Am 11. Juni jährt sich der Todestag von Enrico Berlinguer zum 40. Mal. Es ist Wahlkampf zur Wahl des europäischen Parlaments 1984, als Berlinguer während einer Rede in Padua einen Schwächeanfall erleidet und kurz darauf einen Gehirnschlag erleidet, ins Koma fällt und vier Tage darauf im Alter von 62 Jahren stirbt. Ganz Italien ist paralysiert.
Der Generalsekretär der größten kommunistischen Partei des Westens stand seit 1972 an der Spitze des PCI. Er wächst in Sardinien in einer großbürgerlichen antifaschistischen Familie auf und schlägt seit seinem Eintritt in den PCI 1943 eine Parteikarriere ein – zuerst in der Jungendorganisation, dann in verschiedenen Funktionen im Parteiapparat und im Vorstand. Er heiratet Letizia Laurenti, eine gläubige Katholikin, mit der er drei Töchter und einen Sohn bekommt.[1]
Am 13. Juni 1984 findet die Trauerzeremonie in Rom statt. Die gesamte politische Klasse Italiens einschließlich des Ministerpräsidenten Bettino Craxi und des Staatspräsidenten Sandro Pertini und internationale Gäste nehmen an der Zeremonie teil. Die tiefe Verankerung in der italienischen Kultur und Gesellschaft zeigt sich in der Anteilnahme des größten Teils der bedeutendsten italienischen Intellektuellen, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Regisseur*innen und Schauspieler*innen.
Klaus Bullan, lebt in Hamburg. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Sozialismus, in deren Ausgabe Juni 2024 eine Langfassung dieses Beitrags erschienen ist.
Vor allem aber war es die größte Demonstration in der Geschichte Italiens. Der Journalist
Fabrizio Rondolino berichtet in seinem Buch: Il nostro PCI:
«Rom war voller Sonne und Menschen, durchzogen von Dutzenden von Prozessionen: eine Menschenmenge überall, in den Straßen, auf den Bürgersteigen, an den Fenstern, vor den Geschäften mit heruntergelassenen Rollläden, auf den Laternenpfählen, auf den Dächern der Häuser, auf Autodächern stehend. Eine Million Menschen, eineinhalb Millionen, zwei: die größteDemonstration in der Geschichte Italiens. Es war kein heroischer Tag. So habe ich ihn nicht in Erinnerung: eher melancholisch, ergreifend und in gewissem Sinne abschließend. Es wurde geschrieben und gesagt, dass die PCI an diesem Tag gestorben ist, und das stimmt auch.» (Übersetzung KB mit Unterstützung von deepl.com)
Diese Demonstration war Ausdruck der großen Zustimmung zum «eigenartigen Genossen» Enrico Berlinguer, der als integre Persönlichkeit und als charismatischer Politiker geschätzt wurde. Die am häufigsten zu sehenden Transparente enthielten die Aufschrift: «Enrico, wir haben dich gern.»
Darüber hinaus war sie auch ein Zeichen für den großen Rückhalt des PCI in der italienischen Bevölkerung noch zu diesem Zeitpunkt.
Die kurz darauffolgenden Wahlen zum europäischen Parlament bringen dem PCI einen großen Erfolg und sie erreicht zum einzigen Mal in ihrer Geschichte das lange angestrebte Ziel des «sorpasso», dem Überholen der christdemokratischen Staatspartei DC (Democrazia Christiana), und wird zur stärksten Partei Italiens im europäischen Parlament – das Ende des PCI war also noch nicht nah.
Die Europawahlen standen 1984 ganz im Zeichen der Frage von Krieg und Frieden. Die Blockkonfrontation im kalten Krieg zwischen der US-geführten NATO und den Staaten des Warschauer Pakts unter Führung der Sowjetunion hatte die Gefahr einer heißen Konfrontation wachsen lassen, nachdem in den westlichen Staaten das neoliberale Projekt unter Führung von Ronald Reagan und Margret Thatcher immer mehr Raum gewann und zu einem Wettrüsten mit unkalkulierbaren nuklearen Risiken führte. Dagegen hatte sich eine internationale Friedensbewegung entwickelt, deren Massenbeteiligung historische Ausmaße annahm. Insbesondere die Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen in Westeuropa, auch in Italien, brachte Millionen von Menschen auf die Straße. Berlinguer und der PCI waren ein wichtiger Teil dieser Friedensbewegung. Der PCI hatte sich Glaubwürdigkeit in dieser Auseinandersetzung erworben, weil er schon seit langer Zeit nicht nur die NATO, sondern auch die Sowjetunion kritisierte. Die sowjetischen Interventionen gegen den Prager Frühling, die Führungsrolle der KPdSU und die Frage demokratischer Rechte hatten seit den frühen 1960er Jahren die Distanz zur Sowjetunion für Berlinguer stetig wachsen lassen.
Bruch mit dem sowjetischen Weg
Im November 1977 hatte Berlinguer in Moskau beim Empfang zum 60. Jahrestag der Oktoberrevolution unter der Überschrift: «Die Demokratie ist ein universeller Wert» vor dem eisigen Schweigen der sowjetischen Führungskader diese Probleme angesprochen:
«Was die Beziehungen zwischen den kommunistischen Parteien und den Arbeiterparteien betrifft, so ist klar, dass es zwischen ihnen keine Parteien geben kann, die führen, und Parteien, die geführt werden......Unsere Erfahrung hat uns, wie auch andere kommunistische Parteien im kapitalistischen Europa, zu dem Schluss geführt, dass die Demokratie heute nicht nur der Boden ist, auf dem der Klassengegner zum Rückzug gezwungen wird, sondern auch der historisch universelle Wert, auf dem eine heutige sozialistische Gesellschaft gegründet werden kann.
Deshalb zielt unser gemeinsamer Kampf - der ständig das Einvernehmen mit anderen sozialistisch und christlich inspirierten Kräften in Italien und Westeuropa sucht - auf die Verwirklichung einer neuen, sozialistischen Gesellschaft ab, die alle persönlichen und kollektiven, bürgerlichen und religiösen Freiheiten, den nicht-ideologischen Charakter des Staates, die Möglichkeit der Existenz verschiedener Parteien, den Pluralismus im sozialen, kulturellen und ideellen Leben garantiert.» (Discorso in occasione del 60° anniversario della Rivoluzione d’Ottobre, Mosca, 3 novembre 1977.Zitiert nach www.enricoberlinguer.it , Übersetzung KB mit Unterstützung von deepl.com)
Den Niedergang des Staatssozialismus sowjetischer Prägung hatte Berlinguer spätestens 1981 erkannt, als er nach den sowjetischen Interventionen in Afghanistan und in Polen – vermutlich ohne vorherige Rückendeckung durch die Führungsgremien des PCI - den Bruch mit Moskau erklärte:
«Ich glaube, man kann ganz allgemein sagen, dass das, was in Polen geschehen ist, uns zu der Auffassung führt, dass die treibende Kraft zur Erneuerung der Gesellschaften, oder zumindest einiger Gesellschaften, die in Osteuropa entstanden sind, tatsächlich zu Ende gegangen ist....
Damit der in den östlichen Ländern verwirklichte Sozialismus auch eine neue Ära der Erneuerung und der demokratischen Entwicklung erleben kann, sind zwei grundlegende Dinge erforderlich: Erstens ist es notwendig, dass der Entspannungsprozess fortgesetzt wird, denn es ist klar, dass die Eskalation der internationalen Spannungen, das Wettrüsten zu einer Verhärtung der verschiedenen Regime, auch dieser Regime, führt; zweitens ist es notwendig, dass im Westen Europas, in Westeuropa, ein neuer Sozialismus entsteht, der untrennbar mit den Werten und Grundsätzen von Freiheit und Demokratie verbunden ist und auf ihnen beruht. Das ist im Wesentlichen die Politik, die Strategie, die grundlegende Inspiration unserer Partei, die durch diese Ereignisse eine neue Bestätigung erfährt.»
(Interview in der Tribuna Politica, 15. Dezember 1981. Übersetzung KB mit Unterstützung von deepl.com))
Strategie des dritten Weges
Die Strategie des PCI, einen dritten Weg zwischen dem sowjetischen Modell von Staatssozialismus und dem sozialdemokratischen Weg, der innerhalb des kapitalistischen Systems verbleiben und durch Reformen für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Beschäftigten eintreten will, besteht darin, die «Logik des Kapitalismus» durch systemverändernde Transformationen zu überwinden und gleichzeitig die demokratischen Rechte und die individuellen Freiheiten der entwickelten bürgerlichen Gesellschaften zu erhalten und auszuweiten.
Berlinguer und der PCI hatten zu dieser Zeit bereits die mit der Strategie des «historischen Kompromisses» verbundene Politik, auf ein Regierungsbündnis mit der Christdemokratie zu setzen, aufgegeben. Die Grundsätze seiner Politik, in einem breiten Bündnis mit anderen sozialen Bewegungen und politischen Kräften mit systemverändernden Reformen eine Transformation der kapitalistischen Gesellschaft zu erreichen, bleiben auch in der Strategie der «Demokratischen Alternative» die gleichen und sind in der Formel vom «dritten Weg» zusammenzufassen.
In dieser letzten Lebensphase Berlinguers zu Beginn der 1980er Jahre sucht er verstärkt den Kontakt zu den Arbeiter*innen vor Ort. Er nimmt an Betriebsversammlungen teil, hört sich die Probleme der Beschäftigten an und rückt seine Partei demonstrativ an die Seite der kämpfenden Arbeiter*innen, die gegen den Abbau ihrer sozialen Rechte und die teilweise Abschaffung der «scala mobile», dem automatischen Teuerungsausgleich bei den Löhnen, die durch die Craxi- Regierung angeordnet worden war, streiken, demonstrieren und Fabriken besetzen. Auch wenn dieser Abwehrkampf letztlich in einer Niederlage endet, erwirbt sich Berlinguer dadurch weiteres Ansehen bei den Arbeiter*innen.
Ohne eine absehbare Perspektive auf eine Regierungsbeteiligung des PCI, um ihre Vorstellungen der Umgestaltung so wenigstens zum Teil umzusetzen, setzt Berlinguer nun wieder stärker auf die Mobilisierung für die zentralen Themen.[2]
Ausblick
Auch heute – gerade vor den Europawahlen im Juni 2024 – sind wir mit einer Polykrise konfrontiert, die Parallelen zur Situation zu Beginn der 1980er Jahre aufweist.
Mit Gramsci kann damals wie heute von einer Situation gesprochen werden, die Europa und die Welt vor gravierende existenzielle Probleme stellt:
«Die Krise besteht nun in dem Faktum, dass das Alte stirbt und das Neue noch nicht entstehen kann. In diesem Interregnum treten mannigfache Phänomene des Verfalls in Erscheinung.» (Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Hamburg 1991,Band 2, Heft 3, §34, S. 354)
Wieder stehen wir vor dramatischen Zuspitzungen der internationalen Lage, die jetzt durch aktuelle Kriege (Ukraine, Nahost) gekennzeichnet ist und die Gefahr nuklearer Eskalationen enthält. Anders als in den 1980er Jahren ist die Lage aufgrund der Umgruppierungen des weltweiten Kräfteverhältnisses wesentlich gefährlicher. Die Weltmacht Sowjetunion existiert nicht mehr, die Volksrepublik China ist zur zweiten globalen Wirtschaftsmacht geworden, die Länder des globalen Südens begehren gegen die Hegemonie des Westens auf.
Eine Friedensbewegung wie in den 1980er Jahren ist weltweit allenfalls in Ansätzen zu erkennen.
Der Übergang zu einer digitalen und dekarbonisierten Betriebsweise ist angesichts der globalen Wachstumsschwäche und Verschuldung gefährdet und die Hegemonieschwäche der Regierungen der wichtigsten entwickelten Staaten des Westens führt zu einem immer stärkeren Anwachsen der extremen Rechten.
Wir wissen, wie die Hegemoniekrise in Italien, vor deren Gefahr der PCI und Berlinguer stets gewarnt haben, dort zu einer massiven Rechtsentwicklung geführt hat und autoritäre Führungsfiguren wie Silvio Berlusconi bis hin zu einer postfaschistisch geführten Regierung unter Giorgia Meloni heute an die Macht gebracht haben. Der Untergang der italienischen Linken macht es dort heute schwer, dem etwas entgegenzusetzen. Ähnliche Entwicklungen sind in großen Teilen Europas in Gang oder zu befürchten.
Die Linke ist nur unzureichend in der Lage, den Veränderungen dieses Kräfteverhältnisses durch linke Antworten auf die drängenden Fragen der Transformation der entwickelten Länder heute etwas entgegenzusetzen; so wie es der Linken in Italien und Europa in den 1980er Jahren und danach nicht gelungen ist, dem Siegeszug des Neoliberalismus wirksame Alternativen entgegenzusetzen.
Es lohnt sich, die Ideen und Vorschläge von Enrico Berlinguer über den dritten Weg zum Sozialismus zu einem Ausgangspunkt für eine Wiederbelebung der Linken insgesamt zu nehmen.
[1] Biografische Daten über Berlinguer finden sich in der lesenswerten Biografie von Chiara Valentini: Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer, Bonn 2022. Dazu: Klaus Bullan/Bernhard Sander: Enrico Berlinguer, Sozialismus.de Supplement zu Heft 10/2022
[2] Lucio Magri: Der Schneider von Ulm, Berlin 2015, S.347ff. Magri als Kritiker des historischen Kompromisses spricht bezüglich dieses Strategiewechsels von einem «zweiten Berlinguer». Dazu auch Klaus Bullan: Lehren aus der Geschichte. Lucio Magris Bilanz des Aufstiegs und Scheiterns der KPI und der Konzeption des «dritten Wegs», in: Sozialismus, Heft 11/2015, S. 44ff.