Im Irak wird derzeit ein Gesetz zur Legalisierung von Kinderehen verabschiedet, das eine grundlegende Änderung des Personenstandsgesetzes darstellt. Diese Gesetzesänderung bedeutet nicht nur eine gravierende Einschränkung der Rechte von Frauen, sondern zielt auch darauf ab, ein konfessionell geteiltes System weiter zu festigen. Das neue Gesetz ist Teil eines größeren politischen Machtkampfs um die Vorherrschaft im Land und spiegelt die Bemühungen der derzeitigen Regierung wider, bestehende Machtstrukturen zu stärken.
Von einem Sommerloch in der parlamentarischen Debatte kann im Irak keine Rede sein. Auch auf den Straßen ist die Situation alles andere als ruhig. Die Zivilgesellschaft und insbesondere feministische Organisationen und Verbände protestieren gegen die Änderung des Personenstandsgesetzes (Gesetz Nr. 188), die von der Regierung seit Ende Juli 2024 vorangetrieben wird. Das Gesetz war in den vergangenen Jahren immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen; derzeit geht es um die Änderung des zweiten Paragrafen, der die Eheschließung regelt. Deren sämtliche Aspekte sollen demnach künftig nicht mehr dem Zivilrecht unterliegen, sondern der jeweiligen Rechtsschule der Konfessionen, denen die Eheleute angehören. Das ist ein taktischer Schachzug ohnegleichen: Anstatt das Gesetz abzuschaffen oder in Gänze zu ändern – diesbezügliche Vorstöße riefen in der Vergangenheit zivilgesellschaftlichen Widerstand hervor –, wird sich auf einen Paragrafen konzentriert, der jedoch für alle Bereiche der Ehe gelten soll: unter anderem für das Sorgerecht, das Erbrecht und die «Pflichten der Frau in der Ehe» – auch in sexueller Hinsicht. Nach der islamischen Jurisprudenz (Fiqh) sind Frauen in diesen Bereichen massiv benachteiligt.[1] Die geplante Gesetzesänderung würde die Verheiratung von Mädchen ab neun Jahren und Jungen ab fünfzehn Jahren legalisieren. Insgesamt würden Bürger*innen nicht mehr als Zivilist*innen mit gleichen Rechten angesehen, vielmehr wäre die Konfession entscheidend und selbst Eheleute würden sich als Angehörige unterschiedlicher Konfessionen gegenüberstehen. Es droht eine massive Spaltung der irakischen Gesellschaft.
Ansar Jasim hat in Marburg und London Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlicher Solidarität aus theoretischer und praktischer Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und Irak.
Hussain Al-Najar ist Politikwissenschaftler und Mitglied der Allianz 188, die die Änderung des Personenstandgesetzes ablehnt und verantwortlich für die mediale Arbeit des Zusammenschlusses. Er war aktiv an den Protesten des Tashrin (Oktober) Aufstands im Irak 2019 beteiligt, ist Redakteur bei der kommunistischen Zeitung Tareeq al-Sha´b und zudem Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Irak.
Das Gesetz 188 von 1959 – eine regionale Revolution
Das Gesetz 188 basierte auf einem Vorschlag der Kommunistin Naziha Al-Dulaimi – einer schillernden Figur der feministischen Bewegung im Irak seit den 1940er-Jahren. Nach dem Sturz der probritischen Monarchie übernahm sie 1959 als erste Frau im gesamten arabischsprachigen Raum ein Ministeramt.
Bis zu diesem Zeitpunkt war das Personenstandsgesetz nach der Scharia der sunnitischen Rechtsschule der Hanafiten geregelt worden.[2] Die sunnitischen und schiitischen Rechtsgelehrten hatten sich bis dahin gegen eine Kodifizierung des Personenstands gestellt, also gegen eine Vereinheitlichung der geltenden Normen und gegen eine Überführung in staatliches Recht. Denn somit wären Familienangelegenheiten an staatliche Autoritäten übertragen worden, was eine massive Beschneidung ihrer Autorität bedeutet hätte. Einer der strengsten Gegner war der Großajatollah Muhsin Al-Hakim.
1959 wurde nun das Gesetz 188 eingeführt, das in großen Teilen mit der Scharia brach und versuchte, die Geschlechterbeziehungen fair zu regeln: Polygamie wurde verboten und das Heiratsalter auf 18 Jahre angehoben. Zum Schutz der Rechte der Frauen wurde die Registrierung von Eheschließungen bei staatlichen Gerichten vorgeschrieben. Zudem sprach das Gesetz das Sorgerecht für Kinder primär den Frauen zu und sicherte ihre Ansprüche auf Unterhalt oder Mitgift.
Dies blieb nicht ohne Widerstand: Die religiösen Autoritäten hatten bereits durch die Abschaffung des Feudalsystems und durch die Revolution von 1958 wirtschaftliche Rückschläge einstecken müssen. Mit dem Personenstandsgesetz wurde ihre Machtposition weiter geschwächt. Die Geistlichen hatten das Gefühl, dass das Zivilrecht über göttliches Recht gesiegt hatte. In der Folge wurden Al-Dulaimi und ihre Familie bedroht. Immer wieder kam es zu Angriffen auf Zweigstellen des Frauenverbands.
Nach dem ersten Putsch der Baathisten im Februar 1963, mit dem sie die Revolutionsregierung stürzten,[3] wurde das Gesetz 188 zunächst aufgehoben. Doch bereits zwei Monate später, nach einem erneuten Machtwechsel, wurde es wieder eingeführt. Mit der erneuten Machtübernahme der Baath-Partei 1968, bei der Saddam Hussein als stellvertretender Generalsekretär eine zentrale Rolle spielte, wurden alle Frauenorganisationen im Land zentralisiert und unter staatliche Kontrolle gestellt. Der Frauenverband von Naziha Al-Dulaimi konnte fortan nur noch im Exil arbeiten, Al-Dulaimi selbst musste 1978 den Irak verlassen und lebte zuletzt bis zu ihrem Tod 2007 in Potsdam.
Frauen und US-Imperialismus im Irak nach 2003
Die «Befreiung der irakischen Frau» stellte einen Grundpfeiler der US-Rhetorik zur Rechtfertigung des Kriegs gegen den Irak 2003 dar, spielte dann aber während der Besatzung fast keine Rolle mehr.[4] Im Gegenteil: Die Politik der US-Besatzung hat den Frauen im Irak massiv geschadet. Ihre Erwerbstätigkeit ist nach 2003 stark zurückgegangen. Gründe hierfür sind – neben der Unsicherheit im Land – die massive Liberalisierung der irakischen Wirtschaft durch die USA und die Auflösung bzw. Privatisierung von staatlichen Unternehmen, in denen mehr als die Hälfte der erwerbstätigen Frauen gearbeitet hatten.
Als die USA im Irak einen 25-köpfigen Übergangsrat einsetzten, ernannte der damalige Chef der US-Besatzungsverwaltung, Paul Bremer, genau drei weibliche Mitglieder. Der Übergangsrat mit lediglich beratender Funktion verabschiedete im Dezember 2003 das Dekret 137 zur Abschaffung des irakischen Personenstandsgesetzes von 1959. Vorsitzender des Rates war Abd Al-Aziz Al-Hakim, Sohn des Großajatollahs Muhsin Al-Hakim, der sich schon in den 1950er-Jahren vehement gegen das Personenstandsgesetz gestellt hatte. Wochenlang protestierten daraufhin hunderte Feminist*innen von mehr als 80 Frauenorganisationen gegen das Dekret. Auch hier ging es nicht nur um die Diskriminierung von Frauen – die die Einführung der Scharia anstelle des Zivilrechts nach sich gezogen hätte –, sondern um die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen: eine konfessionelle Spaltung der Gesellschaft. Es dauerte mehrere Wochen, bis Paul Bremer das Dekret 137 schließlich ablehnte. Durch diese massive Verzögerung verlor er in der gut organisierten feministischen Szene weiter an Glaubwürdigkeit.
Konfessionalistische Gesetzgebung durch die Hintertür
Vor diesem Hintergrund ist der aktuelle Disput um die Änderung des Personenstandsgesetzes zu sehen. «Es geht darum, religiöse Macht zu demonstrieren», sagt der Bagdader Historiker Rifat Abdelrazak.[5] Und der Richter Hadi Aziz Ali erläuterte Anfang August 2024 auf einer Podiumsdiskussion in einem linken Gemeinschaftszentrum: «Die Änderung des Personenstandgesetzes ist nicht einfach nur ein Kampf um ein gesetzliches Thema oder um das gesetzliche System im Allgemeinen, vielmehr ist es ein politischer Kampf, dessen Wurzeln Jahrzehnte zurückreichen – zwischen den Kräften, die einen zivilen Staat wollen, und jenen, die einen konfessionalistisch geteilten Staat […] wollen.»[6]
Die Auseinandersetzung um das Gesetz 188 macht den Stellungskampf zwischen den zivilen Kräften und Parteien, die aus der Protestbewegung von 2019 hervorgegangen sind, und der herrschenden Klasse der konfessionalistischen Parteien sowie der religiösen und bewaffneten Kräfte im Irak deutlich. Dieser Kampf wird auf dem Rücken und über die Körper der Frauen ausgetragen.
Die verschiedenen Parteien, die an den letzten Regierungen beteiligt waren, brachten immer wieder Vorschläge zur Änderung des Personenstandsgesetzes nach dem Recht der Scharia ins Parlament ein. Einer der letzten Versuche war im Jahr 2021 die Änderung des Paragrafen 57, der besagt, dass Mütter «den größeren Anspruch auf das Sorgerecht des Kindes» haben. Alle Änderungsvorschläge sind bisher jedoch an der massiven parlamentarischen und außerparlamentarischen Mobilisierung der Zivilgesellschaft gescheitert. Dieses Mal scheinen sich die Kräfteverhältnisse jedoch verschoben zu haben: Mitte August 2024 stimmte das Parlament einer Änderung der Personenstandsgesetzgebung zu. Der tatsächliche Gesetzestext ist im Detail noch unklar und soll in den kommenden sechs Monaten von schiitischen und sunnitischen Geistlichen ausformuliert werden. Danach wird es zu mehreren Lesungen, Diskussionsphasen und Anhörungen im Parlament und im zuständigen Ausschuss kommen. Zudem muss geprüft werden, ob das Gesetz verfassungskonform ist.
Systematischer Krieg gegen die irakische Zivilgesellschaft
Der amtierende Ministerpräsident Mohammad Shia’ Al-Sudani und seine Regierung führen seit ihrem Machtantritt im Jahr 2022 einen regelrechten lawfare – einen Rechtskrieg gegen die Zivilgesellschaft: Durch eine Reihe von Gesetzen und Dekreten soll sie systematisch eingeschränkt und geschwächt werden. So gab es Änderungen bei der Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und den Versuch, sich massiv in ihre Angelegenheiten einzumischen. NGOs wurde die Arbeit an Hochschulen untersagt. Zivilgesellschaftlich aktive Personen wurden und werden überwacht und bedroht. Die 1948 gegründete und historisch links geprägte General Union of Students in the Iraqi Republic (GUSIR) wurde an den Universitäten verboten und der 14. Juli, der an die Revolution von 1958 erinnert, als Feiertag gestrichen.
Feministische Allianzen und Gegenhegemonie
Seit Wochen finden in verschiedenen Städten des Irak täglich Demonstrationen gegen die Änderung des Personenstandsgesetzes statt. Anfang August 2024 schlossen sich Vertreter*innen der feministischen Bewegung, zivilgesellschaftlicher Organisationen, einer Reihe politischer Kräfte, ziviler und demokratischer Parteien sowie juristische, akademische, soziale, religiöse und parlamentarische Persönlichkeiten zur «Allianz 188 zur Verteidigung des geltenden Personenstandsgesetzes» zusammen. Dieses Bündnis lehnt die geplante Änderung des Personenstandsgesetzes kategorisch ab, da sie «einen eklatanten Verstoß gegen die Verfassung und die darin enthaltenen Rechte und Freiheiten» darstelle. Es wird befürchtet, dass dadurch der Konfessionalismus im Irak gefördert und gesetzlich verankert wird. Bei vielen Iraker*innen ruft dies düstere Erinnerungen an die schlimmen Tage zwischen 2006 und 2009 hervor, als konfessionalistische Gewalt den Alltag insbesondere der Menschen in Bagdad bestimmte.
Auf den Demonstrationsplakaten der Widerständigen ist zu lesen: «Es gibt keine Aya [dt.: Vers] im Koran, die das Sorgerecht den Müttern entzieht», oder «Nein und tausendmal Nein zu einer erneuten Versklavung [der Frau]». Eine Gruppe junger Männer solidarisiert sich mit einem Plakat, auf dem zu lesen ist: «Der Kampf gegen die Unterdrückung der Frau ist wichtig für Männer und Frauen für einen revolutionären Wandel und nicht nur für die Frauen». Die «Allianz 188» hat das Potenzial, die feministischen Bewegungen, die an verschiedenen Orten und mit unterschiedlichen Ausrichtungen für ihre Rechte eintreten, zu vereinen. Aber auch das ist eine Herausforderung, denn die feministische Szene im Irak ist seit 2003 vor allem in der Frage gespalten, ob sie mit progressiven religiösen Akteuren zusammenarbeiten darf oder nicht.
Naziha Al-Dulaimi und andere irakische Feminist*innen machten schon in den 1950er-Jahren die Intersektionalität emanzipatorischer Kämpfe deutlich. Sie forderten die Einstellung aller Atomtests, setzten sich für solidarische Beziehungen zwischen Araber*innen und Kurd*innen im Irak ein und unterstützten die Befreiungsbewegungen in Asien und Afrika. Nach Jahren der Diktatur, der US-Besatzung, der konfessionalistischen Gewalt und der De-facto-Herrschaft religiöser Milizen sowie einer extraktivistischen Ölpolitik im Bündnis mit dem internationalen Kapital sind die feministische Bewegung und die Zivilgesellschaft im Irak stark geschwächt.[7] Eine internationalistische Unterstützung, wie sie Al-Dulaimi einst aus einer Position der Stärke heraus eingefordert hat, brauchen heute diejenigen, die im Irak wieder an vorderster Front stehen, um eine Gegenhegemonie zum herrschenden konfessionalistischen und kapitalistischen System aufzubauen.
[1] Die islamische Jurisprudenz ist eine Disziplin der islamischen Theologie, die sich mit der Entwicklung von Normen zur Organisierung des gesellschaftlichen Lebens in muslimischen Gesellschaften befasst. Sie unterliegt prinzipiell einer Wandelbarkeit der Normen und ist durch innere Pluralität und Diversität gekennzeichnet.
[2] Die Hanafiten sind Anhänger einer der vier Rechtsschulen des sunnitischen Islam. Da die Regionen, die 1920 Teil des Staates Irak wurden, zum Osmanischen Reich gehört hatten, wo die hanafitische Rechtsschule dominant war, wurde diese Regelung übernommen.
[3] Die Baath-Partei hat ein arabisch-nationalistisches, sozialistisches Selbstverständnis. Im Irak war sie 1963 kurzzeitig an der Macht und übernahm zwischen 1968 und 2003 erneut den Staat. 1979 putschte Saddam Hussein innerhalb der Partei und wurde somit zunächst Generalsekretär und anschließend Staats- und Regierungschef.
[4] Der Irak war seit Kriegsbeginn am 20. März 2003 bis November 2011 offiziell von den USA besetzt. Weiterhin sind mehr als 2.500 Truppen und drei Hauptmilitärbasen in Bagdad, Kurdistan und dem Westen des Landes stationiert.
[5] Autorisiertes Zitat aus einem persönlichen Gespräch am 11. August 2024 in Bagdad.
[6] Tareeq Ashaab. Der Richter Hadi Aziz Ali zum Personenstandsgesetz, in: Tareeq Ashab, 8.8.2024, S. 2.
[7] «Extraktivismus» bezeichnet ein Wirtschaftsmodell, das auf der intensiven Ausbeutung und dem Export unverarbeiteter Rohstoffe beruht, oft verbunden mit Investitionen vor allem ausländischer Wirtschaftsakteure. Dieses Modell führt zu einer geringen Wertschöpfung und somit zu einer hohen Abhängigkeit der betroffenen Regionen von den Weltmarktpreisen. Hinzu kommen enorme ökologische Kosten sowie massive negative gesundheitliche und wirtschaftliche Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung.