Am 20. September 2024 hat der von Emmanuel Macron ernannte Ministerpräsident Frankreichs seine Regierung vorstellt. Ohne eigene Mehrheit wird sie auch auf die Stimmen der zweitstärksten Kraft im Parlament, des rechtsextremen Rassemblement National (RN), angewiesen sein. Aber wie konnte der RN über ein Drittel der Wähler*innen hinter sich versammeln? Und welche Häutungen hat die Partei seit ihrer Gründung als faschistische Splitterpartei durchlaufen?
Nach dem überraschenden Sieg des Linksbündnis Nouveau front populaire (NFP, «Neue Front des kleinen Volkes») in der Stichwahl für die Nationalversammlung am 7. Juli 2024 hatte Staatspräsident Emmanuel Macron die Ernennung einer linken Premierministerin verweigert. Stattdessen entschied er sich am 5. September für die Ernennung eines Konservativen, den früheren EU-Kommissar Michel Barnier. Der hatte als Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur der konservativen Partei Les Républicains (LR, «Die Republikaner») im Jahr 2021 selbst radikale Positionen zur Einwanderungspolitik vertreten – auch in Frankreich eines der wichtigsten Wahlkampfthemen.
Bernard Schmid, geboren 1971 in Süddeutschland, lebt in Paris. Der promovierte Arbeitsrechtler arbeitet hauptberuflich als Anwalt. Nebenberuflich ist er als freier Journalist und Publizist tätig. Seit 1990 arbeitet er zum Front National und weiteren Themen wie Gewerkschaften und soziale Bewegungen in Frankreich und Nordafrika.
Mit der Ernennung Barniers setzte Macron einen Kurs, der offenkundig darauf hinausläuft, eine Tolerierungslösung für eine liberal-konservative Minderheitsregierung zu finden. Diese soll eine Antwort auf die Frage fehlender parlamentarischer Mehrheiten liefern. Keines der drei größeren politischen Lager – das heterogene Linksbündnis NFP, das wirtschaftsliberale Macron-Lager sowie die extreme Rechte mit ihren Verbündeten – hatte eine entsprechende Anzahl an Sitzen erringen können.
Aufgrund bestehender Mehrheitsverhältnisse kann eine Regierung Barnier nur bestehen, wenn sie im Parlament nicht auf das ausgesprochene Misstrauen der Linkskräfte und des Rassemblement National (RN) zugleich stößt. Angestrebt wird also, dass der RN ohne eigene Regierungsbeteiligung das künftige Kabinett toleriert. Die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde behauptete ferner, die Ernennung Michel Barniers sei nach einem abschließenden direkten Telefonanruf zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen erfolgt, was beide dann allerdings dementierten.
Einen solchen Einfluss auf eine bürgerliche Regierungsbildung hat die rechtsextreme Partei noch nie genossen.
Dazu hat der RN seinerseits angekündigt, er werde ein Kabinett Barnier jedenfalls nicht zu Anfang stürzen. Zugleich schraubte er seine Ansprüche im Laufe der ersten drei Septemberwochen zunehmend hoch. So schloss die Parteiführung bestimmte bürgerliche Politiker, wie den bisherigen Macron-nahen Justizminister Eric Dupond-Moretti und den nordfranzösischen Regionalpräsidenten Xavier Bertrand (LR), ausdrücklich von einer vom RN geduldeten Kabinettsbildung aus, da beide sich despektierlich über die eigene Partei geäußert hätten. Sonst drohe das Kabinett über das Misstrauensvotum des RN zu stürzen. Jordan Bardella sprach davon, man werde die künftige Regierung «unter die demokratische Überwachung» der eigenen Leute stellen (Journal du dimanche, 7.9.2024).
Einen solchen objektiven Einfluss auf eine bürgerliche Regierungsbildung hat die rechtsextreme Partei bis dahin noch nie genossen. Schon bei der Verabschiedung eines neuen, verschärften Ausländergesetzes (Loi Darmanin) im Dezember 2023 hatte der RN allerdings entscheidenden Einfluss genommen. Die Gesetzesnovelle fand nur mithilfe der LR-Konservativen und Rassemblement National eine Mehrheit, über die die Macron-Anhänger*innen allein nicht verfügt hätten; ihr sozialliberaler Flügel verweigerte überdies die Zustimmung.
Die Anfänge des Front National als rechtsextreme Splitterpartei
Die Geschichte des früheren Front National (FN), der im Juni 2018 in Rassemblement National (RN, «Nationale Sammlung») umbenannt wurde, lässt sich grob in vier Phasen einteilen.
Der maßgeblich vom Vater Marine Le Pens, Jean-Marie Le Pen, gegründete Front National war in den ersten zehn Jahren, von 1972 bis 1982, eine Splitterpartei, deren Wahlergebnisse auf landesweiter Ebene regelmäßig um die 0,3 Prozent der Stimmen lagen. Der FN bildete zunächst ein Sammelbecken der Aktivistengenerationen, die in sich früheren Perioden, etwa während der Nazikollaboration, des Algerienkriegs oder der rechtsextremen Studentenbewegungen ab Mitte der sechziger Jahre herausgebildeten hatten. Ziel war es, diese politischen Strömungen zusammenzuhalten und einen Verlust von politischem Personal und Organisationserfahrung zu vermeiden.
Die zweite Phase wurde 1982 mit den ersten Wahlsiegen eingeläutet, zunächst auf lokaler Ebene. Der neue Generalsekretär des Front National, Jean-Pierre Stirbois (verstorben bei einem Autounfall 1988), führte erste erfolgreiche Wahlkämpfe in der Industriestadt Dreux westlich von Paris. Es folgen Erfolge bei Kreistags- und Rathauswahlen, und schließlich ab der Europaparlamentswahl im Juni 1984 auch auf nationaler Ebene. In dieser Periode schaffte es der FN vor allem, eine von ihren bisherigen Parteien enttäuschte und sich von den bürgerlichen, liberalen, konservativen oder postgaullistischen Formationen wie RPR (Rassemblement pour la République, «Sammlung für die Republik») und UDF (Union pour la démocratie française, «Union für die französische Demokratie») und ablösende Rechtswählerschaft anzuziehen. Dieses Segment der Wählerschaft bestand vorwiegend aus traditionellen Mittelklassen, die sich durch ökonomische Modernisierung Frankreichs und Kapitalkonzentration vom Abstieg oder gar in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sahen, etwa Kleingewerbetreibende und Ladenbesitzer.
Der damalige FN positionierte sich überwiegend wirtschaftsliberal, zugunsten der Verteidigung des Privateigentums – vor allem auch der Kleineigentümer –, gegen «zu starke» Gewerkschaften und ein «zu rigides Arbeitsrecht». Er verteidigte Ronald Reagan und Margaret Thatcher und die von ihnen ab 1979/80 in ihren Ländern eingeleitete neoliberale Wende.
Ein neuer Einschnitt erfolgte ab 1990: Insbesondere die oft gut ausgebildeten Intellektuellen an zentraler Stelle in der Partei nahmen nun auch die frühere Linkswählerschaft in den Blick. Protagonist war der damalige «Generalbeauftragte» (délégué général) und Chefideologie des FN, Bruno Mégret. Er wurde 1998 durch Jean-Marie Le Pen als Konkurrent geschasst.
Diese strategische Wende hatte einen doppelten Hintergrund. Auf der einen Seite stellte die Strömung um Mégret fest, an der Seite der Konservativen gebe es keinen Raum für weiteres Wachstum der Partei. Die dominierenden konservativen Kräfte setzten darauf, durch symbolpolitische Angebote wie etwa die Übernahme eines harten Diskurses zu den Themen «Einwanderung» und «Innere Sicherheit» – mit Tönen, die denen der extremen Rechten in einigen Punkten stark ähnelten – die vom FN angezogenen Wähler*innen zurückzugewinnen. Zugleich hatten die Konservativen bei ihrer Rückkehr in die Regierung im Jahr 1986 das kurzzeitig geltende Verhältniswahlrecht abgeschafft und das Mehrheitswahlrecht wieder eingeführt. Dies ließ einer damals 10 bis 15 Prozent wiegenden Partei nur noch die Wahl, sich entweder soweit «zähmen» zu lassen, dass bürgerliche Kräfte ihr für den entscheidenden zweiten Wahlgang einige aussichtsreiche Wahlkreise überlassen, oder aber aus dem Parlament zu verschwinden. Allein konnte sie nämlich die Hürden des Mehrheitswahlrechts nicht nehmen. Allenfalls einzelne Parlamentssitze ließen sich gewinnen, etwa ein einziges Mandat bei der Parlamentswahl 1988.
Andererseits aber nahmen die führenden rechtsextremen Strategen an, durch den Fall der Berliner Mauer 1989 sowie die Implosion der UdSSR 1991 öffne sich ein Raum für ihre politische «Bewegung». Denn der diagnostizierte, angebliche «Tod des Marxismus» biete ihr die Chance, nunmehr allein die soziale Frage im politischen Raum aufzuwerfen, da es keine Alternative als die «nationale» zu den herrschenden wirtschaftsliberalen Kräften mehr gebe.
Hinwendung zur sozialen Demagogie
In den Jahren von 1990 bis 1995 setzte der FN mehr und mehr auf soziale Demagogie und auf Staatsinterventionen zugunsten der nationalen Wirtschaft. Diese Wende weg vom wirtschaftsliberalen hin zu einem eher nationalistisch-keynesianischen Programm vollzog die Partei nicht erst unter Marine Le Pen ab 2011, der oft eine «größere soziale Sensibilität» zugeschrieben wird. Doch bereits unter ihrem Vater Jean-Marie Le Pen wurde dieser Kurswechsel, federführend durch Bruno Mégret, eingeleitet.
So klaffen der Wirtschaftsdiskurs der bürgerlichen Rechten und jener der neofaschistischen extremen Rechten in Frankreich seit Mitte der neunziger Jahre auseinander. Denn die dominierenden Fraktionen der bürgerlichen Rechten, von den Vorläuferparteien RPR und UDF über die 2002 gegründeten Sammelformation UMP (Union pour un mouvement populaire, «Union für eine Volksbewegung») bis hin zu deren Umbenennung als Les Républicains (LR) im Jahr 2015, verfolgen ein stark wirtschaftsliberales Programm. Der frühere FN und jetzt der RN hingegen kritisierten vielfach dessen Auswirkungen.
Parallel dazu vollzog die bürgerliche Rechte selbst einen Prozess, in dem sie in wachsendem Ausmaß Forderungen und Symbole der extremen Rechten auf Themenfeldern wie der Einwanderungspolitik übernimmt und dadurch versucht, das Potenzial des RN aufzusaugen. Diese Entwicklung ist stark mit dem Namen Nicolas Sarkozy, Innenminister (mit einigen Monaten Unterbrechung) zwischen 2002 und 2007 und Staatspräsident von 2007 bis 2012, verbunden. Er richtete etwa im Mai 2007 ein eigenes «Ministerium für Zuwanderung und nationale Identität» ein und hielt im Juli 2010 seinen berühmt gewordenen discours de Grenoble, eine Brandrede zum angeblichen Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kriminalität.
Das Spätergebnis dieser Entwicklung ist die im Juni 2024 auch organisatorisch vollzogene Spaltung der Konservativen. Diese waren zuvor, durch den Aufstieg des RN auf ihrer Rechten und parallel dazu der Macron-Anhänger in der bürgerlichen Mitte, von zwei Seiten her unter Druck geraten und hatten begonnen, sich auf die beiden Lager links und rechts der Partei LR zu orientieren.
Am 11. Juni 2024 verkündete der LR-Vorsitzende und Nizzaer Abgeordnete Eric Ciotti, zu den vorgezogenen Parlamentswahlen am 30. Juni ein offenes Wahlbündnis mit dem rechtsextremen RN einzugehen. Der im Dezember 2022 zum Vorsitzenden gewählte Ciotti stammt vom ideologisch radikalen Flügel der Partei und teilte insbesondere in der Einwanderungspolitik viele Standpunkte des RN. So hätten in Zeiten des «Krieges gegen den Islamismus» rechtsstaatliche Grundsätze nicht zu gelten, und es müsse ein Sonder-Strafgerichtshof eingerichtet werden. Der selbst für viele seiner Parteifreund*innen überraschende Schachzug spaltete die LR endgültig. Infolge der Wahlen vom Juni/Juli 2024 sind nunmehr 16 Abgeordnete aus den Reihen von LR in Listenverbindungen mit dem Rassemblement National in die französische Nationalversammlung gewählt worden. Weitere 47 Abgeordnete hatten auf eigenen Listen kandidiert, die kein Bündnis mit dem RN eingingen.
Elastisches Sozialprogramm
Nach den hohen Stimmanteilen des RN bei den vorausgegangenen Europaparlamentswahlen am 9. Juni 2024 wurden dem RN ein erstmaliger Wahlsieg bei den Parlamentswahlen und eine eventuelle Regierungsübernahme prognostiziert. 27 von 29 Umfragen, die zwischen den beiden Durchgängen der Parlamentswahl veröffentlicht wurden, schienen ein solches Ergebnis vorauszusehen. Infolge eines spontanen antifaschistischen Reflexes in weiten Teilen der Wähler*innenschaft und der gegenseitigen Rücksichtnahme von Linken und Liberalen, die jeweils ihre schlechter platzierten Kandidaturen vor den Stichwahlen zugunsten des jeweils anderen Lagers zurückzogen, um nicht einen Wahlerfolg des RN mit relativer Mehrheit zu begünstigen, kam es nicht dazu. Am Ende gewann der RN in den Wahlkreisen, in denen er mit Kandidat*innen vertreten war, dennoch 37 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Im Vorfeld der Wahl geriet das Wirtschafts- und Sozialprogramm des RN unter erheblichen Druck, insbesondere von Arbeitgebervertretern. Auch der neue Bündnispartner Eric Ciotti von der Partei Les Républicains hielt das bisherige Wirtschafts- und Sozialprogramm des RN für zu «links» und damit für eine Verirrung. Der Parteivorsitzende Jordan Bardella, im November 2022 als Nachfolger von Marine Le Pen gewählt, wollte durch einen Besuch beim Arbeitgeberverband MEDEF am 18. Juni 2024 die Wogen glätten. Eric Ciotti, der ihn begleitete, sollte dabei wie ein Garant dafür sorgen, dass der RN nicht allzu stark mit seinen von sozialer Demagogie geprägten Positionen wahrgenommen wird.
Bardella führte sich denn auch beim MEDEF ein wenig auf wie bei einem Gang nach Canossa. Die Arbeitgeberverbände ihrerseits bleiben jedoch gegenüber einer potenziellen RN-Regierung gespalten. Die größeren, weltmarktorientierten sowie die im IT-Sektor tätigen Unternehmen standen der Partei eher feindlich gegenüber, viele mittelständische Unternehmen waren dem RN jedoch wohlgesonnen.
Dies gilt insbesondere für den Bereich der Rentenpolitik.
In der Rentenpolitik haben der FN und später der RN mehrere Häutungen vollzogen.
Ursprünglich positionierte sich die Partei unter ihrem damaligen Chef Jean-Marie Le Pen gegen das herabgesetzte Rentenmindestalter. Nachdem es 1982 auf 60 Jahre heruntergesetzt wurde, forderte er stets eine Rückkehr zu 65 Jahren. Die Rente mit 60 galt bis November 2010, als eine «Reform» unter Präsident Sarkozy das Mindesteintrittsalter zunächst auf 62 anhob. Zuletzt hatte dann Emmanuel Macron im April 2023 die Anhebung 64 Jahre durchgesetzt (die derzeit Jahrgang für Jahrgang schrittweise erreicht werden). Dieses Mindesteintrittsalter garantiert allerdings nur das Recht, mit Strafabzügen bei fehlenden Beitragsjahren – derzeit unter 42, künftig unter 43 – in Rente zu gehen. Eine Rente ohne Strafabzüge wird ansonsten, vor wie nach den jüngsten Reformen, erst ab 67 garantiert.
In Reaktion auf die Massenproteste im Sommer und Herbst 2010 schlug Marine Le Pen schlagartig das Ruder herum und forderte als Präsidentschaftskandidatin im Vorfeld der Wahl im Frühjahr 2012 eine Rückkehr zum Rentenmindestalter von sechzig. Daraufhin polterten viele Konservativen gegen ihre Position, sie schließe sich dadurch den Kräften der Linken an, die ihrerseits diese Forderung vertraten. In den Folgejahren revidierte Marine Le Pen jedoch den neuen Kurs. Vor den Präsidentschaftswahlen von 2022 stellte sie in ihrem Programm das Recht auf einen Renteneintritt ab sechzig nur noch für diejenigen Lohnabhängigen in Aussicht, die im Alter zwischen 14 und 20 zu arbeiten begonnen hatten. Das betrifft in der älteren Arbeiter*innen-Generation noch einige, in den nachwachsenden Generationen aber nur wenige. Denn in Frankreich, wo es kein duales Berufsausbildungssystem geht, und alle späteren Beschäftigten das allgemeine Schulwesen durchlaufen, machen 80 Prozent eines Jahresgangs Abitur. Aber für diejenigen, die das Kriterium der Berufsaufnahme vor zwanzig nicht erfüllen, will das seit 2022 gültige RN-Programm lediglich das Recht auf Rentenantritt mit 42 Beitragsjahren garantieren.
Am Abend des 25. Juni 2024 war der RN-Vorsitzende Bardella bei einer Fernsehdebatte mit einer Nachfrage konfrontiert, wie sich die Lage eines Lohnabhängigen darstelle, der im Alter von 24 ins Erwerbsleben eingetreten war und seitdem kontinuierlich arbeite. Darauf antwortete Jordan Bardella, dieser könne dann mit 66 in Rente gehen. Das wäre eine noch härtere Position als die der Regierung, denn diese «erlaubt» es dem Mann, sich schon mit 64 pensionieren zu lassen, wenn auch mit Verlusten aufgrund zweier fehlender Beitragsjahre.
Ideologische Flexibilität auf dem Weg zur Macht
Dies bedeutet eine erhebliche Neuerung in der Selbstdarstellung des RN, die bis dahin jedenfalls dafür Sorge trug, nicht so zu wirken, als bringe eine Regierungsbeteiligung der Partei soziale Verschlechterungen mit sich. Dafür gibt es verschiedene Gründe.
Zweifellos wollte Bardella bei der Debatte dem Risiko vorbeugen, es kurz vor der Wahl so aussehen zu lassen, dass die extreme Rechte soziale Versprechungen abgebe, die sich zwei Wochen später als hinfällig herausstellen würden. Dabei ging es darum, einem «Realitätsschock» vorzubeugen, der daraus resultieren könnte, dass der Vergleich zwischen den Ankündigungen «davor» und denen «danach» – nach einem Regierungseintritt – allzu riesige Unterschiede auftreten ließe. Dies hätte die Partei, auf der seitens ihrer Wähler*innenschaft zweifellos ein gewisser Erwartungsdruck lastete, da es sich um ihre erste Regierungsbeteiligung jemals gehandelt hätte, in deren Augen diskreditieren können.
Es geht nun darum, die vormalige konservative Rechte zu ersetzen und zur einzigen bedeutenden Rechtspartei überhaupt zu werden.
Noch grundsätzlicher ist zu beobachten, dass sich der RN seit der Vorbereitung auf die jüngsten Parlamentswahlen im politischen und gesellschaftlichen Gefüge neu aufstellt. Nachdem die französischen Konservativen sich definitiv organisatorisch und politisch in einen RN-nahen und einen Macron-freundlichen Flügel aufspalteten, ist ein Teil des Führungskaders beim Rassemblement National der Auffassung, nun sei die Zeit vorbei, in welcher man sich neben der bürgerlichen Rechten und gegen diese entwickeln und dabei einen eigenen Raum finden musste. Vielmehr gehe es nun darum, die vormalige konservative Rechte zu ersetzen und zur einzigen bedeutenden Rechtspartei überhaupt zu werden. Dies müsse aber auch beinhalten, sozial konservative und wirtschaftsliberale Positionen wieder zu besetzen, die man bis dahin zugunsten eines von sozialer Demagogie geprägten Diskurses – mit dem man sich außerhalb der Konservativen platzierte – zurückgestellt hatte. Gewissermaßen gehe es nun nicht mehr darum, die Konservativen vor sich herzutreiben, da dieser Prozess quasi zum Abschluss gekommen sei, sondern ihren Platz einzunehmen.
Dem entspricht auch eine Veränderung in der Zusammensetzung der Gruppen, die den RN finanzieren. Die Hauptrolle bei der legalen und illegalen Parteienfinanzierung des Rassemblement National – ihre außergesetzlichen Aspekte trugen dem RN in jüngster Zeit Prozesse ein – spielte bis vor kurzem die so genannte GUD Connection, also der Altherrenclub der 1969 gegründeten, offen gewalttätig auftretenden Studentengruppierung Groupe Union Défense (GUD). Letztere wurde infolge neuer Gewaltvorfälle am 26. Juni 2024 vom französischen Innenministerium verboten. Zu den «Alten Herren» zählten Personen wie Axel Loustau und Frédéric Chatillo, die sich wenig Mühe gaben, als etwas Anderes denn als reine Faschisten wahrgenommen zu werden. Doch seit dem Frühjahr 2024 gewinnt eine andere Finanzierungsgruppe zunehmend an Bedeutung, ja die Oberhand: die so genannte Versailles Connection rund um den katholisch-reaktionären Millionär Stérin. RN-Chef Jordan Bardella traf 2023 erstmals mit ihm zusammen. Diese Gruppierung hat klar umrissene, reaktionäre ideologische Ziele, aber auch eine eher wirtschaftsliberale Agenda und drängt den RN dazu, eher zu einer völkisch-konservativen Kraft zu werden.
Bei Bedarf lässt sich die soziale Demagogie jedoch wieder hervorholen. So wird der RN seine «parlamentarische Nische» – das Zeitfenster, über das jede Oppositionsfraktion einmal pro Jahr verfügt, um eigene Gesetzentwürfe einzubringen – nutzen, um medienwirksam «die Abschaffung der Rentenreform von 2023» zu fordern. Auf Inhalte kommt es dabei nicht an, sondern auf die öffentliche Aufmerksamkeit.
Eine Regierungsbeteiligung ist risikoreich
Angesichts dieser Wendungen und Häutungen des Rassemblement National ist dessen zukünftige Entwicklung schwer vorherzusehen. Wird eine Konstellation, in der liberale und konservative Kräfte sich auf die Stimmen der extremen Rechten stützen, in naher Zukunft die französische Innenpolitik prägen? Oder aber wird der RN es doch vorziehen, eine Regierung bei unpopulären Entscheidungen zu Fall zu bringen, um für sich selbst die Übernahme der vollen Regierungsmacht nach den Präsidentschaftswahlen von 2027 anzustreben und diese zielstrebig aus der Opposition heraus vorzubereiten? Wird er sich an einem Mix aus Unterstützung und Drohungen versuchen, um sein neues «staatspolitisches Verantwortungsbewusstsein» unter Beweis zu stellen, aber auch von sozio-ökonomischer Unzufriedenheit zu profitieren?
Die Lage scheint diesbezüglich offen. Relativ eng mit den Geschäften einer amtierenden Regierung in Verbindung gebracht zu werden, birgt für die neofaschistische Partei sicherlich auch Risiken, da ihr der Nimbus, große Veränderungen zu verkörpern, tendenziell genommen werden könnte.