Müsste der 100. Geburtstag von James Baldwin am 2. August den großen Kulturinstitutionen in den USA nicht eigentlich Anlass sein für Feiern und Veranstaltungen, um einen der berühmtesten öffentlichen Intellektuellen in der Geschichte des Landes zu ehen?
Von Berlin aus verfolge ich zwar nicht im Einzelnen, wie die US-amerikanische Öffentlichkeit James Baldwins 100. Geburtstag begeht, aber von ein paar Veranstaltungen weiß ich schon – zum Beispiel an der New York Public Library, vor allem am Schomburg Center for Research in Black Culture. Das ist der Ort, wo große Teile von James Baldwins Nachlass liegen – ganz in der Nähe des Harlem Hospitals, wo er 1924 geboren wurde.
René Aguigah, Ressortleiter Literatur beim Deutschlandfunk, hat im Juli eine Biografie James Baldwins veröffentlicht. Max Böhnel arbeitet als freier Journalist in New York.
Ich bin allerdings nicht sicher, ob Baldwin sich wünschen würde, repräsentativ geehrt zu werden. Zumindest das monumentale Grab für Martin Luther King jr., das nach dessen Ermordung in Atlanta errichtet wurde, war für Baldwin, als er es 1980 besuchte, Anlass für die Einschätzung, dass eine solche steinerne Gedenkanlage ein Mittel sei, um das leidenschaftliche Leben eines Mannes, der radikale Veränderung wollte, für die Nachgeborenen nutzlos zu machen. Das Gleiche dachte er über all die nach King benannten Straßen und Plätze. Vermutlich hat er Ähnliches über den Martin Luther King Day gedacht, den der US-Kongress, gegen den Widerstand des konservativen Präsidenten Ronald Reagan, 1983 zum Nationalfeiertag gemacht hat.
In seiner eigenen Erinnerungsarbeit, in seinen späteren Texten, ging es Baldwin darum, das Umwälzende der Bürgerrechtsbewegung der 50er- und 60er-Jahre lebendig zu machen. Den Fortschritt, den die Liberalen in der Bürgerrechtsgesetzgebung von 1964/65 sahen, hielt er für einen Schein-Fortschritt. An der De-facto-Segregation habe sich kaum etwas geändert, auch wenn es ein paar mehr Schwarze Menschen etwa in der Politik gebe.
In Ihrem Buch gehen Sie James Baldwins Rolle als Aktivist in den USA nach, die er nach seiner Rückkehr aus dem lange dauernden französischen Exil einnahm. Was veranlasste ihn dazu?
Auf diese Frage gibt Baldwin in seinem Erinnerungsbuch «No Name in the Street» («Kein Name bleibt ihm weit und breit») von 1972 eine konkrete Antwort: Er habe während des Kongresses Schwarzer Schriftsteller und Künstler in Paris 1956 in einer Zeitung das Bild der jugendlichen Dorothy Counts gesehen: wie sie sich als erste Schwarze Schülerin an der zuvor segregierten High School in Charlotte, North Carolina, den Weg durch einen Mob aufgestachelter Rassisten bahnte. Da habe er beschlossen, in die USA zurückzukehren und seinen Beitrag in der Bewegung zu leisten. Nur: Der rassistische Protest vor der Schule in Charlotte trug sich tatsächlich erst ein Jahr später zu, 1957. Baldwins Erinnerung legt eine Verbindung, die es im echten Leben nicht gegeben haben kann.
An der grundsätzlichen Aussage ändert das allerdings nichts: Er wollte jener Bewegung zur Seite stehen, die er die «jüngste Sklavenrebellion» nannte. Und das tat er – indem er engagierte, reflektierende Essays über die Proteste und Porträts über die Protestierenden schrieb, aber auch, indem erst selbst Reden hielt oder beim Kampf für die Wählerregistrierung in den Südstaaten mitmachte. Auf eine Weise war er perfekt vorbereitet: Seit seinen Anfängen als Autor in den späten 40er-Jahren hat er nicht zuletzt über die Bedingungen Schwarzen Lebens in den Vereinigten Staaten gelesen, nachgedacht und geschrieben. Seine erste Sammlung von Essays erschien 1955 unter dem Titel «Notes of a Native Son» («Von einem Sohn dieses Landes») – im selben Jahr, als Rosa Parks in Montgomery, Alabama, sich weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Passagier aufzugeben. Wenn der Busboykott zu den prominenten Anfängen der Bewegung zählt, könnte man in «Notes of a Native Son» einen der verborgenen Anfänge sehen.
Wie wurden Baldwins erste Romane und Essays, die er ja quasi mit dem Fernglas mit Blick auf seine Heimat schrieb, in den USA selbst rezipiert?
Das Fernglas ist ein hübsches Bild, denn Baldwin war auch nach seiner ersten Zeit in Paris, ab 1948, und nach seiner Rückkehr in die Staaten, 1957, viel unterwegs – in Istanbul, San Francisco, London, St. Paul de Vence in Südfrankreich… Aber immer wieder auch in New York, irgendwann eben, wie er sagte, als transatlantischer Pendler. Sein erster Roman, «Go Tell It on the Mountain» («Von dieser Welt») von 1953, etabliert ihn als ernstzunehmende literarische Stimme, die vom Aufwachsen in Harlem erzählt und von den Folgen der Flucht der Afroamerikaner aus dem Süden in die Städte des Nordens. Zusammen mit «Notes of a Native Son» wird aus Baldwin ein Autor, dessen Bücher von einem Schwarzen Publikum verschlungen werden, weil es sich darin erkennt, wie beispielsweise der Kulturwissenschaftler Henry Louis Gates jr. später berichtete.
Aber dabei bleibt es nicht. «Giovannis Zimmer» erzählt von der unglücklichen Liebe zwischen zwei weißen Männern, «Ein anderes Land» vom Lieben, Kämpfen und Überleben von miteinander verbundenen Weißen und Schwarzen, und dieser Roman wird zum Bestseller, also zum Erfolg beim eben nicht zuletzt weißen Mainstream-Publikum – ein Publikum auf beiden Seiten der «color line». Das gilt erst recht für «The Fire Next Time» («Nach der Flut das Feuer»), seinen Rundumschlag zur Lage der African Americans von 1963.
Eine linke Sicht auf Baldwin als politisch engagiertem Autor besagt, er habe sich Ende der 1960er-Jahre weiterentwickelt, hin zu einem Sympathisanten militanter Schwarzer Selbstorganisation. Wo ist er mit Blick auf seine Aktivitäten zwischen Martin Luther King und dem radikalen Malcolm X zu verorten?
Ja, James Baldwin sympathisierte Ende der 60er-Jahre mit der Black Panther Party und auch beispielsweise mit Stokely Carmichael, dem Katalysator von «Black Power». Die Beziehung zu dieser jüngeren Generation der Protestierenden war allerdings kompliziert: Zum einen haben sich die Jüngeren für Baldwin, den Veteranen, kaum mehr interessiert, er schien ihnen, trotz seiner Sympathiebekundungen, zu moderat. Zum anderen lässt sich Baldwin nicht auf ein detailliertes politisches Programm festlegen. In seinem Roman «Tell Me How Long the Train’s Been Gone» («Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort») von 1968 ist es nicht der junge Militante, der das letzte Wort hat, sondern der Schwarze Künstler.
Am besten lässt sich Baldwin politisch wohl tatsächlich zwischen Martin Luther King und Malcolm X verorten: In seinen Augen ist King radikaler als das heutige Klischee vom Friedensnobelpreisträger; und Malcolm X ist weniger feindselig als das Klischee vom Hassprediger. «Martin und Malcolm», wie Baldwin sie nennt, haben vor allem Gemeinsamkeiten. Entscheidend war: Beide standen rückhaltlos für die Befreiung der Afroamerikaner ein, beide bekämpften unerträgliche Lebensbedingungen. Nachdem auch King 1968 erschossen wurde, blieb Baldwin auf der Suche nach Kräften, die die radikale Arbeit der beiden fortsetzen würden.
Wie ist James Baldwin als Autor zwischen «Martin und Malcolm» zu verorten?
Auch politisch motivierte Lektüren von Baldwin sollten nicht übersehen, dass er sich selbst vor allem als literarischer Autor sah, als Künstler, als «poet». Er hielt sich selbst nicht für einen Wortführer wie King oder Malcolm X. Für ihn hieß das durchaus: ein Maximum an Empfindlichkeit für die Ungerechtigkeiten des Lebens in einer Gesellschaft wie der US-amerikanischen, für Armut ebenso wie für Rassismus oder für die Feindseligkeiten gegen nicht heterosexuelle Orientierungen.
Dabei hat sein literarisches Ideal nichts mit Propaganda oder Protestliteratur zu tun, für politisch allzu eindeutig verwertbare Literatur kritisierte er schon als junger Autor den älteren Richard Wright. Was Baldwin vielmehr vorschwebte, war, wie er es nannte, realistisches Erzählen: wie es ist, in einer strenggläubigen Schwarzen Kirche aufzuwachsen, wie es ist, als Schwarze Frau das eigene Leben in die Hand zu nehmen, wie es ist, sich als Schwarzer Teenager in einen Jungen zu verlieben. Eine Blaupause für politisches Handeln hatte er nicht. Das war die Zuständigkeit von – sein Wort – «the people».
Weshalb sank das Interesse an ihm in den 1970er-Jahren?
Es gab eine Reihe von Gründen, die zusammenkamen: Manche aus der jüngeren Protestgeneration hielten ihn für einen Mann des Establishments. Einzelne, wie Eldridge Cleaver von der Black Panther Party, hielten ihn, auf homophobe Weise übrigens, für zu konziliant den Weißen gegenüber. Und Baldwin selbst wiederum war nach dem Tod Martin Luther Kings nicht nur eine Zeit lang am Boden zerstört, sondern er konzentrierte sich vor allem darauf, in seinem Haus in Südfrankreich die Erinnerung an die Bürgerrechtsbewegung mit literarischen Mitteln festzuhalten – auf seine Art, den Blues zu singen.
Worauf ist zurückzuführen, dass das Interesse an Baldwin in den Amtsjahren des ersten Schwarzen Präsidenten, Barack Obama, doch eher dürftig ausfiel, während er mit den Protesten gegen Polizeigewalt und Rassismus von der Black-Lives-Matter-Bewegung posthum zur Ikone wurde?
Ganz direkt hängt eine Konjunktur wie die von James Baldwin nicht an der Amtsperiode von Präsidenten. Vielleicht dauerte es nach der ersten Wahl Obamas einen Moment, bis man verstanden hatte, dass ein Schwarzer Präsident nicht das Ende von White Supremacy bedeutet. Man kann wohl sagen: Raoul Pecks Dokumentarfilm «I Am Not Your Negro» hat zum neuen Interesse an Baldwin beigetragen, und einige Autorinnen und Autoren aus dem Umfeld von Black Lives Matter auch. Pecks Film zeigt 2016 Demonstrationen und Polizeigewalt von 2014 – da war Michael Brown in Ferguson, Missouri, erschossen worden – und bringt diese Bilder mit James Baldwins Reden zusammen. Baldwin ist unser Zeitgenosse, sagt der Film. Und insbesondere beim Thema Polizei ist die Gegenwärtigkeit Baldwins einfach zu sehen: Erfahrungsgesättigte Polizeikritik findet sich bei Baldwin vom einen bis zum anderen Ende seines Werks.
Wie ist der Titel Ihrer im Juli im Verlag C.H. Beck erschienenen Biografie «Der Zeuge» zu verstehen – als Gegensatz zu Baldwin, dem Autor und Aktivisten?
Der Zeuge ist kein Gegensatz zu den Rollen als Autor und als Aktivist – eher die Schnittmenge. Baldwin nennt sich selbst einen Zeugen des jüngsten Sklavenaufstands. Damit macht er aus sich einen Autor, der nicht Kunst um der Kunst willen versucht, sondern sich auf die Welt bezieht. Und aus dem Aktivisten macht er einen teilnehmenden Beobachter, der der Nachwelt überliefert, was er in seiner Zeit der Gewalt gesehen hat. «Zeugnis ablegen»: So lädt Baldwin seine Arbeit mit juristischen, historischen, ja, religiösen Assoziationen auf. Und zugleich deutet er ihre Grenzen an: Ein Zeuge ist unverzichtbar – und zugleich fehlbar. Manchmal kann die klarste Erinnerung täuschen.