Analyse | Libanon / Syrien / Irak - Krieg in Israel/Palästina Der Alleingang der Hisbollah im Libanon

Die Mehrheit der Libanes*innen will keinen neuen Krieg. Doch die Hisbollah profitiert vom Schlagabtausch mit Israel.

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Werbekampagne mit einem klarem NEIN zu einem erneuten Krieg mit Israel. Wortwörtlich steht auf dem Plakat: «Wiederholt nicht die Vergangenheit – Libanon will keinen Krieg.»
Werbekampagne mit einem klarem NEIN zu einem erneuten Krieg mit Israel. Wortwörtlich steht auf dem Plakat: «Wiederholt nicht die Vergangenheit – Libanon will keinen Krieg.» Foto: Christina Förch Saab

Wenn dieser Tage über den Libanon berichtet wird, dann vor allem im Hinblick auf den Konflikt zwischen der libanesischen Hisbollah und der israelischen Armee. Der Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 wirkte sich umgehend auf den Libanon aus: nur einen Tag später, früh morgens am 8. Oktober 2023, feuerte die von Deutschland als Terrororganisation eingestufte schiitische Miliz Hisbollah die ersten Raketen Richtung Nordisrael ab. Ein militärischer Gegenschlag der israelischen Armee ließ nicht lange auf sich warten. Sie antwortete mit Beschuss eines Militärstützpunkts der Hisbollah im Südlibanon. Die Hisbollah wiederum zielte auf israelische Militärstellungen im Gebiet der Schebaafarmen. Die Hisbollah betrachtet es als libanesisches Territorium und somit als von Israel besetztem Gebiet.

Seitdem kommt es zu einem täglichen Schlagabtausch zwischen der Hisbollah und der israelischen Armee. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind seitdem über 92.000 Libanes*innen aus dem Grenzgebiet in andere, nördlichere Landesteile geflohen, weil die Städte und Dörfer im Südlibanon von israelischen Bomben angegriffen werden. Im Gegenzug wurden Israelis aus ihren Häusern im Norden des Landes zum Schutz vor der regelmäßigen Bombardierungen durch die Hisbollah evakuiert.

Christina Förch Saab lebt seit 24 Jahren im Libanon. Sie berichtete in den 2000er Jahren für die Deutsche Welle und war seitdem für diverse deutschsprachige Medien tätig. 2014 hat sie mit ihrem libanesischen Mann und anderen ehemaligen Bürgerkriegskämpfer*innen die NGO «Fighters for Peace» gegründet. Die Organisation setzt sich für die kritische Aufarbeitung des libanesischen Bürgerkriegs, Friedensbildung und Extremismusprävention ein.

Die libanesische Regierung hat die Entscheidung der Hisbollah, «aus Solidarität» auf den Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 zu antworten und das nördliche Gebiet Israels anzugreifen, nicht befürwortet. Die Bevölkerung ist gespalten. Der Interims-Premierminister Najib Mikati bekräftigte, dass er wenig Kontrolle über die schiitische Miliz habe, und schaut passiv dabei zu, dass seit nunmehr sieben Monaten Krieg im Südlibanon herrscht. Viel Spielraum für Kritik an den militärischen Aktivitäten der Hisbollah hat er nicht, weil er von einer von der Hisbollah unterstützten Allianz ins Amt gehoben wurde.

Bislang sind über 300 Hisbollah-Kämpfer während der Kampfhandlungen getötet worden – darunter auch ranghohe Offiziere. Die Zahlen steigen täglich. Auch über 50  Zivilist*innen, Notfallhelfer*innen und Journalisten*innen zählen zu den Opfern. Vereinzelt tötete die israelische Armee auch in anderen Landesteilen wichtige Milizionäre – unter anderem in der Nähe Baalbeks oder im Vorort Dahiye südlich von Beirut. Auf israelischer Seite sind bislang 18 Soldat*innen und 10 Zivilist*innen getötet worden. Die Hisbollah greift hauptsächlich israelische Militärstützpunkte an. Durch die Evakuierungen der Menschen aus den Städten und Dörfern Nordisraels kommt es dort zu weniger zivilen Opfern als auf libanesischer Seite, wo weder die Hisbollah noch die libanesische Regierung Anstrengungen unternommen haben, Menschen aus dem Konfliktgebiet zu evakuieren.

In anderen Landesteilen, insbesondere in der libanesischen Hauptstadt Beirut, merken die Menschen wenig vom Krieg im Süden des Landes. Die Libanes*innen gehen ihrer Arbeit und ihren Alltagsgeschäften nach. Das Brummen israelischer Drohnen, die täglich über der Hauptstadt kreisen, geht im Verkehrslärm unter. Gelegentlich fliegen auch israelische Kampfjets über Beirut. Doch trotz des anscheinend normalen Alltags hängt die Bedrohung eines Krieges zwischen der Hisbollah und Israel, der sich auf das gesamte Land ausweiten kann, über der Zedernrepublik. Viele Libanes*innen sind angespannt und leben in ständiger Unruhe und Unsicherheit. Sie haben ein Gefühl der Machtlosigkeit. Nur diejenigen mit ausreichenden finanziellen Mitteln könnten sich beim Übergreifen des Krieges auf andere, sicherere Landesteile retten.

Selbst wenn die Hisbollah bislang von einer Ausweitung des Krieges Abstand nimmt – eine mögliche Eskalation ist real. Es genügt ein kleiner Fehler, ein Militärschlag zu viel, etwa auf einen ranghohen Führer der Hisbollah oder auf einen wichtigen Offizier der israelischen Armee, und die Lage könnte eskalieren. Die Konsequenzen sind dann schwer zu kontrollieren.

Die Entstehung der Hisbollah

Die Hisbollah entstand Mitte der 1980er Jahre und wird seither vom iranischen Regime politisch, finanziell und militärisch unterstützt. Die Identität der schiitischen Miliz ist es, sich als Widerstandsorganisation gegen Israel darzustellen. Bis zum Mai 2000 kämpfte die Hisbollah im vom Israel besetzten Südlibanon, bis sich die israelische Armee im Mai 2000 von dort zurückzog. Danach entwickelte sich die Miliz zunehmend zu einer dominanten politischen und sozialen Kraft im Libanon – mit einem starken militärischen Arm und einem immensen Waffenarsenal, das die Schlagkraft der libanesischen Armee übersteigt.

Durch Milliardenzahlungen des Irans an die Schiitenorganisation und durch Korruption und Warenschmuggel hat sich die Hisbollah in großem Stil bereichert und damit ein Netz an sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen aufgebaut, um die schiitische Bevölkerung zu versorgen: Mit billigen Waren, mit Jobs, aber auch mit Schulen und Krankenhäusern. Sie hat längst einen Staat im Staate geschaffen und mit weitreichenden Leistungen die schiitische Bevölkerung an sich gebunden.

Ein kurzer, heftiger Krieg zwischen der Hisbollah und Israel im Juli 2006 verwüstete den Südlibanon und die Hisbollah-Hochburg Dahiyeh in Beirut und zerstörte wichtige Infrastruktur wie die Landebahnen des Beiruter Flughafens, Brücken und Autobahnen. Seitdem konzentriert sich der militärische Flügel der Hisbollah auf andere Länder – er unterstützt beispielsweise den syrischen Diktator Baschar al-Assad militärisch oder die Houthi-Rebellen im Jemen. Das Herzstück der Identität der Hisbollah – eben der Widerstand gegen Israel – verblasste zunehmend. Der Krieg in Gaza ist daher eine willkommene Gelegenheit für die «Partei Gottes», sich wieder als schlagkräftige Widerstandsorganisation gegen die Bedrohung aus Israel zu inszenieren. Aber wie sieht es mit anderen politischen Parteien aus, sowohl mit Verbündeten der Hisbollah und als auch mit ihren Opponenten? Droht die Hisbollah mit ihrem militärischen Engagement gegen Israels den Libanon innenpolitisch zu destabilisieren?

Die Verbündeten der Hisbollah im libanesischen Parteienspektrum

In den 2000er Jahren ging der politische Flügel der Hisbollah mit einer Reihe politischer Parteien Allianzen ein. Die syrisch-nationalistische Partei, welche dem syrischen Regime Baschar al-Assads nahesteht, die christliche Freie Patriotische Bewegung des früheren libanesischen Präsidenten Michel Aoun, und die schiitische Amal-Partei, welche seit 1992 den Parlamentssprecher Nabih Berri stellt, waren jahrelang Verbündete der Hisbollah. In Opposition zur Hisbollah stand eine Allianz der «Zukunftsbewegung» des 2005 ermordeten Premiers Rafik Hariri, die beiden christlichen Parteien Kataeb, geführt von Sami Gemayel und Lebanese Forces um Samir Geagea sowie die Progressive Sozialistische Partei des Drusenführers Walid Dschumblatt. Diese beiden großen politischen Flügel rauften sich immer wieder zu Einheitsregierungen zusammen und vereinigten sich ebenso gegen die im Mai 2022 gewählten 13 Abgeordnete aus der Protestbewegung von 2019, als mehrere Monate lange massenhaft Menschen gegen die korrupte Regierung auf die Straße gegangen sind. Linke Parteien wie die Kommunistische Partei spielen kaum eine Rolle, da sie momentan keine Abgeordneten im Parlament stellen.

Dieses vorsichtig austarierte politische Gefüge droht sich momentan wegen des militärischen Engagements der Hisbollah gegen Israel zu verschieben: Der sunnitische Premierminister Najib Mikati warnt den Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah vor einer Ausweitung des Krieges. Auch der christliche Patriarch Boutros al-Rai, im konfessionell geprägten System des Libanon eine bedeutende Autorität für die Christen, fordert ebenfalls Zurückhaltung. Die Christ*innen im Südlibanon fühlen sich der Hisbollah ausgeliefert und sagen, dies sei nicht ihr Krieg. Die Lebanese Forces unterhalten seit November eine Werbekampagne mit großen Werbeplakaten und Posts in den sozialen Medien mit einem klaren NEIN zu einem neuen Krieg im Libanon. Selbst Gibran Bassil, der Vorsitzende der Freien Patriotischen Bewegung und lange Zeit enger Verbündeter der Hisbollah, äußert sich zunehmend kritisch gegenüber den militärischen Unternehmungen der Hisbollah gegen Israel.

Die alten politischen Koalitionen sind also wegen des Krieges in Gaza und Hisbollahs Antwort darauf durcheinandergeraten. Die politische Unterstützung für die Hisbollah sinkt. Laut einer Umfrage von Statistics Lebanon im Oktober 2023 sind 73 Prozent der Libanes*innen dafür, sich beim Krieg gegen Israel herauszuhalten. Das schließt sowohl Schiit*innen aus dem Südlibanon ein, wie auch die Mehrheit der Sunnit*innen, Christ*innen und Drus*innen.

Irans Einfluss

Doch was die Mehrheit der politischen Führer und der libanesischen Bürger*innen wollen, ist wenig relevant: Hisbollahs Militäraktionen gegen Israel sind weitgehend von innenpolitischen Prozessen losgelöst. Die schwerbewaffnete schiitische Miliz unterliegt gegenüber der Regierung keinerlei Rechenschaftsplicht und ist gleichzeitig vom iranischen Regime abhängig. Das stößt anderen libanesischen Politiker*innen zunehmend sauer auf, denn viele sehen das enorme Risiko der Eskalation des Krieges und eines brutalen Gegenschlags Israels, der das wirtschaftlich und finanziell stark gebeutelte Land zunehmend in den Abgrund zu stürzen droht. Die Hisbollah ist sich dieses Risikos bewusst und nimmt es in Kauf. Wirtschaftlich und finanziell profitiert die Hisbollah schon jetzt vom Verfall der Institutionen und stärkt in der Krise eine Parallelwirtschaft durch den Ausbau ihres Bankensektors, das Betreiben von Wechselstuben, den Verkauf von Strom und Öl für Generatoren und das Aufkaufen von Firmen und Immobilien.

Die Schiitenorganisation ist zwar ein relativ eigenständiger politischer Akteur, der wichtige politische oder militärische Entscheidungen im Alleingang trifft, aber dennoch stark eingebunden ist in die «Achse des Widerstands» gegen Israel und die USA. Daran beteiligt sind das iranische und syrische Regime, schiitische Milizen im Irak und in Jemen, die Hamas und weitere kleinere Akteure. Dominante Kraft in dieser Allianz ist das iranische Regime. Bislang scheinen die Mullahs in Teheran aus politischem Kalkül an einer Eskalation des Krieges nicht interessiert zu sein – vielleicht, weil sie wissen, dass sie einen regionalen Krieg momentan nicht gewinnen können. Vielleicht, weil sie eine Ruheperiode brauchen, um das iranische Nuklearprogramm weiterzuentwickeln. Irans Zurückhaltung beeinflusst jedenfalls das militärisches Verhalten der Hisbollah. Das iranische Regime will eher als regionale politische Kraft ernst genommen werden und die große Politik in Westasien maßgeblich mitbestimmen. Es scheint die Hisbollah zu gemäßigten militärischen Aktionen anzuhalten und von einer Eskalation abzusehen. Auch die direkte Konfrontation des Iran mit Israel am 14. April 2024 ändert diese Grundhaltung vorerst nicht.

Die Mehrheit ist gegen den Krieg

Trotz der Angst der Libanes*innen vor einer Ausweitung des Krieges auf das ganze Land ist die Mehrheit mit den zivilen palästinensischen Opfern solidarisch. Die allgemeine Stimmung richtet sich gegen Israels militärisches Vorgehen in den besetzten palästinensischen Gebieten – im Gazastreifen und im Westjordanland. Allerdings sind Massendemonstrationen, wie sie in New York, London, Berlin, Jordanien, Indonesien oder im Jemen regelmäßig stattfinden, ausgeblieben. Zu Beginn des Krieges gab es immer wieder überschaubare Demonstrationen von Hisbollah- und Hamas-Anhänger*innen. Gruppen palästinensischer Jugendlicher, Pfadfinder*innen, die Kommunistische Partei – immer wieder gab es kleine Solidaritätsveranstaltungen, aber keine großen Demonstrationen. Die Mehrheit der Libanes*innen will sich von keiner dieser Gruppen instrumentalisieren lassen. Sie möchte keinen Krieg, ist also mit pro-palästinensischen Solidaritätsbekundungen zurückhaltend. Unter den circa 500.000 palästinensischen Geflüchteten, von denen die meisten seit Generationen in ärmlichen Lagern leben, ist die anfängliche Euphorie eines Sieges der Hamas über Israel der schrecklichen Ernüchterung über einen brutalen Krieg mit inzwischen mehr als 36.000 Toten gewichen (Stand 7.6.2024). Hoffnungslosigkeit macht sich breit.

Im Gegensatz zu den anderen Grenzstaaten zu Israel wie Ägypten oder Jordanien hat der Libanon nie einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen. Die Frage der Neutralität stellte sich deshalb bisher nicht. Voraussichtlich würde sie sich erst dann stellen, wenn es eine echte politische Lösung des Nahostkonflikts gibt, eine Zweistaatenlösung für Israel und Palästina, wie sie mittlerweile wieder verstärkt von der internationalen Gemeinschaft gefordert wird. Aber genau diese Lösung wird weiter vom israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und seiner rechtsnationalen Regierung torpediert. Israels engste Verbündete, darunter die USA und Deutschland, drängen auf die Zweistaatenlösung. Für den israelischen Premier wäre diese Lösung ein bitteres Zugeständnis an die Hamas, ein Ende des Krieges ohne die Auslöschung der Hamas eine politische Niederlage. Im Libanon befürchten die Menschen deshalb, dass nach dem Ende des Gazakriegs der Libanon ins Visier der Regierung Netanjahus gerät. Der Hauptrisikofaktor für eine Ausweitung des Krieges könnte letztendlich also gar nicht von der Hisbollah ausgehen, sondern von Israels aktuellem Premierminister und dessen rechtsnationaler Regierung. Und wie derzeit bei Gaza, so befürchten die Libanes*innen, würde die Welt dann tatenlos zusehen.