen, außen vor. Der Mangel an erschwinglichem Wohnraum, der rasante Anstieg der Kosten für grundlegende Dienstleistungen und Waren, die bröckelnde öffentliche Infrastruktur, die ernstzunehmende Gefährdung durch den Klimawandel und die autofreundliche Verkehrspolitik sind Fragen, die alle rumänischen Städte derzeit beschäftigen. Und auch andere Belange der Gemeinden werden weiterhin ignoriert, wie zum Beispiel der steigende Drogenkonsum, Straßengewalt und der Verfall des Schulsystems. Rumänien braucht dringend eine Verwaltungsreform. Das derzeitige Verwaltungssystem besteht seit 1968 und spiegelt eine längst überholte wirtschaftliche und demographische Struktur wider. Da eine territoriale Neuorganisierung allerdings automatisch das Verschwinden von Hunderten Bürgermeister*innenposten bedeuten würde, gleicht eine solche Reform für alle Parteien einem politischen Selbstmord. Die strukturellen Probleme bleiben also unabhängig von den Wahlergebnissen bestehen.

Laut einer kürzlich durchgeführten Eurobarometer-Umfrage interessieren sich die Rumän*innen im Vergleich zu den Vorjahren zunehmend für die Europawahl. Die Hälfte der Bevölkerung steht der EU optimistisch gegenüber: eine Zahl, die auch dem europäischen Durchschnitt entspricht. Die Umfragen zeigen aber auch, dass 30 Prozent der Rumän*innen glauben, dass ihr Land nicht von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat. Nur die Italiener*innen, Österreicher*innen und Bulgar*innen sind diesbezüglich noch desillusionierter. Einer der Hauptgründe für diesen zunehmenden Skeptizismus unter Rumän*innen mag die von der EU geforderte Liberalisierung des Energiemarktes sein, die bereits vor der Inflationskrise die Preise rasant in die Höhe schnellen ließ. Auch unter rumänischen Landwirt*innen ist die Enttäuschung groß und drückt sich in zunehmender Kritik an der EU aus, wobei die Gründe sich mit denen ihrer europäischen Kolleg*innen decken. Und auch das österreichische Veto gegen den Schengen-Beitritt Rumäniens wird wohl kaum zu mehr Euro-Optimismus führen. All dies sind umstrittene Themen, aus denen die AUR bei den Wahlen am 9. Juni noch Kapital schlagen will.

Tatsächlich wird die AUR als Hauptgewinnerin aus den Wahlen hervorgehen, da sie im Vergleich zu den letzten Wahlen ihre Wählerschaft höchstwahrscheinlich verdoppeln wird. Die Linke wird klare Verliererin sein, denn sie gibt es praktisch nicht mehr. Unter den PSD-Mitgliedern finden sich zwar noch einige, die in der Lage sind, eine Sprache zu sprechen, die den Anschein einer Sozialdemokratie wahrt. Erst kürzlich nahm die Partei ihre engen Beziehungen zu den deutschen Sozialdemokraten wieder auf. In Wahrheit befinden sich die Sozialdemokraten in ganz Europa aber in einer irreversiblen Abwärtsspirale. Eine erneuerte und radikalere Linke bleibt in weiten Teilen Europas zudem weiterhin ein ferner Traum. Aus historischen Gründen gilt das für Rumänien umso mehr.

Übersetzung von Charlotte Thießen und Conny Gritzner für Gegensatz Translation Collective.