Zu Beginn des Jahres feierte die zapatistische Bewegung im südmexikanischen Chiapas das dreißigste Jahr ihres Aufstands gegen eine neoliberale Globalisierung. Getrübt wird das Jubiläum von einem dramatischen Anstieg krimineller Gewalt in Chiapas. Was sind deren Ursachen? Und was bedeutet sie für die Zapatistas und die Zivilbevölkerung in Chiapas? Darüber sprach Gaston Kirsche mit der Journalistin Marta Durán de Huerta.
Die Zapatistas haben im Januar anlässlich des 30. Jahrestag ihres Aufstands vor der aktuell besonders gewaltvollen Situation in Chiapas gewarnt. Was konkret hat sich in den letzten Jahren dort verändert?
Marta Durán de Huerta ist Journalistin, Universitätsdozentin und politische Aktivistin aus Mexiko. Sie beobachtet die Entwicklung in Chiapas seit mehr als 30 Jahren und ist ebenso lang aktiv im Unterstützungsnetzwerk für die Zapatist*innen. Ihre Interviews mit dem Subcomandante Marcos erschienen 2001 als Buch «Yo Marcos - Gespräche über die zapatistische Bewegung» auf Deutsch. 1999 erschien «Acteal - Chiapas... Weihnachten in der Hölle» über das Massaker von Paramilitärs im Dorf Acetal 1997.
Die Situation ist heute viel schlimmer als vor dreißig Jahren. In den 90er-Jahren ging die Gefahr für die zapatistischen Gemeinden von der Armee und von den paramilitärischen Gruppen aus, also jenen Gruppen, die die Drecksarbeit für die Armee übernahmen. Heute ist es die organisierte Kriminalität, die stark zugenommen hat. Das betrifft vor allem die Grenze zu Guatemala, wo sie den Handel mit allem, was verboten ist, kontrolliert: Waffen, Migrant*innen und Drogen. Und dann haben wir es auch innerhalb der Kriminalität mit gleich mehreren Gruppierungen zu tun: Das Jalisco-Kartell - Neue Generation und das Sinaloa Kartell kämpfen um Territorien, Routen, Märkte und Waren. Die Zapatistas und die Zivilbevölkerung stehen im Kreuzfeuer.
Und das lässt sich der mexikanische Staat und die Regierung im Bundesstaat Chiapas einfach so gefallen?
Die Regierung des Bundesstaats und die Zentralregierung unternehmen kaum etwas, um die Menschen in der Region zu schützen. Alles deutet darauf hin, dass die Kartelle in Chiapas ungehindert und ungestraft agieren können, obwohl auch in Chiapas die als links geltende Partei Morena regiert. In vielen Regionen, in denen Morena regiert, sind jedoch nicht die Linken an der Macht, sondern die alten Machthaber, die alten Großgrundbesitzer, die bereits lange herrschenden Familien, die einfach ihr Hemd und ihren Namen gewechselt haben, als es ihnen passte, und jetzt sind sie Morena.
Dabei gibt es seit dem zapatistischen Aufstand in der Region eine extrem starke Präsenz des mexikanischen Militärs. Wie konnten sich die Kartelle da überhaupt etablieren?
Eine wichtige Rolle dabei spielen die paramilitärischen Gruppen, die der Staat im Rahmen der Aufstandsbekämpfung seit 1994 in der Region gefördert hat. Sie haben drei Jahrzehnte lang mit einer schmutzigen und irregulären Kriegsführung die Zapatisten und neutrale Gemeinden drangsaliert und Aktivist*innen ermordet. Mit Paz y Justicia und Los Chinchulines waren es anfangs zwei Gruppierungen - inzwischen kann ich Ihnen nicht sagen, wie viele Dutzend sich daraus entwickelt haben. Sie haben ihre Aktivitäten diversifiziert und sich mit Gruppen der organisierten Kriminalität zusammengeschlossen oder verbündet.
Gibt es Beweise dafür, dass das Militär direkt mit den Kartellen zusammenarbeitet?
Ja. Das Hacken der Datenbank des Sekretariats für Nationale Verteidigung, SEDENA, und das Durchsickern von Informationen an die Presse, die so genannten Guacamaya-Leaks, haben mit Hilfe von Quellen des Militärgeheimdienstes bestätigt, was wir bereits wussten: führende Militärs aller Ränge sind mit allen Kartellen verbündet oder erhalten Schutzzahlungen von ihnen. Ihre Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass Drogenlieferungen oder verbotene Waren auf ihrem Weg durch Mexiko ihr Ziel erreichen. Einige Leiter von Militärzonen haben Bestechungsgelder in Höhe von mehreren Millionen Dollar pro Monat erhalten, weil sie nichts unternommen haben, weil sie nicht eingegriffen haben. Im Fall des Verschwindens der 43 Studenten aus Ayotzinapa war das Militär involviert. Es gibt viele, viele Fälle, in denen Kriminelle, die in den Vereinigten Staaten vor Gericht stehen, gestanden haben, hochrangige Militärs bestochen zu haben. Auf Druck der Vereinigten Staaten wurden in Mexiko mehrere Generäle wie General Arturo Acosta Chaparro, General Hermosillo und General Gutiérrez Rebollo angeklagt und inhaftiert. Im Oktober 2020 wurde der ehemalige Verteidigungsminister, General Cienfuegos, in den Vereinigten Staaten verhaftet, um sich wegen seiner Beteiligung am Drogenhandel vor Gericht zu verantworten. Präsident López Obrador bat den damaligen Präsidenten Trump, Cienfuegos nach Mexiko zu schicken, damit er hier vor Gericht gestellt wird. Dies wurde getan, aber niemand ermittelte gegen Cienfuegos, nachdem er kurz zuvor von López Obrador ausgezeichnet worden war.
Was sind die Folgen für die von der Gewalt betroffenen Gemeinden in Chiapas?
Viel Schmerz, viel Terror, gewaltsames Verschwindenlassen und Vertreibung. Über 10.000 Menschen wurden seit 2021 durch diesen Konflikt aus ihren Gemeinden vertrieben. Die kriminellen Gruppen vertreiben sie mitunter gezielt, um ihre Kontrolle über die Territorien zu sichern. Mitte Mai ermordeten Kriminelle gezielt 11 Zivilist*innen in der Gemeinde Nueva Morelia, Chicomuselo. Sie wollten nicht mit dem organisierten Verbrechen zusammenarbeiten.
Das sind Nachrichten, wie wir sie seit der Eskalation des Kriegs gegen das organisierte Verbrechen im Jahr 2006 aus vielen Regionen Mexikos kennen. Chiapas hingegen stand dabei bisher weniger im Fokus.
Das was in Chiapas vor rund drei Jahren begann, kennen wir aus Bundesstaaten wie Tamaulipas, Michoacán, Guerrero, Jalisco, Colima oder Guanajuato. In Chiapas ist die Entwicklung eine verhältnismäßig junge. Meine persönliche Hypothese ist, dass die kriminellen Organisationen in den Zehntausenden von Flüchtlingen eine Goldmine sahen, als 2019 die Migrant*innenkarawanen aus Zentralamerika aufbrachen. An ihrer Entführung und Erpressung sind auch Polizei, Militär, korrupte Mitglieder des Nationalen Migrationsinstituts und Drogenhändler beteiligt. Die Kartelle verdienen derzeit mehr Geld mit Migrant*innen als mit dem Drogenhandel. Es war die Massenmigration aus Mittelamerika, die die Kriminellen an die Südgrenze brachte. Die nördliche Grenze zu den USA ist seit vielen Jahren unter ihrer Kontrolle.
Nachrichten von Gewalt hört man indessen nicht nur aus den Grenzgebieten..
Nein, natürlich nicht. Allgemein leben die Menschen gefährlicher, je weiter man sich vom Zentrum von Mexiko-Stadt entfernt. Die Ballungsräume des ehemaligen Bundesdistrikts, der heute Mexiko-Stadt heißt, sind sehr gefährlich, weil es dort viel organisierte oder unorganisierte Kriminalität gibt. Wenn man sein Haus verlässt, weiß man nicht, ob man überfallen, vergewaltigt, entführt oder sogar vom Verbrechen zwangsrekrutiert wird. Frauen werden von Menschenhändlern verschleppt, die den Schleppernetzen der sexuellen Ausbeutung zuarbeiten.
Da das organisierte Verbrechen große Teile des Landes kontrolliert, werden Aktivist*innen oder Politiker*innen - gleich welcher Partei -, die sich kriminellen Interessen widersetzen, bedroht, angegriffen, ermordet oder verschwinden gewaltsam. Dies erklärt die große Zahl von Journalist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen, Umweltschützer*innen, kleinbäuerlichen Aktivist*innen und Gewerkschafterinnen, die ermordet wurden.
Die EZLN verkündete Ende vergangenen Jahres eine grundsätzliche Reform ihrer Strukturen. War das auch eine Reaktion auf die zunehmende Gewalt der Kartelle?
Durchaus. Das Prinzip der No Land Ownership etwa, genannt El Común, ist ein Versuch, die notorischen Konflikte um Landbesitz und Landtitel zwischen den Gemeinden zu überwinden. Das Land, das den Großgrundbesitzer*innen abgenommen wurde, hat also keinen Eigentümer, keinen Titel, keine Grenzen, keine Zäune, nichts. Sie nennen die derzeitige Krise der Gewalt und des Klimawandels «La Tormenta», den Sturm, und in der Tat haben sie sich Maßnahmen überlegt, um diesen zu überstehen.
Anfang der 2000er genoss die EZLN auch im Landeszentrum an großer Unterstützung. Ein Auftritt von Subcomandante Marcos füllte 2001 den riesigen Zócalo-Platz im Zentrum von Mexiko-Stadt. Gibt es diese Solidarität heute noch so?
Leider nicht. Zum einen ist die politische Konjunktur eine andere: Es gibt neue Kriege, natürliche, ökologische und humanitäre Katastrophen, die die Aktivist*innen beschäftigen. Der Präsident Andrés Manuel López Obrador ist sehr beliebt, die Zapatistas hingegen sind in dieser politischen Konjunktur aktuell eher in Vergessenheit geraten. Manchmal herrscht geradezu ein blinder Glaube an die Regierung, das gab es so zuvor in Mexiko nicht. In den Augen der Zapatistas hingegen ist diese Regierung autoritär und klientelistisch. Ihre Megaprojekte wie etwa der Touristenzug Tren Maya beeinträchtigen die indigene Bevölkerung, nicht nur wegen Landraubs, sondern auch wegen der ökologischen Schäden. Erschwerend kommt hinzu, dass der Präsident das Land militarisiert hat. Die Zapatisten glauben der Regierung von López Obrador nicht, weil er seine Versprechen der Gerechtigkeit und der Beendigung der Straflosigkeit für Militär und Polizei nicht erfüllt hat; im Gegenteil, er hat Politiker und Geschäftsleute in seine Regierung aufgenommen, die unbelehrbare Diebe, Unterdrücker und Mörder sind.
Wofür stehen die Zapatistas heute?
Sie streben nicht nach Macht, und das unterscheidet sie von anderen Guerrillas. Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung hat die Befehlsgewalt längst an ihre zivilen Strukturen abgetreten. Innerhalb der Zapatistischen Armee, der bewaffneten Miliz, gibt es zwar eine militärische Hierarchie, mit der sie den bewaffneten Aufstand betrieben haben, aber auch sie haben nicht die militärische Mentalität einer Berufsarmee. Es sind Bauern und Bäuerinnen, die zu den Waffen gegriffen haben, die aber jeden Tag das Land bearbeiten und sich um ihre Tiere kümmern. Sie haben ein politisches System entwickelt, in dem Entscheidungen kollektiv und im Konsens getroffen werden. Sie konzentrieren die Macht nicht, sondern verteilen sie gemeinschaftlich. Das Verhältnis der zapatistischen Gemeinden zur Macht ist einzigartig, denn sie verwalten sie auf gemeinschaftliche, horizontale, transparente, rotierende und streng rechenschaftspflichtige Weise.
Vielen Dank für das Interview!
Das Interview ist eine aktualisierte Langfassung des am 11. April in der Jungle World erstveröffentlichten Interviews.