Kommentar | Wirtschafts- / Sozialpolitik Schuldenbremse – Schrumpfender Handlungsspielraum

Benjamin-Immanuel Hoff: Warum die Reform der Schuldenbremse im Grundgesetz längst keine Frage mehr des Ob, sondern ausschließlich des Wie ist

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Benjamin-Immanuel Hoff Foto: IMAGO / epd

Dass die drei einflussreichen Gruppen Seeheimer Kreis, Parlamentarische Linke und Netzwerk Berlin in der SPD-Bundestagsfraktion ein gemeinsames Positionspapier veröffentlichen, hat äußersten Seltenheitswert. Umso bedeutsamer erschien es, als sie im Juni dieses Jahres Bundeskanzler Olaf Scholz aufforderten, die Haushaltsnotlage zu erklären, um auch bei der Aufstellung des Jahreshaushalts 2025 von den verfassungsrechtlichen Möglichkeiten der Kreditaufnahme Gebrauch machen zu können: „Das Dogma der schwarzen Null bedeutet Stillstand und wirtschaftliche Unvernunft. Angesichts der außergewöhnlichen Notsituation in der Ukraine und den deutschen Flutgebieten sollten wir auch in diesem Jahr die Ausnahmeregelung der Schuldenbremse nutzen.“ (Reuters, 24.6.2024)

Letztlich nützte auch diese Intervention nichts. Weder verständigte sich die Ampel-Koalition im Koalitionsausschuss der ersten Juliwoche auf eine erneute Erklärung der Haushaltsnotlage für 2024, um Spielräume für den diesjährigen Nachtragshaushalt zu eröffnen, noch ist eine grundsätzliche Wende in der künftigen Fiskalpolitik vorgesehen. Stattdessen geht der Dauerstreit der Ampel-Koalition auch auf diesem Feld weiter.

Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Rolf Mützenich betonte am Tag der Grundsatzeinigung auf den Haushaltsentwurf 2025, „dass eine Menge Kunstgriffe nötig gewesen seien, um von einer Lücke von 40 Milliarden Euro auf zehn Milliarden zu kommen, die jetzt offensichtlich so auskömmlich ist, dass man ohne den Überschreitungsbeschluss wird arbeiten können.“ Er fügte hinzu, dass man über die Notlage erneut diskutieren müsse, wenn sich herausstelle, dass diese Annahmen nicht untersetzt seien (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2024).

Benjamin-Immanuel Hoff ist Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten in Thüringen sowie Chef der Thüringer Staatskanzlei. Er gibt in diesem Beitrag seine eigene Meinung wieder.

Der FDP-Bundesfinanzminister Christian Lindner wiederum konterte in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) mit der ebenso falschen wie staatspolitisch dreisten Behauptung: „Man kann aber die Demokratie nicht verteidigen, indem man dauernd die Verfassung infrage stellt.“ Gerade in einer Demokratie ist die Möglichkeit zur Änderung der Verfassung ein zentraler Bestandteil des politischen Prozesses. Verfassungen sind keine statischen Dokumente, sondern sollen sich an veränderte gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen anpassen können. Die gesellschaftliche Diskussion über ggf. nötige Verfassungsänderungen ermöglicht die diskursive Mitbestimmung über zentrale Fragen der Staatsgestaltung und Finanzpolitik. Dies schwächt die Demokratie also nicht, im Gegenteil, es stärkt sie.

Entbrannt ist die grundsätzliche Debatte um die Reform der Schuldenbremse einerseits und die kurzfristige Bereitstellung notwendiger finanzieller Mittel andererseits, die wissenschaftlich-publizistisch seit Jahren geführt wird, erneut, seit das Bundesverfassungsgericht mit Entscheidung vom 15. November 2023 (2 BvF 1/22) der finanzpolitischen Strategie der Ampel die Grundlagen entzogen hat. Zur Erinnerung: Die Ampel-Koalition beabsichtigte ursprünglich, Kredite in Höhe von 60 Milliarden Euro aufzunehmen, um damit Maßnahmen zur Umsetzung der Klimaziele und klimagerechten Transformation zu finanzieren. Dazu sollte ein spezieller Fonds aufgelegt werden. Da aus Sicht der Verfassungsrichter*innen mit dem Klima- und Transformationsfonds die Schuldenbremse umgangen würde, erklärten sie das Vorhaben für nicht verfassungskonform.

Zutreffend weist Michael Hüther, Direktor des Instituts der Wirtschaft in Köln, darauf hin, dass „wohl kaum eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so dramatische Auswirkungen auf die Tagespolitik hatte“ wie das Urteil vom 15. November 2023. Annulliert wurde nicht nur das Herzstück der Ampel, der Klima- und Transformationsfonds (KTF), auch die verfassungskonforme Ausgestaltung der Bundeshaushalte für die Jahre 2024 und 2025 steht seither vor enormen Schwierigkeiten. Die Deckungslücke beim Haushalt 2025 zu schließen, indem eine außergewöhnliche Notsituation gemäß Art. 115 GG, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt, festzustellen, mag kurzfristig greifen und insofern hilfreich sein. Eine grundsätzliche Lösung bietet sie aber nicht. Dafür wäre ein fiskalpolitischer Kurswechsel erforderlich. Diesen lehnt der FDP-Parteivorsitzende Lindner aus ideologischen Gründen und gegen immer lauter werdenden wirtschaftswissenschaftlichen Rat ab. Nachdem er entsprechende Forderungen lange Zeit ignoriert hatte, drehte er – nachdem der Druck immer stärker wurde – mehr oder weniger homöopathisch an Stellschrauben der Haushaltstechnik. Kurzum: Die Reform der Schuldenbremse ist überfällig.

Kaum Handlungsspielraum

Unumstritten war die Schuldenbremse nie. Auf der linken und gewerkschaftlichen Seite wurde das Instrument stets als ökonomisch unvernünftig kritisiert und grundsätzlich infrage gestellt. Wirtschaftsliberalen Falken hingegen galt das Instrument als einziger Weg, um die gefürchtete Verschuldungsfalle zu vermeiden. Während auf Bundesebene immerhin noch ein begrenzter Verschuldungsspielraum von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts besteht, der unter bestimmten Voraussetzungen genutzt werden kann, verordneten sich die Länder eine vollständige Sperre jeglicher Kreditaufnahme (vgl. kritisch: Kirchgässner 2014, affirmativ: Karl-Bräuer-Institut 2010). Ihr Handlungsspielraum schrumpfte faktisch auf null, auch wenn in der Pandemie die Länder entsprechende kreditfinanzierte Sondervermögen schufen.

Fünfzehn Jahre später vertreten relevante Akteur*innen innerhalb der Wissenschaft und auch im politischen Spektrum eine aufgeklärtere Haltung gegenüber der Schuldenbremse (vgl. Beznoska et al. 2024; Bardt et al. 2019). Einwänden dagegen, wie sie Lars P. Feld etwa jüngst in der Studie „Die Schuldenbremse. Ein Garant für nachhaltige Haushaltspolitik“ für die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung erhob, ist bereits sowohl in methodischer Hinsicht als auch grundsätzlich widersprochen worden (vgl. z. B. Mühlenweg et al. 2024).

Grundsätzlich wird akzeptiert, dass verfassungsrechtliche Verschuldungsgrenzen formuliert werden, da diese zu einer rationalen und stabilen Fiskalpolitik beitragen. Gleichzeitig wird die konkrete Ausgestaltung der Regelungen in Art. 109 GG und insbesondere in Art. 115 GG als unzureichend kritisiert. Eine Reform sowohl im Verfassungstext als auch davon abgeleitet in der einfachgesetzlichen Umsetzung sowie der betreffenden Verordnung ist nötig. Hierzu wurden zwischenzeitlich verschiedene Vorschläge unterbreitet.

Vorschläge der Wirtschaftsweisen

Der Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) sprach in einem Policy Brief vom Januar 2024 die Empfehlung aus, die Schuldenbremse im Grundgesetz anzupassen. Er führt in seiner Begründung an, dass sie „in ihrer aktuellen Ausgestaltung […] starrer [ist], als es zur Aufrechterhaltung der Schuldentragfähigkeit notwendig ist. Sie beschränkt die fiskalischen Spielräume für zukunftsgerichtete Ausgaben unnötig stark.“

Eine pragmatische Reform könne die Flexibilität der Fiskalpolitik erhöhen, ohne die Stabilität zu gefährden. Hierzu identifiziert der Sachverständigenrat kurz gefasst folgende Handlungsoptionen:

  1. Eingeführt werden soll eine Übergangsphase in den Jahren unmittelbar nach einer Anwendung der Ausnahmeklausel der Schuldenbremse.
  2. Die Regelgrenze für das strukturelle Defizit ist bei niedrigen Schuldenstandsquoten zu erhöhen.
  3. Durch methodische Verbesserungen der Schätzung des Produktionspotenzials soll die Konjunkturbereinigung weniger revisionsanfällig ausgestaltet werden.

Dezernat Zukunft und die Reform der Konjunkturkomponente

Mit der Reform der Konjunkturkomponente befasste sich bereits 2021 das Dezernat Zukunft – Institut für Makrofinanzen. Florian Schuster, Max Krahé und Philippa Sigl-Glöckner erarbeiteten einen Reformvorschlag, da die Konjunkturkomponente in der gegenwärtigen Ausgestaltung gerade nicht dem Auftrag gerecht wird, eine konjunkturgerechte Fiskalpolitik zu ermöglichen. Vier Schwierigkeiten benennen die Autor*innen:

  1. Da die Schätzmethoden für das zu ermittelnde (hypothetische) Produktionspotenzial wissenschaftlich nicht mehr zeitgemäß sind, kann die Konjunkturkomponente nicht adäquat ermittelt werden. Um dies zu überwinden, werden drei Inputfaktoren im Zusammenhang mit der Bestimmung des Arbeitsvolumens vorgeschlagen.
  2. Die Umsetzung der Details von Art. 115 GG obliegt sowohl dem Gesetzgeber mit dem Art.-115-Gesetz als auch dem Verordnungsgeber, also der Exekutive. Durch zu wenig spezifische Festlegungen im Gesetz bzw. in der Verordnung und „durch die Auswahl bestimmter statistischer Parameter können die Technokraten, die die Berechnungen in der Praxis ausführen, das erlaubte Defizit um Milliarden vergrößern oder verkleinern. Am Ende entscheiden also Ungewählte über die Höhe der zulässigen Neuverschuldung. Das ist problematisch in einer parlamentarischen Demokratie, in der das Haushaltsrecht beim Bundestag liegt.“
  3. Die gegenwärtige Ausgestaltung der Konjunkturkomponente ist prozyklisch ausgelegt, was bedeutet, dass „in Abschwüngen gespart und in Aufschwüngen die Wirtschaft angeheizt wird. Damit konterkariert sie die Intention des Gesetzgebers, ein prozyklisches Verhalten zu vermeiden.“
  4. Die Bundesrepublik geht mit ihren Regelungen über die Notwendigkeiten europäischer Fiskalpolitik hinaus.

In einem Rechtsgutachten ließ das Dezernat Zukunft den verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Rahmen einer „Reform der Konjunkturkomponente der Schuldenbremse“ prüfen. Danach ergeben sich durchaus Spielräume für die Ausgestaltung der Konjunkturkomponente. Diese betreffen insbesondere die Festlegung der „Normallage“, zu deren Bestimmung hypothetische, aber nicht unrealistische Annahmen getroffen werden müssten. Aus der Normallage dürfe nicht im Rahmen der Ausgestaltung oder Anwendung der Konjunkturkomponente eine „Ideallage“ gemacht werden. Zudem seien auch die Verschuldungsspielräume limitiert. Der von Schuster et al. erarbeitete Vorschlag ist im Rahmen der gegenwärtigen Rechtslage umsetzbar.

Verfassungsrechtliche Bedenken äußert das Gutachten hingegen daran, dass der parlamentarische Gesetzgeber die ihm nach Art. 115 Abs. 4 GG übertragene Aufgabe, die Konjunkturkomponente des Grundgesetzes, an den Verordnungsgeber weiterdelegiert: „Die in die Bestimmung der Normallage einzustellenden Wertungen stellen wesentliche, vom parlamentarischen Gesetzgeber selbst zu treffende Entscheidungen dar. Nach der bisherigen Rechtslage erfolgt eine genaue Festlegung nicht einmal auf der Ebene der Rechtsverordnung“, konstatieren die Rechtswissenschaftler Korioth und Müller (2021).

Auch der Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien sah eine Evaluation und ggf. Modifikation der Konjunkturbereinigung vor. Im Rahmen eines vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz initiierten Beteiligungsprozesses wurden sieben Vorschläge, darunter auch derjenige des Dezernat Zukunft, eingebracht, die vom Kieler Institut für Weltwirtschaft im Herbst 2023 zusammenfassend bewertet wurden. Die Autoren Jens Boysen-Hogrefe und Timo Hoffmann kommen zu dem Ergebnis, „dass sich keins der untersuchten Verfahren entlang der aller zugrunde gelegten Kriterien als überlegen erweist“. In der Konsequenz bedeute dies nicht, dass eine Anpassung der Konjunkturkomponente hinfällig sei, sondern es sei letztlich „Aufgabe der Regierung und des Gesetzgebers, im Rahmen der grundgesetzlichen Möglichkeiten zu entscheiden, welche der Kriterien und Aspekte besonders stark zu gewichten sind, um sich für oder gegen ein Konjunkturbereinigungsverfahren zu entscheiden. Daher bietet dieses Gutachten für sich genommen keine Antwort auf die Frage, welches Verfahren vorzuziehen ist.“

Vorschläge des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz

Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) unterbreitete in seinem im Dezember 2023 vorgelegten Gutachten „Finanzierung von Staatsaufgaben: Herausforderungen und Empfehlungen für eine nachhaltige Finanzpolitik“ zwei grundsätzliche Empfehlungen zur Finanzierung öffentlicher Haushalte:

Erstens sollte die Bundesregierung eine über die mittelfristige hinausgehende Finanzplanung entwickeln, die den Zeitraum der zwei folgenden Legislaturperioden umfasst. Dies sei notwendig, um eine nachhaltige Finanzierung von staatlichen Daueraufgaben zu gewährleisten. Regelmäßig wiederkehrende Aufgaben des Staates sind durch Steuern zu finanzieren. Dazu muss die Politik entscheiden, welche Aufgaben Daueraufgaben sind und welche nicht, so beispielsweise im Zusammenhang mit Ausgaben für die Landesverteidigung.

Zweitens können Sondervermögen in eng begrenzten Fällen ein sinnvolles Instrument der Wirtschafts- und Finanzpolitik sein. Die gelebte Praxis der vergangenen Jahre macht jedoch die Finanzpolitik intransparent und führt indirekt zu einer Aushebelung der Schuldenbremse und zu einer Verlagerung der Probleme in zukünftige Legislaturperioden. Diese Praxis sollte deshalb aufgegeben und stattdessen sollten Aufgaben und Ausgaben in den Kernhaushalt zurückgeführt werden.

Auch der Wissenschaftliche Beirat beim BMWK hält eine Schuldenbremse grundsätzlich für sinnvoll und notwendig, um der Kurzfristorientierung der Politik entgegenzuwirken, insbesondere der Tendenz, die Kosten heutiger Staatsausgaben auf zukünftige Generationen zu verlagern. Er weist zugleich daraufhin, dass diese „Kurzfristorientierung […] es aber auch attraktiver macht, staatliche Konsumausgaben zu Lasten staatlicher Investitionen zu tätigen“.

Vor diesem Hintergrund erachtet der Beirat beim BMWK eine Reform der Schuldenbremse für sinnvoll und unterbreitet dazu zwei Vorschläge:

  1. Die Schuldenbremse sollte zu einer „Goldenen Regel Plus“ weiterentwickelt werden. „Danach würden öffentliche Nettoinvestitionen, die schuldenfinanziert sind, nicht auf die maximale Nettokreditaufnahme der Schuldenbremse angerechnet, wenn deren investiver Charakter durch eine unabhängige Institution bestätigt wird. Zudem sollte der Gefahr der Auslösung oder Verstärkung eines inflationären Prozesses Rechnung getragen werden.
  2. Der Beirat schlägt „die Einrichtung von Investitionsfördergesellschaften vor, die bindende vertragliche oder gesetzliche Ansprüche auf gleichbleibende Mittelzuweisungen über einen mehrjährigen Zeitraum haben, um damit eine Verstetigung der Investitionen in öffentlichen Haushalten zu garantieren“.

Wie eine Schuldenbremse 2.0 praktisch aussehen könnte, skizzierten zuletzt Beznoska et al. in einem Policy Paper des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), das im Juni 2024 erschien. Betrachtet werden drei Reformoptionen: 1) Nettoinvestitionsregel, 2) „atmende Schuldenregel“ mit Stabilisierungsterm, 3) Ausgabenregel, die, so die Autoren, Vor- und Nachteile aufweisen, „da sie – genau wie die aktuelle Regel – bestenfalls Second-Best-Lösungen darstellen und es den ‚Königsweg‘ nicht gibt. First-best wäre eine Politik, die ohne eine starre Restriktion verantwortungsvoll und nachhaltig im Sinne der Volkswirtschaft und der Generationen, nicht im Sinne der Maximierung von Wählerstimmen, mit den öffentlichen Finanzen umgeht.“

Was fehlt sind konkrete Vorschläge für eine Verfassungsänderung

Sollen die hier vorgestellten unterschiedlichen Vorschläge praktische Relevanz entfalten, müssen sie – sofern ihre Umsetzung eine Änderung des Grundgesetzes voraussetzt – in den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes überführt werden. Bedauerlicherweise verzichteten die Autor*innen der vorgestellten Reformoptionen bislang darauf, die eigenen fiskalpolitischen Überlegungen in einen adäquaten Legislativvorschlag übersetzen zu lassen.

Ein im Auftrag des Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Die Linke) erarbeiteter Entschließungsantrag für den Bundesrat sollte die Bundesregierung deshalb auffordern, eine konkrete Änderung von Art. 109 und 115 GG vorzulegen. Dieser vom grünen Koalitionspartner unterstützte Vorstoß wurde zwar vom sozialdemokratisch geführten Finanzministerium toleriert, scheiterte aber am Veto von Georg Maier (SPD), dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Thüringens. Sein inhaltlich nachvollziehbarer, aber politisch dennoch kurzsichtiger Einwand: Aufgrund der Blockadehaltung der FDP sei ein entsprechender Vorschlag der Bundesregierung nicht zu erwarten. Die Initiative wurde deshalb bislang nicht in den Bundesrat eingebracht. Damit wird unterlassen, die ökonomisch klug begründeten Vorschläge zur Reform der Schuldenbremse in Art. 109 in Verbindung mit Art. 115 GG in einen vom Gesetzgeber zu behandelnden Legislativvorschlag zu übersetzen, der zugleich auch die abgeleiteten einfachgesetzlichen und Verordnungsregelungen anpasst. Entscheidender noch aus Sicht der Länder: Nur durch eine grundgesetzliche Korrektur wäre es möglich, den Ländern zumindest vergleichbar zum Bund einen akzeptablen Spielraum zu verschaffen, kreditfinanzierte Zukunftsinvestitionen zu tätigen. Wie notwendig dies ist, unterstreichen weitere jüngst veröffentlichte Studien bzw. Positionspapiere.

Nachholender Modernisierungsbedarf in Milliardenhöhe

Dass lange Zeit als antagonistisch angesehene Wirtschaftsforschungsinstitute – das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW Köln) und das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung – sowohl in der Bewertung der strukturellen Schwäche der geltenden Schuldenbremse als auch der Tragfähigkeit einer moderat höheren Staatsverschuldung übereinstimmen, ist nicht neu. Das beweisen bereits gemeinsame Publikationen von Autor*innen beider Institute (vgl. Bardt et al. 2019; Dullien et al. 2020). In dem im IMK erschienen Policy Brief vom Mai 2024 ermittelten sie die Investitionsbedarfe in der Infrastruktur und für die Transformation, die sie auf rund 596 Milliarden Euro taxieren (vgl. Tab. 1).

Tab. 1: Öffentliche Investitionsbedarfe in Deutschland

Maßnahme

Bedarf

Infrastruktur auf kommunaler Ebene

Kommunale Infrastruktur

Ausbau des ÖPNV

 

177,2

28,5

Bildung

Ausbau von Ganztagsschulen

Sanierungsbedarf der Hochschulen

 

6,7

34,7

Wohnungsbau

Staatlicher Anteil

 

36,8

Überregionale Infrastruktur

Ausbau des Schienennetzes

Bundesfernstraßen

 

59,5

39,0

Klimaschutz und Klimaanpassung

Dekarbonisierung (staatlicher Anteil)

Kommunale Ausgaben für Klimaanpassung

 

200,0

13,2

Summe

595,7

Angaben in Mrd. EUR, über zehn Jahre, Preise des Jahres 2024                                 Quelle: Dullien et al. 2024

Noch vor fünf Jahren hatte eine zuvor vorgelegte umfassende Schätzung die nicht abgedeckten öffentlichen Investitionsbedarfe mit 460 Milliarden Euro für die kommenden zehn Jahre berechnet. Aufgrund von Inflation, demografischer Veränderung und Investitionsstau in Infrastruktur und sozial-ökologische Transformation sind die Kosten nun um 135 Milliarden Euro gestiegen. Diese notwendigen Staatsausgaben hätten also beträchtlich reduziert werden können, wenn den haushaltspolitischen Falken frühzeitiger die Flügel gestutzt worden wären. Zum Beispiel indem bereits die Große Koalition die Anregung für ein langfristiges Investitionsprogramm umfänglich, nicht halbherzig aufgegriffen hätte (vgl. Dullien 2020), um Investitionen in den Sektoren Gesundheit, Wohnen, erneuerbare Energien, emissionsarme Verkehrsinfrastruktur, digitale Infrastruktur und Bildung zusätzlich zu fördern.

Inzwischen fordert auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in einem Positionspapier eine nachholende Infrastrukturmodernisierung Deutschlandsmithilfe eines Sondervermögens. Ein solches verlangt auch Bodo Ramelow angesichts der massiven Probleme der Deutschen Bahn für die Erneuerung der Schieneninfrastruktur.

Fazit – Was wohl passieren wird und was notwendig wäre

Es gehört zu den Widersprüchen des gegenwärtigen politischen Diskurses, dass die FDP in der AmpelRegierung – mit Unterstützung der Unionsparteien – jegliche Reform der Schuldenbremse ausschließt. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass trotz der Dauerblockade der Unionsparteien im Falle einer Regierungsübernahme der CDU/CSU nach der Bundestagswahl die Schuldenbremse im Grundgesetz reformiert wird. Insbesondere die ostdeutschen CDU-Ministerpräsidenten und Berlins Regierender Bürgermeister fordern eine entsprechende Änderung bereits heute vehement.

Ausgehend vom unbefriedigenden Status quo orientieren sowohl Finanzwissenschaftler*innen als auch einzelne politische Akteur*innen darauf, parallel zu einer als unausweichlich angesehenen Verlängerung des Sondervermögens für die Bundeswehr ein oder mehrere weitere Sondervermögen nach dem BDI-Muster einzurichten. Dieser Gedanke ist insoweit charmant, als damit eine bereits viel zu lange blockierte Lösung für die notwendige Infrastrukturmodernisierung und Transformation, erreicht würde. Gleichzeitig blieben dadurch die Strukturprobleme der Schuldenbremse im Grundgesetz und deren Anpassungsnotwendigkeiten ebenso ungelöst wie die zwingend notwendige Lockerung des absoluten Verschuldungsverbots der Länder auf das Niveau des Bundes. Insofern gilt auch weiterhin: Das eine tun, ohne das andere zu lassen.

Selbst wenn es dazu kommen sollte, beispielsweise durch eine entsprechend fundierte Gesetzesinitiative aus dem Kreis der Länder im Bundesrat, die dann die Grundlage eines entsprechenden Beschlusses im Deutschen Bundestag darstellen würde, spricht gegenwärtig viel dafür, dass eine entsprechende Novelle zwar hilfreiche inkrementelle Anpassungen vornehmen, aber insgesamt zu bescheiden ausfallen wird. Vermutlich dürfte es sich um die Vorschläge des Sachverständigenrats und maßvolle Lockerungen bei den Fiskalregeln der Länder handeln.

Nötig wäre freilich die Rückkehr zur „Goldenen Regel“, besser noch die Einführung einer „Goldenen Regel Plus“, wie sie von Der Linken, insbesondere aber auch der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memorandumgruppe) gefordert wird. Doch auch Institutionen wie beispielsweise der Internationale Währungsfonds (IWF) mahnen seit geraumer Zeit, die Bundesrepublik solle ihre öffentlichen Investitionen deutlich erhöhen.

Während die „Goldene Regel“ der Finanzpolitik besagt, dass die Aufnahme von Krediten nur zur Finanzierung von Investitionen zulässig ist, weil Investitionen den Wert der öffentlichen Infrastruktur erhalten, einen langfristigen Nutzen bieten und somit auch intergenerational gerechtfertigt sind, geht die „Goldenen Regel Plus“ darüber hinaus. Neben der erlaubten Kreditaufnahme für Investitionen dürfen Kredite auch in bestimmten Ausnahmesituationen aufgenommen werden, die über die bloßen Investitionen hinausgehen. Diese Ausnahmen wären beispielsweise schwere Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen oder andere Notlagen, die eine kurzfristige Erhöhung der Staatsverschuldung rechtfertigen. Das Ziel ist es, dem Staat mehr Flexibilität zu geben, um auf außergewöhnliche Umstände reagieren zu können, während die langfristige Haushaltsdisziplin gewahrt bleibt.

Wenigstens ebenso lange wie über die Reform der deutschen Fiskalregeln wird auch über die nötige Erweiterung des Investitionsbegriffs debattiert. Umfasst der traditionelle Investitionsbegriff hauptsächlich physische Infrastruktur wie Straßen, Brücken und Gebäude, plädieren Befürworter*innen einer Erweiterung dafür, auch Ausgaben für Bildung, Forschung und Entwicklung, digitale Infrastruktur, Klimaschutzmaßnahmen und soziale Investitionen (wie in Gesundheit und Pflege) als Investitionen gelten zu lassen, da sie langfristig wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorteile bringen. Faktisch wenden bereits eine Reihe von Ländern einen erweiterten Investitionsbegriff an, indem sie entsprechende Investitions- und Förderprogramme auf den Weg brachten. Gleichzeitig sind die methodischen und Abgrenzungsschwierigkeiten nicht zu unterschätzen. Wird der Begriff zu weit gefasst, könnte grundsätzlich jede konsumtive Ausgabe als Investition ausgegeben werden, womit grundsätzlich sinnvolle Fiskalregeln jede Wirkung verlieren würden. Darüber hinaus ist die Bewertung von Investitionen in immaterielle Güter (z. B. Bildung, Gesundheit) mindestens komplex, da ihre langfristigen Erträge schwer quantifizierbar sind.

Dies wiederum macht zeitlich begrenzte Sondervermögen im Grundgesetz, wie sie vom BDI aber auch vom Beirat beim BMWK vorgeschlagen werden, insoweit attraktiv, als hier ein erweiterter Investitionsbegriff zugrunde gelegt werden kann, ohne ihn trotz der benannten Abgrenzungsschwierigkeiten quasi auf Dauer zu schalten. Für das eine wie das andere bräuchte es Mut, darunter den Mut, die Einnahmebasis des Staates durch eine gerechtere Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen zu verbessern. Dass eine große Mehrheit der Deutschen der Vermögensteuer aufgeschlossen gegenübersteht, ist seit Jahren bekannt (vgl. etwa Infratest dimap). Dies wäre sogar ohne Änderung des Grundgesetzes möglich, die politische Bereitschaft vorausgesetzt. Immerhin wird Zukunft bekanntlich aus Mut gemacht.

Literatur