Als Emmanuel Macron 2017 zum französischen Präsidenten gewählt wurde, versprach er in seiner ersten öffentlichen Rede, dass die extreme Rechte noch vor dem Ende seiner Amtszeit verschwunden sein werde. Sieben Jahre später steht das Marine Le Pens Rassemblement National (RN) an der Schwelle zur Macht. Der «Nationale Zusammenschluss» schickt sich an, die Tür zu durchschreiten, die Macron mit seiner Entscheidung, die französische Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen auszurufen, weit öffnete. Zuvor hatte die extreme Rechte bei den Europawahlen am 9. Juni ihr bisher bestes Ergebnis in Frankreich erzielt.
Nessim Achouche arbeitet als Projektmanager im Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit den Schwerpunkten sozialökologische Transformation, Energiedemokratie und Klimagerechtigkeit sowie deren Überschneidungen mit linker Politik.
Die Ergebnisse der EU-Wahlen schienen die Dynamik zu bestätigen, die in der französischen Politik seit der Wiederwahl Macrons im Jahr 2022 ihre Wirkung entfaltete. Unter Führung des jungen Europaabgeordneten Jordan Bardella, der oft als Nachfolger von Marine Le Pen gehandelt wird, konnte der RN 31,3 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. Das bedeutet einen Zuwachs von 2,2 Millionen Stimmen gegenüber dem Ergebnis von 2019, liegt aber immer noch unter den 8,8 Millionen Stimmen, die Marine Le Pen bei der Präsidentschaftswahl 2022 erhielt. Zusammen mit den Stimmen, die an die andere große rechtsextreme Partei Reconquête («Rückeroberung») gingen, gab es bei den Europawahlen einen erschütternden Zuwachs von drei Millionen Stimmen für nationalistische und rassistische Parteien. Der RN wird eine Rekordzahl von 30 Abgeordneten nach Brüssel entsenden, womit er, noch vor den deutschen Christdemokraten (CDU/CSU), dort die stärkste Delegation stellen wird.
Der RN konnte seine Stimmenzahl praktisch überall im Land erhöhen, die Liste lag in 93 Prozent der Gemeinden auf dem ersten Platz. Bei näherer Betrachtung bestätigt sich eine weitere Tendenz: Der RN schnitt in ländlichen und peripheren Gebieten, die von den städtischen Zentren isoliert sind, besser ab. Demgegenüber fiel der Erfolg des RN in Städten und Stadtvierteln mit einer höheren Armutsquote (über 20 Prozent) geringer aus und stagnierte in Gemeinden mit einer Armutsquote von über 30 Prozent tendenziell bei einem Durchschnittswert von 10 Prozent.
Insgesamt stellen die Ergebnisse ein politisches Erdbeben dar, dessen endgültige Folgen sich erst in den kommenden Wochen und Monaten zeigen werden. Macrons Projekt liegt in Trümmern, während die Parteien der Rechten und der Linken innerhalb weniger Tage alte Sicherheiten aufgeben mussten.
Rückschläge für die Mitte, Bewegung auf der Linken
Die Ergebnisse für Macrons Renaissance-Partei bestätigten den von vielen als katastrophal empfundenen Wahlkampf, in dem sich die Partei als unfähig erwies, Macrons katastrophale Bilanz in den ersten beiden Jahren seiner zweiten Amtszeit zu verteidigen und eine Vision fürs Land zu präsentieren. Mit 14,5 Prozent für die von Valérie Hayer geführte Liste haben die Wahlen die heillose Verwirrung des Macron-Projekts offenbart.
Auf der Linken führte die formelle Auflösung des NUPES-Bündnisses – die durch die frühe Weigerung der Grünen, eine gemeinsame Liste vorzulegen, ausgelöst wurde – dazu, dass die ehemaligen Koalitionsmitglieder getrennte Wege einschlugen.
Place Publique, eine Abspaltung der Sozialistischen Partei unter Führung von Raphael Glucksmann, erzielte vergleichsweise beeindruckende 14,2 Prozent. Seine Ähnlichkeit mit dem politischen Profil Emmanuel Macrons verschaffte ihm viel mediale Aufmerksamkeit und kann teilweise erklären, warum ein erheblicher Teil der Anhänger*innen Macrons von 2019 diesmal zu Glucksmann wechselte. Les Écologistes (Die Grünen) verloren gegenüber 2019 zehn Prozentpunkte und übertrafen mit 5,5 Prozent der Stimmen nur knapp die Schwelle für den Einzug ins Europäische Parlament (EP).
Präsident Macrons Entscheidung zur Auflösung des Parlaments fällt in eine Zeit, in der der bürgerliche Block stark geschwächt ist und die nationalistische und rassistische Rechte einen neuen Höhepunkt erreicht hat.
Die von Manon Aubry, der scheidenden Ko-Vorsitzenden der Linksfraktion im EP, angeführte Liste La France Insoumise (LFI) erhielt 9,9 Prozent und entsendet neun Abgeordnete; damit stellt sie künftig die größte Delegation in dieser Fraktion. Dies ist ein bedeutender Fortschritt gegenüber 2019, als Aubrys Liste enttäuschende 6,3 Prozent erzielte, auch wenn es im Vergleich zum LFI-Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl 2022, als Jean-Luc Mélenchon 22 Prozent der Stimmen erhielt, verblasst. Die Kommunistische Partei, die darauf bestand, mit einer eigenen Liste anzutreten, verharrte bei 2,5 Prozent und verpasste zum zweiten Mal in Folge den Einzug ins EU-Parlament.
Der Gesamtstimmenzahl der linken Parteien ist leicht gestiegen. Während der Zuwachs für die Écologistes und die Sozialisten, also die Mitte-Links-Parteien des Bündnisses, eher gering ausfiel (300.000 Stimmen, wobei die Sozialisten den Écologistes einen Großteil ihrer Stimmen von 2019 abnahmen), haben die radikale Linke und die LFI rund eine Million Stimmen hinzugewonnen. Dies bestätigt den Vormarsch von La France Insoumise in Frankreich, der durch das sehr gute Ergebnis für Aubrys Liste in vielen städtischen Arbeitervierteln unterstrichen wird.
Macrons Schachzug
Präsident Macrons Entscheidung zur Auflösung des Parlaments fällt in eine Zeit, in der der bürgerliche Block stark geschwächt ist und die nationalistische und rassistische Rechte einen neuen Höhepunkt erreicht hat.
Nachdem er in der Nacht zum 9. Juni die Auflösung der französischen Nationalversammlung und die Durchführung vorgezogener Neuwahlen innerhalb von 20 Tagen angekündigt hatte, gab Macron selbst eine wichtige Erklärung ab, die die wahre Strategie hinter diesem überraschenden Schritt enthüllte – nämlich die radikale Linke, insbesondere La Francise insoumise, zu isolieren und den Rest der linken Mitte in seinen Bann zu ziehen.
Macron kündigte an, dass die Renaissance keine Kandidat*innen in jenen Wahlkreisen aufstellen werde, in denen Parteien des sogenannten «republikanischen Bogens» amtieren. Für diejenigen, die die französische Politik aufmerksam verfolgen, war klar, dass er sich auf die systematische Kampagne bezog, die der Präsident und die Mehrheit der Medien geführt haben, um La France Insoumise als außerhalb der republikanischen Normen stehend zu charakterisieren. Diese verhängnisvolle Kampagne erreichte nach dem 7. Oktober einen neuen Höhepunkt, als die unerschütterliche Unterstützung der LFI für die palästinensische Sache als Vorwand genutzt wurde, um die Partei weiter zu dämonisieren.
Macron und ein Teil der herrschenden Klasse versuchen, RN und LFI als Teil desselben «extremen» Lagers darzustellen, um den Bruch zwischen der LFI und dem Rest des NUPES-Bündnisses auszunutzen. Es scheint, als hoffe Macron, Raphael Glucksmann und jenen Teil der Sozialisten anzusprechen, der ein Bündnis mit der LFI immer abgelehnt hat, um eine republikanische Front zwischen der republikanischen Rechten, dem bürgerlichen Block und der Sozialdemokratie zu schaffen und einen Sieg bei den Wahlen zu sichern.
Die «Neue Volksfront»
Macrons Hoffnungen, die Linke zu spalten, wurden jedoch rasch zunichtegemacht, als die vier Führungspersönlichkeiten der ehemaligen NUPES-Parteien ein Treffen organisierten, um eine gemeinsame Front gegen den Aufstieg der extremen Rechten zu bilden. Parallel zu dieser Dynamik innerhalb der ehemaligen Koalitionspartner füllten sich die Straßen Frankreichs mit Menschen, die gegen eine Machtübernahme der extremen Rechten und für die Neubildung eines Linksbündnisses demonstrierten.
Die Notwendigkeit eines solchen Bündnisses wurde noch dringlicher, als Marion Maréchal-Le Pen von der Reconquête (eine Nichte Marine Le Pens) mit der Position des Parteigründers Éric Zemmour brach und zu einem Bündnis der nationalistischen Rechten aufrief. Sie argumentierte, Reconquête solle keine Kandidat*innen gegen den RN aufstellen. Noch überraschender war der Fall der letzten institutionellen Mauer zwischen der traditionellen Rechten (Les Républicains, LR) und der extremen Rechten (RN) – als der LR-Vorsitzende Éric Ciotti ankündigte, sich im kommenden Wahlkampf mit Bardella und Le Pen zusammentun zu wollen, löste dies eine Krise innerhalb der LR aus, die zur Einberufung eines Notkongresses führte, um Ciotti seines Amtes zu entheben.
Die Bildung der Nouveau Front Populaire (NFP), der die vier großen Parteien zusammen mit der posttrotzkistischen Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) und einer Gruppe kleinerer linker Parteien angehören, wurde am 10. Juni offiziell bekannt gegeben. Die wichtigsten Gewerkschaften (CGT, CFDT, FSU und Solidaires) und zivilgesellschaftliche Organisationen aus der antirassistischen Bewegung, ATTAC, Greenpeace und andere schlossen sich rasch an. Die NFP-Vereinbarung enthielt eine – im Vergleich zur NUPES-Vereinbarung für die Parlamentswahl 2022 – geänderte Zuteilung der Kandidaturen. Die LFI wird diesmal in 229 statt in 328 Wahlkreisen und die Sozialistische Partei in 175 statt in 70 Wahlkreisen, die Grünen und die PCF erneut in 92 bzw. 50 Wahlkreisen antreten.
Die LFI ist die einzige linke Kraft im Lande, die in den letzten zehn Jahren beständige Fortschritte gemacht hat und auf eine breite Unterstützung in verschiedenen Teilen der französischen Bevölkerung zählen kann. Es liegt daher nahe, dass sie die führende Kraft innerhalb der Koalition bleiben wird.
Die Einzelheiten des Programms waren bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt, aber Vertreter*innen der NFP haben bereits angekündigt, dass es starke soziale Maßnahmen beinhalten wird. Dazu gehören die Aufhebung von Macrons jüngstem und weithin gescholtenem Rentengesetz sowie die sozial rückschrittliche Reform der Arbeitslosenversicherung. Auch die Aufhebung des von der Präsidentenmehrheit gemeinsam mit der extremen Rechten verabschiedeten Einwanderungspakts gehört dazu.
Es bleibt unklar, ob der rechte Flügel der Sozialisten um Raphael Glucksmann und dem was gemeinhin als Francois-Hollande-Tradition angesehen wird, die NFP unterstützen und ihr beitreten wird. Nach der Erklärung des früheren Präsidenten François Hollande, für die Volksfront zu kandidieren, ist dieses Vorhaben jedenfalls erheblich geschwächt.
Die Nachricht von der Bildung der Neuen Volksfront wurde von vielen Anhänger*innen der Linken mit Erleichterung und Hoffnung aufgenommen. Sie scheint eine Mobilisierungsdynamik ausgelöst zu haben, wie nicht nur auf den Straßen von Paris, sondern auch in den lokalen Wahlkreisen der verschiedenen Parteien zu sehen ist, die eine noch nie dagewesene Anzahl neuer Mitglieder verzeichnen konnten.
Wer im Falle eines NFP-Sieges tatsächlich französischer Ministerpräsident werden würde, ist noch nicht bekannt, aber es scheint eine Vereinbarung getroffen worden zu sein, dass die im Parlament am stärksten vertretene Fraktion, höchstwahrscheinlich La France Insoumise, einen Kandidaten bzw. eine Kandidatin vorschlagen wird, der bzw. die mit den übrigen Mitgliedern der Volksfront diskutiert werden soll. Dies unterstreicht die Tatsache, dass die LFI die einzige linke Kraft im Lande ist, die in den letzten zehn Jahren beständige Fortschritte gemacht hat und auf eine breite Unterstützung in verschiedenen Teilen der französischen Bevölkerung zählen kann. Es liegt daher nahe, dass sie die führende Kraft innerhalb der Koalition bleiben wird.
Obwohl die jüngsten Umfragen auf einen großen Vorsprung der extremen Rechten nach der Wahl hindeuten, bleibt abzuwarten, ob eine durch den Enthusiasmus einer verjüngten Linksfront angetriebene Kampagne gegen die Machtübernahme ausreichen wird, um Nichtwähler*innen und einige verbliebene Macron-Anhänger*innen dazu zu bewegen, am 30. Juni die «Neue Volksfront» zu unterstützen. Die Aussichten für die Zukunft der NFP und ihre mögliche Konsolidierung zu einer dauerhaften Einheitsfront dürfte sich nach der Stichwahl am 7. Juli klären – nachdem die Wähler*innen entschieden haben, ob eine antifaschistische Widerstandsfront oder eine potenziell faschistische Kraft die Macht übernehmen wird.