Steven Hummel ist Politikwissenschaftler. Er arbeitet im Bereich Bildungsarbeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen und ist ehrenamtlich bei der Dokumentations- und Rechercheplattform chronik.LE aktiv. Sein Schwerpunktthema ist die extreme Rechte.
03.09.2024, Datenstand: vorläufiges Endergebnis
Die sächsische Landtagswahl 2024 hat deutliche politische Verschiebungen mit sich gebracht. Der vorliegende Text wirft einen ersten Blick auf die Wahlergebnisse und ordnet diese ein. Was bedeuten die Ergebnisse für linke Politik in Sachsen in den nächsten Jahren? Die Anmerkungen und Thesen am Ende des Textes sind als Diskussionsaufschlag zu verstehen. Widerspruch, andere Einschätzungen und Ergänzungen sind erwünscht.
Eine erste Diskussion über die Auswirkungen der Landtagswahl führen wir am 03.09. in unserer Veranstaltung "Wie weiter nach der Landtagswahl?".
Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick
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Die stärkste Partei ist in Sachsen nach wie vor die CDU (31,9%), dicht gefolgt von der AfD (30,6%); die CDU verliert minimal (-0,2%), die AfD gewinnt moderat hinzu (+3,1%).
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Die größte Wahlgewinnerin ist das Bündnis Sarah Wagenknecht. Die erst im Januar 2024 gegründete Partei erreicht aus dem Stand 11,8% der Stimmen und kann damit 15 Sitze im neuen Landtag besetzen.
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SPD (7,3%) und Bündnis 90/Die Grünen (5,1%) schneiden erwartungsgemäß schlecht ab, die Grünen schaffen es nur sehr knapp über die 5%-Hürde.
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Die größte Wahlverliererin ist Die Linke (4,5%), die nur wegen zweier gewonnener Direktmandate überhaupt noch im Landtag vertreten ist. Dank der Grundmandatsklausel kann sie 6 Sitze besetzen und somit eine Fraktion bilden.
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Die aktuelle Regierungskonstellation aus CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen kommt lediglich auf 44,3% (-3,7%) der Stimmen und 58 Sitze (Landtagsmehrheit bei 61 Sitzen). Eine Fortführung der Koalition ist somit nicht möglich und wird von Ministerpräsident Kretschmer auch nicht gewünscht.
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Als wahrscheinlichste Koalition kann der Zusammenschluss von CDU, BSW und SPD (zusammen 66 Sitze) gelten.
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Linke Politik wird nach der Landtagswahl noch schwieriger als sie in Sachsen ohnehin schon ist. Besonders die Wahlniederlage der Partei Die Linke, versehen mit einem leichten Hoffnungsschimmer (weniger als 5% der Zweitstimmen, aber Gewinn zweier Direktmandate) ist auch für die außerparlamentarische Linke von Bedeutung.
Allgemeiner Überblick
Wahlbeteiligung
Bei der sächsischen Landtagswahl waren 3.181.013 Menschen (2019: 3.288.643) zur Wahl des Sächsischen Landtags aufgerufen. An der Wahl teilgenommen haben 74,4% (2019: 66,5%), die Wahlbeteiligung ist damit deutlich gestiegen. So viele Menschen wie nie seit 1990 haben sich an der Landtagswahl beteiligt. Die meisten bisherigen Nichtwähler*innen konnten BSW (46.000) und CDU (40.000) mobilisieren. Nicht alle Menschen, die in Sachsen leben, sind wahlberechtigt, Voraussetzung ist die deutsche Staatsbürgerschaft, ein Hauptwohnsitz in Sachsen und die Volljährigkeit – ca. 700.000 Menschen dürfen nicht wählen.
Erst- und Zweitstimmenergebnisse
Wie auch bei anderen Landtags- und Bundestagswahlen haben Wähler*innen zwei Stimmen, die sogenannte Erst- und Zweistimme. Die Zweitstimme bestimmt das Gesamtverhältnis der Sitzverteilung und ist daher relevanter. Mit der Zweitstimme wird eine Partei gewählt (Verhältniswahl). Stärkste Kraft wird die CDU (31,9%), dicht gefolgt von der AfD (30,6%). Weiterhin zeihen BSW (11,8%), SPD (7,3%), Bündnis 90/Die Grünen (5,1%) und Die Linke (4,5%) in den Landtag ein. Dem Landtag gehören damit wie bereits zwischen 2004 und 2024 sechs Parteien an.
Die Erststimme wird an die Direktkandidat*innen (der Parteien) in den 60 Wahlkreisen vergeben, eine relative Mehrheit reicht für das jeweilige Mandat. Mit der Erststimme wird also eine Person gewählt (Persönlichkeitswahl). Die AfD erringt die meisten Direktmandate (28), dicht gefolgt von der CDU (27). Einige wenige Direktmandate können auch Bündnis 90/Die Grünen (2), Die Linke (2) sowie die Freien Wähler (1) verbuchen. Für Die Linke sichern die Direktmandate den Einzug in den Landtag. Die entsprechende Regelung nennt sich Grundmandatsklausel (§6 Abs. 1 Sächsisches Wahlgesetz) und gesteht einer Partei mit zwei Direktmandaten einen Einzug in Zweitstimmenstärke in den Landtag zu.
Die besten Ergebnisse bei den Erststimmen erreichen Frank Peschel (49,1%, AfD, Wahlkreis 52 – Bautzen 1/Budyšin 1) und Michael Kretschmer (47,2%, CDU, Wahlkreis 58 – Görlitz 2); die schlechtesten Ergebnisse Wolf-Dieter Rost (29,8%, CDU, Wahlkreis 27 – Leipzig 3) und Dr. Claudia Maicher (29,2%, Bündnis 90/Die Grünen, Wahlkreis 30 – Leipzig 6).
Beim Blick auf die Direktmandate wird deutlich, dass grüne und linke Direktmandate lediglich in Leipzig und Dresden gewonnen wurden. Alle anderen Wahlkreise teilen CDU und AfD unter sich auf (mit Ausnahme Leipzig Land 3 – Freie Wähler) - wobei die AfD kein Direktmandat in einer Großstadt erringen kann.
Regulär vergeben werden bei der Landtagswahl in Sachsen 120 Sitze. Da keine Partei mehr Direktmandate auf sich vereinen kann als ihr anteilig nach Zweistimmen zustünden, werden keine Überhangmandate vergeben.
Offen bleibt ob der Spitzenkandidat der Freien Wähler, Matthias Berger, sein Landtagsmandat annehmen wird. Vor der Wahl hatte er verkündet nicht als Einzelkämpfer in den Landtag ziehen zu wollen. Sofern Berger sein Mandat nicht annimmt wird der Landtag um einen Sitz verkleinert. Das pikante daran: damit erhielte die AfD eine Sperrminorität.
Regierungsbildung
Die aktuelle Regierungskonstellation aus CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen kommt lediglich auf 44,3% (-3,7%) der Stimmen und damit 58 Sitze (-9). Für eine Landtagsmehrheit werden 61 Sitze benötigt. Bereits vor der Wahl hatte Ministerpräsident Kretschmer deutlich gemacht, dass er am liebsten ohne die Grünen weiterregieren würde. Da er ebenfalls eine Koalition mit der AfD ausgeschlossen hat, ist das rechnerisch und politisch einzig mögliche Bündnis das zwischen CDU, BSW und SPD. Dieses käme zusammen auf 66 Sitze.
Abzuwarten bleibt, ob eine Regierungsbildung mit dem neugegründeten Bündnis Sahra Wagenknecht gelingt. Die Parteivorsitzende hatte angekündigt bei Koalitionsverhandlungen selbst mit am Tisch sitzen zu wollen. Weiterhin sei eine klare Positionierung im Ukraine-Krieg (gegen Waffenlieferungen) Voraussetzung für eine Koalition.
Eine Minderheitsregierung unter CDU-Führung wäre zwar denkbar, ist aber unwahrscheinlich. Eine Koalition zwischen CDU und Die Linke ist per Beschlusslage der CDU nicht möglich.
Das Abschneiden der einzelnen Parteien
Ausgewählte empirische Befunde
Die Gründe für die konkrete Wahlentscheidungen einzelner Personen (und damit indirekt auch das Abschneiden einzelner Parteien) sind nicht monokausal, sondern vielfältig. Nachwahlbefragungen können hier neben der soziodemographischen Verteilung (Wahlentscheidung hinsichtlich z.B. Alter, Geschlecht, Einkommen) auch erste inhaltliche Anhaltspunkte (Wahlentscheidung hinsichtlich z.B. zugeschriebener Kompetenz) geben. Nachfolgend einige ausgewählte empirische Befunde.
Anmerkungen und Thesen für linke Politik in Sachsen
Die sächsische Landtagswahl 2024 führt den bereits seit längerem vonstatten gehenden Niedergang der Partei Die Linke in Sachsen fort. Nach dem größten Wahlerfolg 2004 mit 23,6% der Stimmen ging es stetig bergab, bei der Landtagswahl 2019 erreichte Die Linke mit 10,2% zumindest noch ein zweistelliges Ergebnis. Dieses Mal sind es lediglich 4,5%, die Partei kann nur über zwei gewonnene Direktmandate in den Landtag einziehen. Dies gilt es den gewählten Direktkandidat*innen Juliane Nagel und Nam Duy Nguyen (und ihren Wahlkampfteams) hoch anzurechnen.
Aufarbeitung des Abschneidens
Am schlechten Abschneiden der Linken hat sicherlich die Parteineugründung von Sahra Wagenknecht einen Anteil, immerhin wechselten 73.000 Wähler*innen, die bei der letzten Landtagswahl Die Linke gewählt haben, diesmal zum BSW. Allerdings lässt sich damit allein nicht der enorme Einbruch erklären. Es gilt das Abschneiden selbstkritisch aufzuarbeiten. Eine Debatte über den Gebrauchswert einer sozialistischen Partei muss bundesweit, gemeinsam und solidarisch geführt werden. Dabei gilt es zahlreiche bereits aufgeworfene Fragen zu Inhalten und Strategien produktiv miteinander ins Verhältnis zu setzen. Die Zeit dafür drängt. Wenn Die Linke nicht wieder in den Bundestag einzieht, droht ihr das endgültige Scheitern. Erste Ansätze für die notwendige Debatte sind bereits auf der Webseite der Zeitschrift Luxemburg (https://zeitschrift-luxemburg.de/tag/wie-weiter-linke/) erschienen.
Linke Politik in der Defensive I
Die gesellschaftliche Linke (parlamentarisch und außerparlamentarisch) „wird nicht untergehen, aber sie wird für mindestens ein Jahrzehnt oder länger eine defensive Position einnehmen und kaum Gestaltungsraum haben.“ (https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wir-leben-in-keiner-offenen-situation-mehr/). Diese Ausgangsposition gilt es anzuerkennen und neue Formen und Ideen für linke Politik zu entwickeln.
Denkbar wären in Sachsen eine räumliche oder thematische Fokussierung. Eine Konzentration beispielsweise auf die einzig verbleibende Linken-Hochburg Leipzig würde allerdings all den progressiven Akteur*innen in den anderen Großstädten sowie im ländlichen Raum nicht gerecht werden. Doch kann Die Linke noch ganz Sachsen flächendeckend bespielen? Auch eine thematische Konzentration beispielsweise auf das Thema Wohnen wie bei der KPÖ in Österreich kann den vielfältigen Problemlagen einerseits sowie Linken-Kompetenzen andererseits nicht gerecht werden. Klar ist: über diese (und weitere) Punkte braucht es eine Auseinandersetzung. Eine Auseinandersetzung, die über die Partei hinausgeht und progressive Akteur*innen beispielsweise der Zivilgesellschaft mit einbezieht.
Linke Politik in der Defensive II
Doch nicht nur die Partei Die Linke muss sich Gedanken um die Zukunft machen. Auch die außerparlamentarische Linke (Gewerkschaften, Klimagerechtigkeitsbewegung, Demokratiearbeit, Antifa, …) wird mehr als zuvor aus einer Defensiv-Position agieren. Die Mehrheit der Sächs*innen ist aktuell nicht für eine progressive Politik zu gewinnen, ein knappes Drittel wählt gar eine extrem rechte Partei.
Dabei sind parlamentarische und außerparlamentarische Linke miteinander verwoben. Sinkende Zustimmung an der Wahlurne bedeutet weniger Möglichkeit sich seinen Lebensunterhalt durch linke Politik zu verdienen und bereitgestellte linke Infrastruktur zu nutzen. Weiterhin werden die Mittel für die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen deutlich sinken – bereits ab dem nächsten Jahr.
Deutlich schwerer wird es auch für die kritische Zivilgesellschaft, beispielsweise im Bereich Integrations- und Demokratiearbeit. Es ist zu erwarten, dass die entsprechenden Fördermittel mittelfristig sinken werden.
Hoffnungszeichen
Die zwei gewonnenen Direktmandate von Nam Duy Nguyen (Wahlkreis 25 – Leipzig 1) und Juliane Nagel (Wahlkreis 28 – Leipzig 4) sind ein Hoffnungsschimmer. Ins Auge fällt dabei die Unterschiedlichkeit der Vorgehensweisen. Juliane Nagel (36,5% Erststimmen) ist ein Urgestein linker Politik im Leipziger Süden. Seit jeher ist sie in politischen Initiativen und Basisarbeit aktiv. Sie ist mit ihrem offenen Projekt- und Abgeordnetenbüro Linxxnet in Stadtteil Connewitz fest verankert. Das Büro wird durch zahlreiche Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen genutzt. Sie gewann 2014 erstmals das Landtagsmandat, seitdem verteidigt sie es. Nam Duy Nguyen (39,8% Erststimmen) war als erstmalig Kandidierender deutlich weniger im Wahlkreis verankert. Dies machten er und sein riesiges Team durch einen umfangreichen und ressourcenaufwändigen Haustürwahlkampf mit Organizing-Elementen wett. An seinem Erfolg konnten auch Sticheleien der drittplatzierten Grünen nichts ändern. Er wird weiterhin der erste BIPoC im sächsischen Landtag sein.