Nachricht | Amerikas Eine Stadt mit Zukunft?

Über nachhaltige Strategien im Kampf gegen die Drogenkriminalität in Rosario, Argentinien.

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Autorin

Naira Estevez,

Die argentinische Bewegungspartei Ciudad Futura setzt auf Teilhabe und Prävention: konkrete kommunale Projekte und die Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen innerhalb der Stadtgesellschaft sollen helfen, die Kriminalität nachhaltig zu bekämpfen. Auf dem Foto sieht man eine Versammlung der Partei. Viele Menschen sitzen in einem Stuhkreis und diskutieren..
Alternative zur Politik der «harten Hand»: Die argentinische Bewegungspartei Ciudad Futura setzt auf Teilhabe und Prävention: konkrete kommunale Projekte und die Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen innerhalb der Stadtgesellschaft sollen helfen, die Kriminalität nachhaltig zu bekämpfen. Foto: Ciudad Futura/Archiv

Rosario ist mit ca. 1,3 Mio. Einwohner*innen nach Buenos Aires und Córdoba zwar nur die drittgrößte Stadt Argentiniens, sie hat im nationalen Vergleich jedoch die höchste Rate an Gewalt- und Tötungsdelikten. Das hängt mit dem dort inzwischen seit Jahrzehnten florierenden Drogenhandel und der organisierten Kriminalität zusammen. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Banden, denen regelmäßig auch Zivilist*innen zum Opfer fallen. Einfach, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Im März dieses Jahres erreichte diese Gefahr für die Stadtgesellschaft ihren traurigen Höhepunkt: Anfang März 2024 verübten verschiedene kriminelle Banden in nur 80 Stunden vier Morde in der Öffentlichkeit – zwei Taxifahrer, ein Busfahrer und ein Tankwart wurden umgebracht, begleitet von Drohbriefen an Provinz- und nationale Regierung. Die Stadt kam zum Stillstand. Wichtige Akteure der öffentlichen Infrastruktur wie Müllabfuhr, Gesundheitsversorgung und Schulen stellten für mehrere Tage ihren Betrieb ein oder reduzierten ihn auf das absolute Minimum, Gewerkschaften des Verkehrssektors streikten und viele Geschäfte ließen ihre Rollläden nur halb hoch, aus Angst vor weiteren Angriffen. Auch mehrere Wochen nach den Geschehnissen blieb der Schock spürbar und viele Restaurants und Tankstellen nachts geschlossen.

Naira Estevez (*1988) ist Freie Autorin, Kulturmanagerin und als Assistenz der Geschäftsführung beim Missy Magazine tätig. Ein Teil ihrer Familie kommt aus und lebt in Rosario, Argentinien.

Kurz zuvor hatte der seit Dezember 2023 amtierende Provinzgouverneur, Maximiliano Pullaro (von der rechtsliberalen Partei Unión Cívica Radical), die Verschärfung von Haftbedingungen für Drogenhändler und Auftragsmörder angekündigt und eine Razzia im ca. 25 km von Rosario entfernten Gefängnis Piñero durchführen lassen, bei der eine große Anzahl von Handys, WLAN-Routern und anderen Gegenständen konfisziert wurden; mit diesen waren die illegalen Geschäfte der Drogenbanden aus dem Gefängnis heraus weitergeführt worden.

 Pullaro ließ auf seinen Social-Media-Kanälen schließlich Bilder von den Durchsuchungen posten, auf denen die Häftlinge zu sehen sind - bis auf die Unterhose entkleidet, mit gesenktem Blick, dicht an dicht, in geordneten Reihen und Handschellen auf dem Boden sitzend, umstellt von Sicherheitskräften – ihrerseits in voller Schutzmontur, vermummt und mit Maschinengewehren in der Hand. Die Caption dazu beginnt in Großbuchstaben mit dem Satz: «Es wird für sie immer schlimmer werden», was als Signal der Provinzregierung an die Stadtbevölkerung verstanden werden kann, als Demonstration von Pullaros vermeintlicher Macht.

Argentiniens Staatschef Javier Milei hielt sich unterdessen mit Stellungnahmen zum Geschehen zurück. Am 11. März gab dann seine Ministerin für Innere Sicherheit, Patricia Bullrich, eine Pressekonferenz in Rosario, an der neben Verteidigungsminister Luis Petri auch Pullaro und Rosarios Bürgermeister Pablo Javkin teilnahmen. Sie erklärte dort die Einberufung eines Krisenkomitees, das Maßnahmen zur Bekämpfung des «Drogenterrorismus» und der organisierten Kriminalität ergreifen würde. Als eine dieser Maßnahmen wurden bewaffnete Einheiten der Bundespolizei und des Militärs nach Rosario entsandt. Das Militär darf jedoch lediglich Infrastruktur zur Verfügung stellen, nicht aber durch Kampfhandlungen eingreifen was sich aus einer – aufgrund der militär-diktatorischen Vergangenheit des Landes – präventiven Gesetzeslage ergibt. Die Arbeit dieses Krisenkomitees, das die Lage in der Stadt unter Kontrolle bringen soll, ist vorerst befristet. Dass diese Politik der «harten Hand» die richtige Vorgehensweise ist, wird von Teilen der Stadtgesellschaft und -politik stark angezweifelt.

Die linkspolitische Bewegungspartei Ciudad Futura (frei übersetzt etwa «Stadt der Zukunft») zum Beispiel verfolgt gänzlich andere Ansätze, um der blutigen Realität Rosarios ein Ende zu setzen.

Die Partei Ciudad Futura entstand 2013 aus dem Zusammenschluss der autonomen sozialen Bewegungen «Giros» und «26 de Junio», weshalb sie sich als Bewegungspartei mit aktivistischer Tradition versteht. Seit ihrer Entstehung ist sie kontinuierlich gewachsen. Im Jahr 2023 wurde Ciudad Futura von 48,5 % der Wähler*innen gewählt.

Naira Estevez hat mit Caren Tepp gesprochen, der Fraktionsvorsitzenden von Ciudad Futura im Stadtrat von Rosario. Im Gespräch ging es um die Lage vor Ort und Strategien gegen Drogenhandel, Gewalt und organisierte Kriminalität.

Caren, kannst du eine Einschätzung geben, warum der Drogenhandel sich gerade in Rosario so stark entwickelt hat und nicht in der Hauptstadt oder anderen Großstädten Argentiniens?

Rosario ist einer der größten Agrarexporthäfen der Welt (hier werden 80 % der Exporte von Getreide und Getreideprodukten des Landes abgewickelt) und die Stadt verfügt dadurch über finanzielle Strukturen, innerhalb derer sich kriminelle Geschäfte abspielen und Steuern hinterzogen werden können. Die Möglichkeiten, illegale Gelder in die lokale legale Wirtschaft zu überführen, sind enorm und die städtische Regierung kümmert sich seit vielen Jahren kein bisschen um die Bekämpfung dieses Phänomens. Unsere Stadt ist also nicht zufällig zu einem sehr attraktiven Ort für Geldwäsche geworden. Zudem haben wir im nationalen Vergleich nicht nur die höchste Rate an Tötungsdelikten, sondern immer wieder Fälle, in denen lokale Polizeibeamte Gruppierungen organisierter Kriminalität gewisse «Dienste erweisen». Und – wie andere große urbane Zentren in Lateinamerika, die von krimineller Gewalt durchzogen sind – ist Rosario keine nationale Hauptstadt, weshalb sie weder die politische Aufmerksamkeit der Regierung noch Ressourcen und Institutionen erhält, die dem Ausmaß der problematischen Gemengelage gerecht werden würden. Dies alles verbunden mit einer lokalpolitischen Klasse, die bezogen auf das Problem der Gewalt in Rosario seit mehr als zehn Jahren strategisch nicht über bloße Lippenbekenntnisse hinauskommt, hat eine Situation geschaffen, in der diese Gewalt struktureller Bestandteil unserer Stadt geworden ist, verwoben in verschiedene Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens.

Was hältst du von den Strategien der  «harten Hand», die die Landes, Regional- und Lokalregierung jetzt durchsetzen wollen – werden sie damit der Problematik gerecht?

Vor der Gewalteskalation Anfang März hatte das Ministerium für Innere Sicherheit eine sogenannte «Operation» in Rosario durchgeführt, bei der es sich im Wesentlichen um die Entsendung von Bundestruppen zur Unterstützung bei Sicherheitsaufgaben in der Stadt handelte. Auf die erste «Feier» der angeblichen Erfolge dieser Operation folgte wenige Tage später die Mordserie, die das öffentliche Leben in einem Ausmaß zum Erliegen brachte, das nur mit der COVID-19-Pandemie vergleichbar ist. Wir sollten daher das, was streng genommen nur Augenwischerei ist, nicht als Strategie bezeichnen. Ich höre lediglich leere Versprechungen, die darauf abzielen, weitere Zeit zu gewinnen, inmitten der Krise der Gewalt, die wir seit mehr als zehn Jahren in Rosario erleben. Bislang ist für mich kein wirklich koordinierter Plan zwischen den verschiedenen Regierungsbehörden erkennbar.

Welche Lösungsansätze verfolgt Ciudad Futura vor diesem Hintergrund im Umgang mit dem Drogenhandel und dessen Folgen?

Ich denke, wir sollten im heutigen Rosario und im Kampf gegen die Drogenkriminalität und Gewalt keinen Krieg erklären, wie es die Regierung tut, sondern wirksame und nachhaltige Strategien verfolgen, um Frieden zu schaffen. Dazu müssen wir an drei Ebenen ansetzen: oben, unten und in der Mitte.

«Oben» muss dem Drogengeld der Weg in die legale Wirtschaft versperrt werden. Das bedeutet zum Beispiel, Geldwäscherei, die sich in den Kreislauf von Drogenhandel und Gewaltdelikten einfügt und ihn ankurbelt, muss ausradiert werden. Wenn wir genau hinschauen, wird schnell klar, dass die Drogenkriminalität in Rosario nicht ausschließlich von den prekarisierten Teilen der Stadtgesellschaft ausgeht bzw. dort stattfindet, auch wenn es in der medialen Berichterstattung und in politischen Debatten häufig den Anschein macht. Alle hören das Getöse der Schüsse, wir sollten aber das heimliche Rattern der kleinen Maschinen, die die Banknoten zählen, nicht außer Acht lassen! Das sind zwei untrennbare Seiten derselben gewaltvollen Realität. Das Verhindern von Geldwäsche ist also eine grundlegende Maßnahme, um den größten Teil der mörderischen Gewalt in Rosario einzudämmen. Dafür haben wir von Ciudad Futura z. B. ein «Anti-Geldwäsche-Amt» vorgeschlagen, das von einer Mehrheit im Stadtrat angenommen und auch ins Leben gerufen wurde. Eigentlich ein sinnvolles Instrument – bisher mangelt es allerdings am politischen Willen, es auch wirklich systematisch anzuwenden.

Worauf zielt ihr in der «Mitte» ab?

In der «Mitte» bezieht sich auf das System der öffentlichen Sicherheit in Rosario: Wenn wir hier nicht jetzt etwas tun, und zwar entschlossen und mit Nachdruck, wird keine Strategie gegen den Drogenhandel und die Gewalt in unserer Stadt erfolgreich sein. Wir dürfen nicht mehr wegschauen – es braucht Maßnahmen, die das Problem an seiner strukturellen Wurzel packen. Die Autorität des Staates muss wiederhergestellt werden, auf der Grundlage eines Prozesses der umfassenden Säuberung und Professionalisierung der Polizei sowohl in ihren präventiven Sicherheits- als auch in ihren strafrechtlichen Ermittlungsfunktionen. Der Einsatz der Bundespolizei sollte eine zielgerichtete Zukunftsvision beinhalten – das «Wofür» von so einem Einsatz muss klar sein – um nicht bloß eine planlose aktionistische Übergangslösung zu sein.

Und was meinst du mit «unten»?

Von «unten» müssen wir unser soziales städtisches Gefüge wiederbeleben, um junge Menschen aus kriminellen Milieus herauszuholen. Wir müssen verstehen, dass Drogenbanden jungen Menschen nicht nur schnelles und viel Geld bieten, sondern auch Identität, Anerkennung und soziales Prestige. Deshalb brauchen wir soziale Projekte, die genau an diesen Punkten ansetzen. Die Stärkung der Gemeinschaft lässt sich zudem nicht an klassischen Parametern messen, wie der Anzahl von Stadtvierteln mit asphaltierten Straßen, gebauten Wohnhäusern oder vergebenen Stipendien für benachteiligte Jugendliche.
Wichtiger ist, was bleibt, wenn diese Maßnahmen enden. Welche Prozesse wurden in Gang gesetzt, können aufrechterhalten werden und gedeihen? Welche Fähigkeiten hat die Gemeinschaft erworben, um sich weiterzuentwickeln und den eigenen Alltag und dadurch auch das Stadtgeschehen zu gestalten und zu verwalten?

Unsere Antworten hierauf sind kleine und mittlere Projekte wie alternative Bildungseinrichtungen, Kulturräume, Suppenküchen und Nachbarschaftstreffpunkte. Oder auch Großprojekte wie die städtebauliche Erschließung von prekarisierten Vierteln und die Public Food Company, die landwirtschaftliche Produkte herstellt und direkt vertreibt, was Verbindungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsschichten der Stadtgesellschaft herstellt. Wir machen all das, weil wir denken, dass die Entfremdung zwischen Gesellschaft und Politik eine gefährliche Entwicklung ist, der unbedingt entgegengewirkt werden muss. Wir erzeugen eine Verbindung, und zwar von unten nach oben, indem politische Entscheidungen dort ausgehandelt werden, wo sie konkrete Auswirkungen haben. Diese Entscheidungen werden dann durch uns in politische Prozesse eingebracht.

Habt ihr deshalb eure aktivistischen Bewegungen schließlich in eine Partei überführt und seid als Volksvertretung in Gemeinderäten und Stadtrat aktiv?

Ja, denn Argentinien ist ein zentralistisches Land, das seinen politischen Fokus sehr auf die Hauptstadt Buenos Aires legt. Die meisten «wichtigen» Debatten finden deshalb in den vier Blocks rund um die Casa Rosada (dem nationalen Regierungsgebäude) statt. Aber das sind Debatten, die nichts mit dem Alltag der Menschen zu tun haben. Wir versuchen hingegen, die Stadt im Hier und Jetzt schon so zu gestalten, wie wir sie uns für morgen wünschen und stecken täglich unsere Energie in die Verwirklichung unserer menschenfreundlichen und realitätsnahen Vision. Unserer Erfahrung nach hat diese Methode angewandter Politik eine viel größere Überzeugungskraft als abstrakte politische Diskussionen; das hat sich bisher auch in den Wahlergebnissen gezeigt: von unserem Erdrutschsieg im Jahr 2015 als wir bei den Landeswahlen 16 % der Stimmen erhielten, hin zum Jahr 2020, in dem wir die größte Fraktion in Rosarios Stadtrat wurden. Heute gelten wir als reale Alternative zur kommunalen Regierung, weil wir 2023 von 48,5 % der Wähler*innen gewählt wurden. Hinzu kommen gute Ergebnisse in anderen kleineren Städten wie Venado Tuerto, Pueblo Esther und Cañada de Gómez.

Aber das Wichtigste ist, dass unsere Existenz nicht von einer Wahl abhängt. Die Wahl beeinflusst lediglich, wie lange wir brauchen, um die von uns gewünschten Veränderungen zu erreichen. Manchmal machen wir schnellere Fortschritte, manchmal langsamere. Unseren Horizont bilden dabei immer konkrete Strategien und Organisierung, um voranzukommen.