Zum ersten Geschichtsfest kommen 1984 in Berlin (West) 700 statt der erwarteten 500 TeilnehmerInnen zusammen. Das Geschichtsfest, das 1984 alternativ zum offiziellen Historikertag und danach noch in Hamburg (1985), Dortmund (1986), Hannover (1988), Bonn (1989) und nochmals in Hamburg (1990) stattfindet, ist ein Treffpunkt all derer, die sich in Geschichtswerkstätten und anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Vereinen für eine andere Geschichtsschreibung und -wissenschaft engagieren. Stichworte sind damals «Geschichte von unten» oder auch «Barfußhistoriker».
Etta Grotrian hat nun diese Bewegung, deren wissenschaftliche Aufarbeitung längst überfällig war, in ihrer 2020 an der FU Berlin eingereichten Dissertation ausführlich untersucht und mit einem Online-Angebot verbunden[1]. Die Geschichtswerkstätten waren eine Bewegung «von unten» in der sich dissidente Experten und Expertinnen ebenso engagierten wie «LaiInnen», die sich der Lokalgeschichte, der Frauengeschichte oder der Geschichte der lokalen NS-Herrschaft und -verbrechen, und deren vergessener Opfer widmen wollten. Oral History und andere «Zeitzeugenprojekte» waren seinerzeit eine beliebte und weitverbreitete, wenn auch dann einige Jahre später bereits kritisch betrachtete Methode. Die traditionell eher konservative Geschichtswissenschaft wurde kritisch gesehen, und der linksliberal/sozialdemokratischen Sozial- und Strukturgeschichte vorgeworfen, sie interessiere sich zu wenig für «normale» Menschen und wie diese, womöglich mit «Eigen-Sinn» (Alf Lüdtke) ihren Alltag bewältigen.
Grotrian gliedert ihre Arbeit in drei bzw. fünf Kapitel: Einleitung, (drei) Fallbeispiele, und drittens Ergebnisse und Ausblick. Im ersten Kapitel skizziert sie die Geschichtskultur Ende der 1970er, anfangs der 1980er Jahre in Westdeutschland. Das Ende des Fortschrittsoptimismus und die damit zusammenhängende Existenz und Prägekraft der neuen sozialen Bewegungen habe Identitäts- und Traditionsfragen auf die Tagesordnung gesetzt, bis hin zu Fragen von Heimat und Provinz, die quer zu dichotomen klassischen Links-Rechts-Kategorien verhandelt worden seien, ja diese Kategorien in Frage gestellt hätten. Im zweiten Kapitel untersucht die Verfasserin dann drei aus der Vielzahl von Initiativen ausgewählte Beispiele auf je 70 Seiten sehr ausführlich: Den Verein für ein Museum der Arbeitin Hamburg, die Geschichtswerkstatt Berlinund den Arbeitskreis Regionalgeschichte in Konstanz (Bodensee). Zu diesen fand Grotrian einen umfangreichen Quellenbestand vor, alle drei gehören zu den frühen Gründungen und alle drei nahmen in den bundesweiten Debatten und Vernetzungsanstrengungen eine wichtige und erkennbare Rolle ein. Grotrian stellt die Aktivitäten und das Profil dieser drei ausführlich vor. Konnte in Hamburg erfolgreich als einzigem Ort in dieser Periode ein solches Museum neu gegründet und schließlich erst 1997 eröffnet werden, so spielte in Berlin Stadtteilgeschichte, und die Diskussionen um «Betroffenheit» und Professionalisierung eine wichtige Rolle. Konstanz repräsentiert die «Provinz», vor allem durch die dort durchgeführten Projekte und den darin verfolgten «Ansatz», steht aber auch repräsentativ für die Debatte um das Verhältnis von Geschichtsinitiativen und Wissenschaft. Berlin und Konstanz waren zudem auch an der Gründung des bundesweiten Geschichtswerkstatt e.V. 1983 beteiligt.
Im letzten Kapitel werden, noch unter der Überschrift «Ergebnisse und Ausblick» die komplexen Vorgänge rund um die Gründung des bundesweiten Vereins Geschichtswerkstatt e.V. und die Zeitschrift Geschichtswerkstatt und die daraus 1992 konflikthaft ausgegründete WerkstattGeschichtegeschildert[2]. Hier kulminierten die Debatten um das Selbstverständnis und die Methoden der Geschichtswerkstätten. Unvermeidlich wurden dort auch die Debatten um Professionalisierung, Unabhängigkeit, Karrierismus oder Basisdemokratie versus Zentralismus geführt, die Grotrian auch skizziert. Die Geschichtsbewegung wurde auch aus der Wissenschaft heraus gegründet und von Personen wie den ProfessorInnen Adelheid von Saldern, Alf Lüdtke oder Lutz Niethammerwohlwollend begleitet. Im Laufe der Jahre konnten nicht nur einzelne Akteure aus der jüngeren Generation akademische Karrieren begründen, wichtiger war, dass die Existenz der Geschichtsbewegung die Entwicklung der Disziplin (bis hin zu Museen) sehr wohl beeinflusste.
Für Grotrian profitierten die vielen Geschichtsinitiativen vom «Geschichtsboom» jener Jahre, sie waren dessen Teil, und kritisierten ihn doch zugleich. Der durch die Geschichtsbewegung ausgelöste Streit habe zu einer Modernisierung der Geschichtswissenschaft geführt, auch wenn die Debatten damals erstaunlich scharf geführt worden seien. Theoretische und methodische Neuansätze seien eingeführt worden und die Debatte darüber, ob der Blick auf den Alltag die Strukturen vernachlässige, sei bis heute fruchtbar. Zu zwei seinerzeit heiß debattierten Themen kann sie Neuigkeiten zu Tage fördern. Zum einen sei die Frontstellung damals nicht zwischen universitären und nichtuniversitären AkteurInnen verlaufen, da viele der Aktiven selbst eine universitäre Ausbildung hatten, oder (prekär) an Universitäten arbeiteten: Auch Alltagsgeschichte brauche schließlich Theorie (S. 305). Und auch die weitverbreitete These, dass die Fraktion der Professionalisierer sich durchgesetzt habe, wie es die unübersichtlichen Vorgänge rund um die beiden Zeitschriften nahelegten, sei «nur zum Teil zutreffend» (S. 298). Der Konflikt sei - innerhalb der Bewegung - auch ein generationeller gewesen.
Grotrian hat ihre langjährige Forschung abschließen können und ein wichtiges Werk vorgelegt[3]. Sie kann zeigen, dass die Frontstellungen, wie sie oftmals nachträglich imaginiert werden, etwa hier demokratische Basisinitiativen, dort die bösen Akademiker so nicht stimmen, es vielmehr in jenen Jahren eine unübersichtliche Gemengelage gab, und Organisierung und Vernetzung (in einer Zeit ohne Internet und Mobiltelefon) ein aufwendiger und ambivalenter Prozess war, in dem letztlich Struktur und Inhalt eng verwoben waren.
«Geschichte von unten» ist nicht in den Kanon der Geschichtswissenschaft eingegangen, aber Alltagsgeschichte, feministische Geschichte und übergreifend «Public History» gibt es heute sehr wohl.
Ein Personen- und Stichwortverzeichnis rundet das absolut lesenswerte Buch ab.
Etta Grotrian: Barfuß oder Lackschuh? Geschichtswerkstätten und »neue Geschichtsbewegung« in den 1980er Jahren, www.epubli.de, Berlin 2023, ISBN 978-3-7575-1249-1, 370 Seiten, 26 Euro.
[1] Unter refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/37803ist die im Druck sehr preiswerte Publikationauch Open Access zugänglich. Auf der Website www.barfuss-oder-lackschuh.defindet sich eine Liste aller Geschichtswerkstätten, deren Existenz Grotrian nachweisen konnte. Vgl. auch Etta Grotrian: Vorgeschichte, Vorbild oder Sackgasse? – Zur Historisierung der «neuen Geschichtsbewegung» der Bundesrepublik der späten 1970er und 1980er Jahre. In: WerkstattGeschichte 75.2018, S. 15–24 (hier als PDF, Zugriff 11.9.2024).
[2] Geschichtswerkstatt erschien von 1983 bis 2001, Werkstatt Geschichte erscheint seit 1992. Werkstatt Geschichte ist hier komplettdigitalisiert zugänglich. Heute nahezu unbekannt ist die Zeitschrift (Publikationsreihe?) Ergebnisse. Zeitschrift für demokratische Geschichtswissenschaft (1978-1990), die zuerst als Hefte für historische Öffentlichkeit erschien. Einer der damals Beteiligten hat aus seiner Perspektive diese Geschichte viel später auch erzählt, vgl. Michael Wildt: Die große Geschichtswerkstattschlacht im Jahr 1992 oder: Wie WerkstattGeschichte entstand, in Werkstatt Geschichte, Heft 50, 2009, S. 73-81 (hier als PDF, Zugriff 21.8.2024).
[3] Weitere Beiträge sind zu erwarten. Die Dissertation von Lena Langensiepen (Titel Eine «Geschichte für alle»? Zivilgesellschaftliche Geschichtsinitiativen in Hamburg zwischen Stadtteilkultur und »neuer Geschichtsbewegung« in den 1980er und 1990er Jahren) wird in der Reihe Forum Zeitgeschichte der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg 2024/25 im Wallstein Verlag, Göttingen erscheinen. Brigitta Bernet befasst sich an der Universität Zürich in ihrem aktuellen Forschungsprojekt mit dem Titel »Microstoria. Politik und Praxis eines historiographischen Aufbruchs in den 1960er und 70er Jahren« mit «der Kritik und Erneuerung der Geschichtsschreibung in den 1960er und 70er Jahren», www.fsw.uzh.ch/de/personenaz/bernet.html, Zugriff 21.8.2024.