Nachricht | Cono Sur - Brasilien / Paraguay - Ernährungssouveränität Viel mehr als Wohltätigkeit

Die politische Rolle von Solidarküchen in Argentinien und Brasilien

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Solidarküchen übernehmen in Argentinien und Brasilien eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung von Hunger und Ernährungsunsicherheit – in gänzlich unterschiedlichen politischen Kontexten. Die sozialen Organisationen, die die Küchen betreiben, setzen auf eine grundlegende Veränderung der Ernährungspolitik.

Es ist Montag, ein kalter Wintervormittag. Vor einer Solidarküche im Stadtteil Constitución in Buenos Aires stehen rund 50 Personen auf der Straße. Später werden sie und viele weitere sich geordnet in eine Schlange stellen, um eine der warmen Gratismahlzeiten zu ergattern. Unterdessen herrscht im Innenhof des Lokals der Informellengewerkschaft UTEP (Unión de los Trabajadores y Trabajadoras de la Economía Popular) reges Treiben. In provisorisch eingerichteten Küchen werden Gemüse und Fleisch geschnitten, in großen Metalltöpfen köchelt Eintopf vor sich hin. Helfer*innen tragen die fertigen Gerichte in Richtung Straße, andere machen die leeren Kessel wieder sauber. Sie sind größtenteils Mitglieder der UTEP, einige wenige Freiwillige arbeiten auch mit.

Die «Olla Popular» in Constitución ist die wohl größte Solidarküche von Buenos Aires. Rund 3.000 Personen bekommen hier drei Mal die Woche eine warme Mahlzeit. Montags, mittwochs und freitags. Früher wurde an allen Wochentagen Essen ausgegeben, bis zu 5.000 Portionen. Dass es heute weniger sind, bedeutet allerdings nicht, dass der Bedarf gesunken wäre. Im Gegenteil. Doch jeden Tag Essen anbieten, das können sie sich hier nicht mehr leisten, seit die Regierung Milei die Unterstützung für die Küchen komplett eingestellt hat.

Mehr als die Hälfte der Argentinier*innen lebt unterhalb der Armutsgrenze

Essen ist politisch – und Hungern sowieso. In Argentinien ist diese Feststellung so aktuell wie lange nicht. Seit am 10. Dezember 2023 mit Javier Milei ein Marktfanatiker das Präsidentenamt übernommen hat, verschlechtert sich die Ernährungssituation großer Teile der Bevölkerung dramatisch. Die Folgen der Schocktherapie, die Milei und sein Wirtschaftsminister Luis Caputo dem Land verschrieben haben, sind eine rasant zunehmende Verarmung und Verelendung großer Teile der Bevölkerung. Institutionen wie die Katholische Universität Argentiniens (UCA) gehen davon aus, dass mittlerweile deutlich mehr als die Hälfte der rund 46 Millionen Argentinier*innen unterhalb der Armutsgrenze leben. Als «bedürftig», also nicht einmal in der Lage, die grundlegendsten Bedürfnisse zu befriedigen, gilt mehr als ein Fünftel der Bevölkerung.

Statt auf Hilfe und Unterstützung setzt die Regierung Milei auf Konfrontation mit den sozialen Organisationen, die die Küchen betreiben. Ihnen wirft sie Korruption und persönliche Bereicherung vor. So behauptete im Mai 2024 die Ministerin für Humankapital, Sandra Pettovello, fast die Hälfte der registrierten und von der vorherigen Regierung unterstützten Ollas (so werden die Solidarküchen umgangssprachlich auch genannt) existierten überhaupt nicht. Lebensmittellieferungen, die zentral für den Betrieb der Küchen sind, werden gebunkert statt ausgeliefert. Die weiterhin bestehende Unterstützung durch Lokal- und Provinzregierungen reicht angesichts der wachsenden Zahl von Personen, die auf die Hilfe angewiesen sind, kaum aus. Mit dem Eintreiben von privaten Spenden wird versucht, den Betrieb zumindest aufrecht zu erhalten.

Im vergangenen Jahr waren in Argentinien rund 40.000 Solidarküchen registriert, in denen geschätzt zehn Millionen Personen eine warme Mahlzeit erhielten. Darunter fallen so große Einrichtungen wie die UTEP-Küche in Constitución, aber auch kleine Stadtteilküchen, die von Kirchen, sozialen Organisationen, Gewerkschaften oder Nachbar*innen betrieben werden, teils in Privatwohnungen. Wie viele von ihnen heute noch existieren, ist nicht bekannt.

Viele der Solidarküchen entstanden in den 1990er Jahren, als der Neoliberalismus Einzug in die argentinische Politik erhielt. Die verheerende Wirtschaftskrise von 2001 ließ die Armut im Land sprunghaft ansteigen, infolge von Massenentlassungen und Betriebsschließungen waren immer mehr Personen auf informelle Tätigkeiten angewiesen. Die Coronapandemie verschärfte die Ernährungsunsicherheit in großen Teilen der Bevölkerung weiter.

In dem Maße, in dem der reguläre Arbeitsmarkt an Bedeutung verlor, änderten auch die sozialen Bewegungen ihren Ansatz. Die Fabriken als traditionelle Orte des Kampfes um Verbesserungen fielen für immer mehr Menschen weg. Heute sprechen Teile der Linken davon, dass sich der Ort des Kampfes von dort in die Barrios verlagert hat. Andere, so Teile der traditionellen Gewerkschaften, stemmen sich weiter gegen den eigenen Bedeutungsverlust.

Ernährungsunsicherheit ist ein politisches Problem

Die Solidarküchen – zumindest die, die sich nicht auf einen fürsorgenden und karitativen Ansatz beschränken – nehmen innerhalb dieses Kampfes eine zentrale Stellung ein. Das Problem der Ernährungsunsicherheit wird hier als ein soziales, das heißt politisches Problem verstanden – und nicht nur individuell verhandelt. Außerdem werden beispielsweise sanitäre Anlagen für Obdachlose, Kinderbetreuung für informell Beschäftigte, Alphabetisierungskurse, Rechtsberatung oder Hilfe bei sexualisierter Gewalt angeboten. Der Anspruch ist es, die Küchen als Orte der Vernetzung und politischen Bildung zu nutzen. Ziel ist die Selbstorganisation von traditionell ausgeschlossenen Bevölkerungsteilen, was für diese eine Wiederherstellung von Würde mit sich bringt.

Daher ist es kaum verwunderlich, dass die ultrarechte Milei-Regierung in den Strukturen in erster Linie einen Feind sieht. Ihre Politik der Bekämpfung des Hungers beschränkt sich – neben dem Märchen, alle könnten arbeiten gehen und entsprechend sozial aufsteigen – auf «Ernährungskarten». Besitzer*innen einer solchen können diese für den Einkauf bei großen Supermarktketten nutzen, mit denen die Regierung Vereinbarungen abgeschlossen hat.

Angesichts einer Regierung, die die Verarmung immer größerer Teile der Bevölkerung mindestens billigend in Kauf nimmt, kämpfen viele Solidarküchen in Argentinien heute um ihre bloße Existenz. Vielen fehlen die Lebensmittel, um ausreichend Mahlzeiten anbieten zu können. Im Vergleich zur Lage zuvor, als auf der Agenda auch Fragen nach der Qualität der angebotenen Mahlzeiten, einer engeren Kooperation mit kleinbäuerlichen Produzent*innen oder nach der fehlenden Entlohnung der Köch*innen standen, stellt das einen enormen Rückschritt dar.

Gemeinsames Kochen als zentrales Werkzeug des politischen Kampfes

Anders verhält es sich im nördlichen Nachbarstaat Brasilien. In dem Land, in dem mit langer historischer Kontinuität immens große Teile der Bevölkerung unter Hunger leiden, verfügen die als «Cozinhas solidárias» bekannten Küchen heute über eine gewisse Unterstützung durch die sozialdemokratische Regierung unter der Arbeiterpartei (PT). Das ermöglicht es den betreibenden Organisationen, über die Essensausgabe hinaus konkrete Schritte zu gehen, um eine vom Markt unabhängige Ernährungsversorgung und Kooperationen mit kleinbäuerlichen Bewegungen aufzubauen.
 

In der Geschichte der sozialen Bewegungen in Brasilien wird das gemeinsame Kochen zwar seit langem als ein zentrales Werkzeug des politischen Kampfes gesehen – so beispielsweise im Rahmen der Landbesetzungen durch die Landlosenbewegung MST (Movimento sem Terra). Dennoch war es gerade der Austausch mit argentinischen sozialen Organisationen im Jahr 2017, der einen wichtigen Anstoß dafür gab, den Aufbau von Solidarküchen systematischer für die politische Arbeit zu nutzen.

Die Wohnungslosenbewegung MTST (Movimento dos Trabalhadores Sem Teto) begann damit, in besonders konfliktreichen Vierteln Küchen aufzubauen – so in solchen, wo Drogenbanden präsent waren. An Fahrt nahm das Projekt im Zuge der Coronapandemie auf. Die damalige Regierung unter dem Ultrarechten Jair Bolsonaro tat wenig bis nichts für den Schutz der Bevölkerung vor dem Virus, während sie gleichzeitig Programme zur Bekämpfung von Armut und Hunger radikal abbaute. In der Folge nahm die Ernährungsunsicherheit großer Teile der Bevölkerung rasant zu: Rund 33,1 Millionen Brasilianer*innen litten 2021 und 2022 Hunger.

In den «Cozinhas Solidárias» wird die Ausgabe von Mahlzeiten oder auch Lebensmitteln als Ausgangspunkt für die politische Arbeit verstanden. Zunächst ging es darum, die Hungerproblematik sichtbar zu machen. Das Ziel: eine öffentliche Debatte über Gründe und Lösungsansätze anzustoßen. In den Solidarküchen entstehen Strukturen, die die Menschen zusammenbringen. Personen, die zunächst beispielsweise nur Essen entgegennahmen, beginnen selbst damit, in den Cozinhas mitzuarbeiten. Die sozialen Organisationen, die die Solidarküchen betreiben, nennen das «Tecnologia social»: Betroffene sollen befähigt werden, selbst die Werkzeuge zur Bekämpfung des Hungers aufzubauen, zu erhalten und zu verantworten.

Der Anspruch ist jedoch, nicht bei der Ausgabe von Essen stehen zu bleiben. So werden beispielsweise Fragen rund um das Thema Nahrung aufgeworfen: Woher kommt diese? Wie wird sie produziert? Warum gibt es in Brasilien überhaupt Hunger? Ernährungsunsicherheit wird als ein strukturelles Problem verstanden, für das es struktureller Lösungen bedarf. Entsprechend bezieht der Ansatz der «Cozinhas Solidárias» immer auch andere Teile der Gesellschaft mit ein, die Teil einer Politik der Ernährungssouveränität sein müssen. Eng kooperiert wird beispielsweise mit der Kleinbäuer*innenbewegung MPA (Movimento dos Pequenos Agricultores).

Die Regierung Lula unterstützt die Solidarküchen - theoretisch

Die erneute Wahl des PT-Politikers Luiz Inácio Lula da Silva, der seit dem 1. Januar 2023 zum dritten Mal die brasilianische Präsidentschaft innehat, änderte das Panorama für die Solidarküchen grundlegend. Er räumte der Bekämpfung des Hungers wieder eine prioritäre Stellung innerhalb der Regierungspolitik ein. Seit Juli 2023 gibt es sogar eine gesetzliche Verankerung der Cozinhas Solidárias auf nationaler Ebene. Dies hatte der PSOL-Abgeordnete Guilherme Boulos angestoßen, der selbst aus der Wohnungslosenbewegung MTST kommt.

Das PNCS-Programm (Programa Nacional Cozinha Solidária) sieht vor, dass die Regierung einerseits ein Drittel der Finanzierung der Küchen übernimmt. Andererseits werden diese mit Lebensmittellieferungen unterstützt, die von der staatlichen Versorgungsgesellschaft CONAB kommen. Das hat den Vorteil, dass die Lebensmittel nicht von Großproduzent*innen sondern von kleinbäuerlichen Betrieben kommen. So wird eine Alternative zum Agrobusiness unterstützt. Richtig in Gang gekommen ist das Programm indes noch nicht.

Nicht nur deshalb gilt: Auch der brasilianische Staat erfüllt die Aufgabe, die Ernährungssicherheit seiner Bevölkerung zu gewährleisten, nicht – vom argentinischen ganz zu schweigen. Das liegt auch an der Stellung, die beiden Ländern innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft zugedacht ist. Als Staaten an der Peripherie sollen sowohl Brasilien als auch Argentinien primär kostengünstig Rohstoffe und Agrarprodukte für den Globalen Norden bereitstellen. Die Versorgung der großen Mehrheit der eigenen Bevölkerung ist dabei höchstens zweitrangig.

Zwar setzen die Solidarküchen am unmittelbaren Problem des Hungers an. Ihre politische Wirkung geht allerdings darüber hinaus: indem sie den Staat an seine Verpflichtung, eine menschenwürdige Ernährung für alle zu garantieren, erinnern, setzt sie diesen unter Druck endlich zu handeln. Denn die geografischen sowie technischen Möglichkeiten, Lebensmittel in ausreichender Menge und Qualität zu produzieren, um die eigene Bevölkerung zu ernähren, sind vorhanden. Es ist also eine politische und wirtschaftliche Entscheidung, diesem Ziel keine Priorität einzuräumen.
Es sind diese Annahmen und die aus ihnen gezogenen Schlüsse, die in den Töpfen der Solidarküchen köcheln, und vor denen Regierungen wie die von Milei in Argentinien Angst haben.