Analyse | Brasilien / Paraguay - Sozialökologischer Umbau - Klimagerechtigkeit - Klimakrise in der Stadt «Es geht um den Überlebenskampf unserer Generation»

​​​​​​​Der brasilianische Abgeordnete Matheus Gomes über die Überschwemmungen im Süden Brasiliens, die Verantwortung der neoliberalen Politik und neue Strategien zur Bewältigung der Klimakrise und ihrer sozialen Folgen.

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Matheus Gomes,

Überschwemmte Straßen und Häuser
Vila dos Sargentos, in der Südzone der Gemeinde Porto Alegre, war bei den Überschwemmungen im Mai komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Die Bewohner waren auf die Unterstützung der brasilianischen Armee und den Einsatz von Fischern angewiesen, viele Häuser wurden durch die Flut komplett zertört. Foto: IMAGO / TheNews2

Von den Überschwemmungen in brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul im Mai 2024 waren mehr als 400 Gemeinden betroffen, rund 35.000 Menschen mussten in Notunterkünften untergebracht werden, 500.000 Menschen wurden umgesiedelt und es gab mehr als 170 Todesfälle. Der Abgeordnete Matheus Gomes (PSOL), Mitglied der Schwarzen Fraktion (Zusammenschluss antirassistischer Schwarzer Abgeordneter) in der Legislativversammlung des Bundesstaates, spricht im Interview mit Lucas Reinehr über die Auswirkungen der Überschwemmungen, den Zusammenhang mit der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte und über die Lösungsansätze der Linken zur Überwindung der Krise.

Matheus Gomes ist ein brasilianischer Abgeordnete der PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) in der Legislativversammlung von Rio Grande do Sul. Er ist Historiker und hat seinen Aktivismus in der Student*innenbewegung der Universidade Federal do Rio Grande do Sul begonnen. Er setzt sich für eine antirassistische und ökosozialistische Transformation in Rio Grande do Sul und Brasilien ein. Das Interview führte Lucas Reinehr.

Der Mai war ein Monat mit extremen Wetterereignissen, nicht nur in Rio Grande do Sul, sondern auch in anderen Regionen der Erde. In Kenia, Indonesien, Afghanistan und auch im Süden Deutschlands gab es starke Regenfälle, die zu Überschwemmungen führten. Wie hängt die Situation in Rio Grande do Sul mit der globalen Klimakrise und den Extremwetterereignissen in anderen Ländern zusammen?

Rio Grande do Sul befindet sich genau zwischen dem Amazonas und der Antarktis. Studien des IPCC (Weltklimarat, internationales Wissenschaftsgremium der UN zur Erforschung des Klimawandels) zufolge befinden wir uns in einer Region, in der zunehmend größere Niederschlagsmengen und außertropische Wirbelstürme auftreten werden. Diese waren vor einigen Jahrzehnten hier noch nicht sehr häufig. Gleichzeitig intensivieren sich Dürren und Trockenperioden. Rio Grande do Sul ist der Teil von Brasilien, auf den sich diese Ereignisse konzentrieren. Die intensiven Regenfälle, die zu den Überschwemmungen in diesem Jahr geführt haben, hängen mit dem Super-El-Niño-Phänomen zusammen.

Was wir hier in Rio Grande do Sul erleben, ist also das Produkt der Beschleunigung der globalen Erwärmung. Zu Beginn der Regenfälle, Ende April, strömten feuchte Luftmassen vom Meer her auf das Land, während im Südosten eine Hitzewelle herrschte, damit also ein starkes Hochdruckgebiet. Dieses verhinderte, dass die feuchten Luftmassen weiterziehen, aufsteigen und sich auflösen konnten. Alles war also hier konzentriert - das ist ein exemplarisches Ergebnis dieser Unordnung im Getriebe des Klimas, das die globale Erwärmung verursacht.

Ein anderes Problem ist die Art und Weise, wie der von anderen Industriestaaten abhängige Kapitalismus in Brasilien den Staat daran hindert, eine konsequente Politik zu entwickeln, um die Infrastruktur zu verändern, Wohnraum durch städtische Reformen aufzuwerten und wirklich wirksame Katastrophenschutzsysteme aufzubauen. All das wurde nicht getan. Die Situation bei uns ist ähnlich wie in anderen Ländern, in denen solche extremen Wettersituationen auftreten. Denn einerseits gibt es das Element der globalen Erwärmung und andererseits gibt es das menschliche Handeln – das ist es, was das Anthropozän kennzeichnet, unser gegenwärtiges Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist.  

Aber wir dürfen diese Katastrophen nicht normalisieren, denn sie treffen die Städte, die Orte, an denen sich die Menschen versammeln, unvorbereitet und ohne staatliche Unterstützung, um diese Situationen zu überstehen. Es ist offensichtlich, dass fehlendes politisches Handeln für das Ausmaß der Tragödie verantwortlich ist. In Rio Grande do Sul erleben wir bereits die vierte Überschwemmung innerhalb von acht Monaten. Seit der ersten wurde nichts unternommen. Genauso wenig wie in den letzten 20 Jahren, seit Wissenschaftler*innen begannen, Situationen wie diese vorhersagbar zu machen.

Denn diese Situation war absolut vorhersehbar. Und hier, im Fall von Porto Alegre und der umliegenden Metropolregion, hätten wir durchaus Mechanismen, um solche Katastrophen zu verhindern. Wir haben ein ganzes System zum Schutz vor Überschwemmungen, das vor 70 Jahren entwickelt wurde und das nun aufgrund mangelnder Wartung und Vernachlässigung nicht mehr in der Lage war, die Überschwemmungen zu verhindern oder abzumildern.

Die Art und Weise, wie der Neoliberalismus sich den Staat angeeignet hat, durch nicht getätigte Investitionen und durch die Privatisierung strategischer Bereiche wie Abwasserentsorgung, Wasserversorgung, Umweltschutz, die nun de facto nicht mehr existieren -  das hat uns die Fähigkeit genommen, auf den Klimanotstand zu reagieren.

Wie genau hat das Missmanagement des Staates dazu beigetragen, die Folgen der Überschwemmungen zu verstärken?

Der neoliberale Kurs hat die Regierenden auf kommunaler und bundesstaatlicher Ebene dazu gebracht, die Folgen des Klimawandels zu ignorieren. Warnungen wurden nicht beachtet, ebenso wenig wie die wissenschaftlichen Fakten des letzten Jahrzehnts. Das Niederschlagsmuster in Rio Grande do Sul hat sich bereits dauerhaft verändert. Doch genau in den letzten 10 Jahren wurde in der Stadt Porto Alegre die staatliche Struktur, die sich um den Hochwasserschutz kümmerte, vollständig abgebaut. Sie existiert nicht mehr und wurde in einer Logik der Privatisierung für überflüssig erklärt.

Selbst das städtische Wasser- und Abwasseramt (Departamento Municipal de Água e Esgoto, DMAE), ein Unternehmen, das als unabhängige Behörde für die Abwasserentsorgung und das Entwässerungssystem in Porto Alegre zuständig ist, ist seit vielen Jahren Ziel von Privatisierungsversuchen. Der derzeitige Leiter des DMAE wurde eingesetzt, um das Unternehmen zu privatisieren – und dafür rentabel zu machen. So fehlen Hunderte von Angestellten. Es wurde eine Politik der Überschüsse geschaffen: Mehr als 400 Millionen Reais (das entspricht etwa 70 Millionen Euro) sind ungenutzt geblieben. Das ist Geld, das man für grundlegende Arbeiten im Hochwasserschutz- und Entwässerungssystem oder für die Pflege der Bäche im Wassereinzugsgebiet von Porto Alegre hätte verwenden können.

Und auf der Ebene des Bundesstaates?

Auch auf bundesstaatlicher Ebene wurde nicht ausreichend in den Zivilschutz investiert. Die Regierung bezahlt ausländische Beratungsagenturen für die Ausarbeitung von Plänen, wie z.B. Katastrophenschutzpläne und eine ökologisch-ökonomische Zoneneinteilung. In diese Untersuchungen wurde viel Geld investiert, aber sie wurden nicht umgesetzt. Der Gouverneur des Bundesstaates Rio Grande do Sul, Eduardo Leite, hat mehr als 400 Änderungen am Umweltgesetzbuch des Bundesstaates vorgenommen: Dazu gehören die Abschaffung der Uferwälder, die einen natürlichen Schutz vor Überschwemmungen darstellen, die Möglichkeit, Dämme in dauerhaften Schutzgebieten zu bauen, und die Freigabe von Dutzenden von Pestiziden, die in den Ländern, in denen sie hergestellt werden, verboten sind.

Das Pampa-Biom im Bundesstaat Rio Grande do Sul ist das am stärksten zerstörte Biom in ganz Brasilien. Auch diese Zerstörung ist auf eine neoliberale Politik zurückzuführen, die die landwirtschaftlichen Grenzen immer weiter in dieses geschützte Gebiet ausgedehnt und große Teile davon in Felder für die Produktion von Soja verwandelt hat – ein Produkt, das zunehmend mit der Umweltzerstörung in Brasilien in Verbindung gebracht wird und das hier im Bundesstaat Rio Grande do Sul nicht einmal besteuert wird. So hat Rio Grande do Sul im vergangenen Jahr Soja im Wert von mehr als 20 Milliarden Dollar ohne Steuern exportiert. Mit anderen Worten, der Staat erhält keine Einnahmen aus dieser Anbautätigkeit, die dazu verwendet werden könnten, die Auswirkungen des exzessiven Sojaanbaus auf die Umwelt zu kompensieren und die Bevölkerung vor den Folgen des Klimawandels zu schützen. Das ist umweltzerstörerischer Neoliberalismus und ich habe keinen Zweifel daran, dass diese Art von Handeln uns in unserer Fähigkeit, mit dem, was jetzt geschieht, umzugehen, geschwächt hat.

Trotz dieser offensichtlichen Zusammenhänge streiten in Brasilien Politiker*innen oft jegliche Verantwortung ab, mit der Begründung:  "Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um mit dem Finger auf die Schuldigen zu zeigen". Warum ist es aber gerade jetzt wichtig, die Menschen und die politische Ideologie zu identifizieren, die zu dieser Katastrophe geführt haben?

Weil Rio Grande do Sul jetzt wieder aufgebaut werden muss. Aus unserer Sicht muss eigentlich der komplette Staat neu aufbaut werden. Denn wir wollen nicht zu der Politik zurückkehren, die uns in diese Situation gebracht hat. Die Bevölkerung muss also verstehen, was der Klimanotstand ist, seine Ursachen und Folgen kennen. Es geht nicht mehr um etwas Zukünftiges, sondern um den Überlebenskampf unserer Generation. Und sie muss verstehen, dass die neoliberale Ausrichtung der Politik, die politische Entscheidungen im Bundesstaat Rio Grande do Sul seit vielen Jahren prägt, nicht dabei helfen kann, die verheerenden Folgen der Klimaveränderungen einzudämmen. Im Gegenteil: Die neoliberalen Politiker*innen haben eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die diesen Zustand der Verwundbarkeit verschlimmert haben. Die Menschen müssen verstehen, dass die Veränderungen, die in ihrem Alltag stattfinden, auch das Ergebnis politischer Entscheidungen sind.

Wie sind Sie als Abgeordnete mit der Situation umgegangen?

Wir sind durch unser Mandat und die sozialen Bewegungen, mit denen wir zusammenarbeiten, direkt mit Gouverneur Eduardo Leite aneinandergeraten. Wir haben eine Reihe von Fragen gestellt, die daraufhin landesweit diskutiert wurden, wie z.B. die Frage nach den niedrigen Budgets für den Zivilschutz, das Fehlen eines Katastrophenschutzsystems in Rio Grande do Sul und alle Änderungen in der Umweltgesetzgebung, die der Gouverneur veranlasst hat. Kürzlich haben wir in Porto Alegre Dokumente veröffentlicht, die beweisen, dass die Stadtverwaltung bereits über die Gefahr von Überschwemmungen Bescheid wusste und trotzdem beschloss, das System der Pumpenhäuser und Fluttore, der Stadtmauern und Deiche zum Schutz vor Überschwemmungen, nicht zu warten. Mit anderen Worten: Die Menschen müssen verstehen, dass es notwendig ist, für Klimagerechtigkeit zu kämpfen und diese Schäden zu beheben. Wir sprechen hier von Hunderttausenden von Menschen, fast 600.000, die obdachlos geworden sind. Viele von ihnen werden nicht in ihre Häuser zurückkehren können. Sie werden nicht in der Lage sein, alles von Grund auf neu aufzubauen. Der Staat wird für die Folgen dieser Katastrophe aufkommen müssen. Es ist wichtig, das wirtschaftliche Entwicklungsmodell klar zu benennen, das uns an diesen Punkt gebracht hat. Die Profiteure des aktuellen Systems müssen zur Rechenschaft gezogen werden für den Schaden, den sie anrichten.

Die Regierung darf den Großunternehmen im Agrobusiness keine weiteren Ausnahmeregelungen geben, etwa für Sojaexporte. Der Staat muss die Wirtschaftssektoren, die die Umwelt am stärksten verschmutzen, wie Pestizidhersteller und Bergbau-Unternehmen stärker regulieren. Diese Umweltverschmutzer müssen auch die Kosten für den Wiederaufbau tragen, sonst geht alles zu Lasten der Arbeiterklasse, die es schwer haben wird, wieder auf die Beine zu kommen. Es ist wichtig, die Schuldigen zu identifizieren und zu verstehen, was wir mit der Klimakrise erleben, um politische Alternativen zur Überwindung dieser Situation aufzubauen.

Viele Menschen haben alles verloren, Tausende sind obdachlos und ganze Städte wurden verwüstet. Solidaritätsaktionen waren sehr wichtig um Menschen zu retten, Notunterkünfte zu bauen und um ein Mindestmaß an Schutz für die Betroffenen herzustellen, aber die Verantwortung für die Bewältigung der Krise sollte nicht bei der Zivilgesellschaft liegen. Wie sind die Aussichten auf eine Überwindung des sozialen Chaos unter den derzeitigen Kommunal- und Landesregierungen?

Es ist sehr schwierig, sich vorzustellen, wie die Menschen angesichts des Verlustes nicht nur wieder auf die Beine kommen, sondern in diesem Kontext politisch aktiv werden können. Das Ausmaß der Zerstörung ist enorm, und das wirkt sich auf die geistige und emotionale Gesundheit aller aus. Die Abwesenheit des Staates hat zu einer antipolitischen Stimmung geführt, zu einer Skepsis gegenüber den Lösungen, die die institutionelle Politik anbietet. Wir haben also die Aufgabe, zu zeigen, dass dieser Weg dennoch notwendig ist. Meiner Meinung nach müssen wir die Aktionen an der Basis - durch die Mobilisierung der Menschen, die die Katastrophe am härtesten getroffen hat - mit dem Druck auf die staatlichen Institutionen verbinden, damit diese die richtigen Maßnahmen ergreifen. Es gibt aktuell mehr Zustimmung für Ideen, über die wir schon lange sprechen, wie zum Beispiel die Notwendigkeit, strengere Umweltschutzgesetze zu erlassen. Umfragen zeigen, dass mehr als 70 Prozent der Bevölkerung eine Verschärfung der Umweltgesetzgebung aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen für angemessen halten.

Ein weiteres Thema ist die Wiederverstaatlichung strategischer Unternehmen, die sich um die Umwelt kümmern, insbesondere in den Bereichen Strom, Wasser und Abwasser, die im Bundesstaat Rio Grande do Sul alle privatisiert wurden. Es hat sich bereits deutlich gezeigt, dass das dazu geführt hat, dass schlechter auf Extremwetterereignisse reagiert werden kann, denn die Reaktionsfähigkeit, z. B. bei der Wiederherstellung der Stromversorgung, wurde nach der Privatisierung stark eingeschränkt. Wir wollen daher mit unserer Gemeinde über die Bedeutung solcher Maßnahmen diskutieren.

Auch die Bundesregierung spielt eine zentrale Rolle. Sie besteht aktuell aus einer breiten Koalition mit verschiedenen Parteien. Wir von der Partei PSOL (Partido Socialismo e Liberdade), der Partei für Sozialismus und Freiheit, sind Teil davon, sind aber auch Teil einer linksradikaleren Unterstützungsbasis. Es gibt aber auch Vertreter*innen des bürgerlichen Lagers in dieser Koalition. Wir wollen, dass Präsident Lula dazu beiträgt, eine neue Perspektive auf die Klimakrise zu entwickeln, und dass er den Aufbau eines neuen Entwicklungsmodells anführt. Denn der brasilianische Staat ist am besten in der Lage, dies über die Bundesregierung zu tun. Deshalb müssen wir von Lula fordern, sich den Versuchen der Agrarindustrie, das wirtschaftliche Entwicklungsmodell in Rio Grande do Sul aufrechtzuerhalten, radikal zu widersetzen. Wir brauchen Lula, um den Weg zu weisen und die soziale Mobilisierung zu organisieren. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die extreme Rechte durch die generelle Anti-Politik-Stimmung stärker wird. Das ist die große Angst, die wir haben.

Wie beurteilen Sie den Umgang der Bundesregierung mit dem Hochwasser?

Die Regierung hat wichtige Sofortmaßnahmen ergriffen. Es gibt Hilfen für den Wiederaufbau von Häusern, Maßnahmen, um der Wirtschaft direkt über die Betroffenen Geld zuzuführen - mit dem Pix  (Soforthilfe) von 5.100,00 R$ (etwa 875 EUR), der bereits auf den Konten vieler Gauchos[1] angekommen ist. Vor kurzem wurden Maßnahmen angekündigt, um Arbeitsplätze zu erhalten. Ich glaube, dass die Regierung bei der unmittelbaren Unterstützung eine sehr wichtige Rolle spielt. Aber die wichtigste Reaktion muss mittel- und langfristig erfolgen, denn dann wird der Wiederaufbau von Rio Grande do Sul stattfinden. Die Regierung Lula darf also keine neoliberalen Politikmaßnahmen durchführen – denn das passiert hier in Rio Grande do Sul bereits. Gouverneur Eduardo Leite hat ausländische Berater angeheuert und einen ehemaligen Berater von Paulo Guedes, dem Wirtschaftsminister unter Bolsonaro - einen Ultraliberalen - mit der Koordinierung des Wiederaufbaus beauftragt. Die Stadtverwaltung von Porto Alegre hat dasselbe getan. Lula muss also den Wiederaufbau durch die Freigabe von Ressourcen und Projekten zum Wiederaufbau der Städte mit einem Vorschlag verbinden, der einen langfristigen kulturellen Wandel in der Wahrnehmung der Menschen herbeiführt, um Gesellschaft und Umwelt nachhaltig zu verbinden. Wir müssen die Idee einer ökologischen und volksnahen Agrarreform ausbauen, wie sie von der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) befürwortet wird, anstatt das Modell der Agrarindustrie auszuweiten, das Brasilien zunehmend in einen Rohstoffexporteur verwandelt und dabei das Pampa-Biom in Rio Grande do Sul, das Pantanal im Zentrum-West und den Amazonas im Norden des Landes verwüstet.

Das Gleiche gilt für die Stadtreform. Die zerstörten Städte müssen so umgestaltet werden, dass die arme, oft Schwarze Arbeiter*innenklasse nicht mehr in Risikogebieten lebt. Dazu müssen wir den Interessen der Immobilienspekulant*innen entgegentreten. In Rio Grande do Sul gibt es mehr als 600.000 Immobilien, die Anfang 2024 leer standen. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Gebäude, die während des letzten Booms der Immobilienspekulation gebaut wurden, aber nicht bewohnt sind, sondern nur dazu dienen, den Wert der Aktien der Unternehmen zu steigern. Einige von ihnen sind sogar mit öffentlichen Geldern finanziert worden.

Das kann nicht das Modell für den Wiederaufbau von Städten sein. Um diese Konflikte zu lösen, brauchen wir eine soziale Mobilisierung und eine Hinwendung der Regierung Lula zu den Forderungen des demokratischen und volksnahen Lagers, anstatt weiterhin die Forderungen zu erfüllen, die aus dem Centrão kommen, jenen bürgerlichen, klientelistischen Parteien, die ständig Druck auf die Regierung ausüben, um Vereinbarungen zu treffen, die sie begünstigen.

Vor welchen Herausforderungen steht die Linke auf bundesstaatlicher und kommunaler Ebene? Und welche Strategie sollte verfolgt werden, um ein alternatives Projekt für eine sozial-ökologische Transformation voranzubringen?

In Porto Alegre stehen wir kurz vor den Kommunalwahlen. Der Wahlprozess beginnt in drei Monaten. Die ganze Stadt weiß, dass wir einen Neuanfang brauchen. Wir müssen diese neoliberale Ideologie, die heute in den Köpfen von Millionen von Menschen steckt, ändern. Porto Alegre muss bei Null anfangen, mit Ideen, die unsere politische und ideologische Vision repräsentieren - links, ökologisch und demokratisch - um den Wiederaufbau der Stadt aus einer völlig anderen Perspektive anzufangen.

Ich glaube, dass der diesjährige Wahlkampf sehr wichtig für Rio Grande do Sul ist. Schon jetzt müssen wir unsere Interessen den bestehenden, ultraliberalen Vorschlägen für den Wiederaufbau des Staates klar gegenüberstellen. In dieser ultraliberalen Logik wird die Rolle der lokalen wissenschaftlichen Gemeinschaft, der öffentlichen Universitäten und der staatlich finanzierten Forschungszentren abgewertet, zugunsten einer stärkeren Beteiligung ausländischer, auf Katastrophenkapitalismus spezialisierter Agenturen. Das Ziel der derzeitigen Regierung in Rio Grande do Sul und der Kommunalverwaltungen ist, den Wiederaufbau des Staates mit den Marktinteressen der Sektoren zu verbinden, die diese Regierungen unterstützen: dem Agrarsektor, vertreten durch Farsul, dem Bauernverband von Rio Grande do Sul, dem Industriesektor, vertreten durch Fiergs, dem Industrieverband, und auch dem Handelssektor, vertreten durch Fecomércio. Dies sind drei Organisationen, die in den letzten Jahren die Unterstützungsbasis rechter und rechtsextremer Regierungen waren und die nun gemeinsam mit anderen bürgerlichen Akteuren Vorschläge für einen Ausweg aus der Tragödie präsentieren. Wir müssen ihre vermeintlichen Lösungsvorschläge in allen Bereichen bekämpfen: beim Wiederaufbau des Wohnraums, beim Modell für den Erhalt und die Qualifizierung von Arbeitsplätzen, bei den Forderungen nach industriellen Umgestaltungen und natürlich bei der Art der Gesetzgebung, die wir brauchen, um diese Maßnahmen von nun an zu regeln.

Sie bezeichnen sich selbst als Ökosozialisten – als einer von wenigen Abgeordneten in Brasilien. Was bedeutet es, ein Ökosozialist zu sein, und für welches Projekt kämpfen Sie in Rio Grande do Sul und Brasilien?

Was mich zu einem Ökosozialisten macht, ist die Erkenntnis, dass all die negativen Veränderungen der Umwelt, die wir beobachten, nicht erst jetzt in Brasilien beginnen. Sie sind ein Produkt der kolonialen Erfahrung, die immer die Zerstörung der Natur als Prinzip für die Akkumulation von Reichtum hatte. Der Wandel des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Modells in Brasilien muss also die Probleme unseres Landes an der Wurzel lösen - und das beginnt damit, dass wir die Zerstörung der Natur und der einheimischen Völker, die hier in der Geschichte stattgefunden hat, anders bewerten. Wir wollen über einen antikapitalistischen und sozialistischen Wandel nachdenken, der diese strukturellen Probleme löst.

Das bedeutet für uns, die Schwarze Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung in den Blick zu nehmen. Sie wollen wir an die Spitze dieses Wandels stellen. Es gibt mehr als 100 Millionen schwarze Menschen in Brasilien. Sie machen die Mehrheit der Bevölkerung aus und sind im Moment am meisten vom Klimanotstand betroffen, weil sie meist in den mehr als 6.000 Slums leben, die es in Brasilien gibt, und in den Quilombola-Gebieten, die keine Infrastruktur haben. Dies gilt auch für unsere indigenen Brüder und Schwestern, deren Wasser derzeit durch illegalen Bergbau und Pestizide verseucht ist. Es gibt keine Möglichkeit, über eine Transformation Brasiliens nachzudenken, ohne diese kapitalistische Struktur in Frage zu stellen, die massive ökologische und umweltpolitische Probleme verursacht.

Im Gegensatz zur letzten linken Regierungsperiode, die von der PT angeführt wurde und bei der die industrielle Arbeiterklasse im Mittelpunkt stand, sind wir der Meinung, dass es an der Zeit ist, dass die Schwarzen Arbeiter*innen - die die Mehrheit Brasiliens ausmachen - diesen Wandel anführen. Dafür verknüpfen wir die parlamentarische Tätigkeit mit der Organisierung an der Basis. Denn unsere Ideen müssen eine soziale Kraft haben, damit sie sich wirklich auf die Realität auswirken können, sonst bleiben sie nur Ideen.

Wir kämpfen darum, in der arbeitenden Bevölkerung unseres Landes, die in den letzten Jahren zu einem großen Teil rechtsextremen Ideen anhing und vom neoliberalen Diskurs überzeugt war, eine neue Selbstwahrnehmung zu verankern. Unser Wiederaufbau ist also bereits im Gange. Jetzt werden wir die Ideen entwickeln, die wir brauchen, um nicht nur Rio Grande do Sul, sondern ganz Brasilien zu verändern. Unser Ziel ist eine wirklich vollständige, autonome Nation, die in der Lage ist, einen Wandel in unserem lateinamerikanischen Regionalblock anzuführen.


[1] Gaúcho nennt man eine Person, die aus Rio Grande do Sul kommt. Es bezieht sich aber auch auf die auch mit Bolivien, Uruguay, Paraguay und Argentinien geteilte kulturelle Identität.