Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Portal International - Globalisierung - Sozialökologischer Umbau - Ernährungssouveränität Die weltweite Ernährungskrise im Zeitalter der Krisen

Das heutige Lebensmittelsystem ist nicht für unser Zeitalter der Polykrisen geeignet

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Autorin

Jennifer Clapp,

Kinder warten auf Nahrungsmittelhilfe in der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen, 31. Dezember 2023.
Kinder warten auf Nahrungsmittelhilfe in der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen, 31. Dezember 2023 Foto: IMAGO / Xinhua

Zwischen 2019 und 2022 ist die Zahl der Menschen, die von chronischem Hunger betroffen sind, um 122 Millionen auf insgesamt fast 800 Millionen angestiegen – das sind neun Prozent der Weltbevölkerung. Diese seit 2019 andauernde, dramatische Ernährungskrise wird durch verschiedene Faktoren verstärkt: die globale Corona-Pandemie, den immer schneller voranschreitenden Klimawandel, geopolitische Konflikte und wirtschaftliche Unsicherheit. Diese sich überschneidenden Schocks haben das globale Ernährungssystem tief erschüttert und gefährden die Ernährungssicherheit. Die aktuelle Ernährungskrise ist jedoch nicht einfach darauf zurückzuführen, dass mehrere Faktoren auf ein isoliertes System einwirken. Vielmehr ist sie Teil einer globalen Polykrise, die aus einer komplexen Krisenkonstellation heraus entstanden ist. Wie der Historiker Adam Tooze in der Financial Times schrieb, kommt es in der Polykrise zu ganz unterschiedlichen Schocks, «die miteinander wechselwirken, sodass das Ganze noch überwältigender ist als die Summe seiner Teile».

Jennifer Clapp ist Professorin an der Universität von Waterloo in Kanada, wo sie die Forschungsabteilung für globale Ernährungssicherheit und Nachhaltigkeit leitet. Sie ist Mitglied des internationalen Expertengremiums für nachhaltige Ernährungssysteme (IPES-Food).

Diese Wechselwirkungseffekte kamen insbesondere mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie Anfang 2020 zum Tragen. Die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie dämpften die Konjunktur. Dies führte zu einer Unterbrechung der globalen Lieferketten für Lebensmittel mit der Folge, dass es in manchen Ländern zu einer kolossalen Verschwendung von Lebensmitteln und in anderen zu akuter Knappheit kam. Diese Ungleichheit wurde durch die Globalisierung der Lieferketten noch verschärft, da weltweit etwa 20 Prozent des Kalorienbedarfs durch importierte Lebensmittel abgedeckt wird. Die Pandemie und die politischen Maßnahmen, mit denen einzelne Länder darauf reagierten, beschleunigten die Entstehung einer Wirtschaftskrise, die dramatische Auswirkungen auf die Ernährungssysteme von Äthiopien bis Japan hatte.

Im ersten Halbjahr 2020 setzte eine weltweite Rezession ein, die Arbeitslosenquoten stiegen, und gerade die Ärmsten und Schwächsten konnten nicht mehr ausreichend Lebensmittel kaufen oder anderweitig beziehen. Als sich die Wirtschaftslage dann Ende 2020/Anfang 2021 entspannte, führten die anhaltenden Unterbrechungen der globalen Lieferketten zu einem massiven Inflationsdruck, durch den die Lebensmittelpreise immer weiter in die Höhe schossen. In den meisten Ländern lag die Inflation der Lebensmittelpreise über der allgemeinen Teuerungsrate; bis Mitte 2022 stieg sie in Teilen Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und Europas auf weit über 20 Prozent. Der daraus resultierende Anstieg der Lebenshaltungskosten mündete in eine weitere Krise und hatte auch politische Folgen.

Verschärft wird die von der Pandemie hervorgerufene wirtschaftliche Instabilität nun durch eine wachsende globale Schuldenkrise, unter der vor allem die Länder des Globalen Südens leiden. Die anhaltende Inflation der Nahrungsmittelpreise in Verbindung mit steigenden Zinssätzen hat viele Länder finanziell stark unter Druck gesetzt. Für die Ernährungssicherheit benötigte Gelder mussten nun für die Schuldentilgung eingesetzt werden. Dies zeigt auf tragische Weise, wie eine nicht nachhaltige Verschuldung nicht nachhaltige Ernährungssysteme verstärkt; ein System geprägt von der Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten, von volatilen Märkten und extraktiven Finanzströmen.

Zusätzlich bedrohen seit einigen Jahren geopolitische Krisen und Konflikte das Ernährungssystem, insbesondere der Russland-Ukraine-Krieg seit Februar 2022. Da sowohl Russland als auch die Ukraine wichtige Exporteure von Weizen, Mais und Ölsaaten sind, griff mit Ausbruch des Krieges Panik auf den globalen Exportmärkten für Lebensmittel um sich, die die ohnehin schon hohen Preise noch weiter in die Höhe trieb. Länder in Afrika und im Nahen Osten, die in hohem Maße auf Getreide aus Russland und der Ukraine angewiesen sind, mussten sich plötzlich nach anderen Importquellen umsehen.

Erschwerend kam hinzu, dass die Befürchtung von Getreideverknappung spekulative Finanzinvestitionen auf den Getreideterminmärkten auslöste. Daraufhin erreichten die Preise Höhen, die in keinem Bezug mehr zu Angebot und Nachfrage standen. Obwohl die Lebensmittelpreise im Laufe des Jahres 2022 zu sinken begannen, trug der Russland-Ukraine-Krieg zu anhaltender Volatilität und hohen Preisen auf den globalen Getreidemärkten bei. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzte, dass im Jahr 2023 infolge des Ukraine-Krieges weltweit etwa 20 bis 30 Millionen Menschen zusätzlich von Hunger betroffen waren.

Die vielleicht existenziellste Bedrohung für die Lebensmittelerzeugung ist die Klima- und Biodiversitätskrise. Die Auswirkungen des Klimawandels haben bereits jetzt sowohl direkte als auch weniger offensichtliche Folgen für die Lebensmittelerzeugung. Indien erlebte 2022 eine noch nie dagewesene Hitzewelle, die die Weizenerträge um bis zu 25 Prozent zurückgehen ließ. Angesichts dieses Engpasses verhängte die Regierung ein Exportverbot für Weizen, was zeigt, wie sich länderspezifische Engpässe schnell auf das globale System auswirken können. Ein Jahr später, nachdem durch übermäßige Monsunregenfälle die Reisernte ausfiel, verhängte Indien erneut ein Exportverbot, diesmal für Nicht-Basmati-Reis. Dabei ist Indien ist nur ein Beispiel unter vielen.

Extreme Wetterereignisse beeinträchtigen die Nahrungsmittelerzeugung in Getreide produzierenden Regionen wie Nordamerika, Australien und Südostasien besonders. Diese klimabedingten Störungen auf den globalen Nahrungsmittelmärkten werden sich wahrscheinlich noch verstärken. Der rasch voranschreitende Klimawandel macht es nahezu unvermeidlich, dass es in mehreren Weltregionen gleichzeitig zu Produktionsschocks kommen wird, auch in jenen Regionen, die Grundnahrungsmittel produzieren, die für den Weltmarkt wichtig sind.

Strukturelle Schwachstellen im globalen Ernährungssystem

Die aktuelle Polykrise erinnert an frühere globale Ernährungskrisen, insbesondere jene Mitte der 1970er Jahre und der Jahre von 2008 bis 2012. Wie die aktuelle Krise wurden auch diese durch eine Reihe von Faktoren ausgelöst, die sich auf komplexe Weise gegenseitig bedingten. Auch die Auswirkungen auf das globale System waren vergleichbar. Die Ernährungskrise der 1970er Jahre beispielsweise war nicht abgekoppelt von der gleichzeitigen geopolitischen Energie- und Wirtschaftskrise. Gleichzeitig erlebten damals verschiedene Länder Dürreperioden. In ähnlicher Weise war die Ernährungskrise von 2008 bis 2012 mit einer schweren Finanzkrise verschränkt und spielte sich vor dem Hintergrund des zunehmenden Klimawandels und dem Aufstieg Chinas zu einem wichtigen globalen Nahrungsmittelimporteur ab. In beiden Fällen nahmen die Krisen einen ähnlichen Verlauf wie heute. Hochvolatile Märkte für Grundnahrungsmittel, hemmungslose Finanzspekulationen auf den Rohstoffmärkten und Produktionsausfälle führten zu steigenden Preisen und zu wachsendem Hunger.

Die Tatsache, dass es in den letzten fünfzig Jahren immer wieder zu Ernährungskrisen gekommen ist, verdeutlicht, wie anfällig das globale industrielle Ernährungssystem ist, etwa für Störungen, die durch Ausfälle in anderen Systemen verursacht werden. Diese Anfälligkeit zeichnet sich durch drei Merkmale aus: Die industrielle Nahrungsmittelproduktion basiert auf nur wenigen Grundnahrungsmitteln; das Ungleichgewicht zwischen einer kleinen Zahl von Agrarexporteuren und vielen importabhängigen Staaten; sowie die massive Finanzialisierung und Konzentration der globalen Nahrungsmittelmärkte. Die Ursprünge all dieser Merkmale liegen Jahrhunderte zurück und gehen auf den Aufstieg des Industriekapitalismus, die frühe industrielle landwirtschaftliche Produktion und den beschleunigten technologischen Wandel zurück. Die langjährige Politik der mächtigsten Länder hat diese Trends nur noch verstärkt.

Industrielle Lebensmittelproduktion

Die meisten Lebensmittel werden heute mit industriellen landwirtschaftlichen Methoden produziert, die von Mechanisierung, chemischen Düngemitteln, Pestiziden und einer geringen Vielfalt des – oft genetechnisch veränderten – Saatguts abhängen. Dieses System hält Erzeuger*innen dazu an, nur einige wenige Grundnahrungsmittel zu produzieren, die großflächig in Monokulturen angebaut werden können.

Aus globaler Perspektive trägt diese Art der Landwirtschaft auf verschiedenste Weise zur Vulnerabilität des Ernährungssystems bei. Der Aufstieg der industriellen Landwirtschaft ab dem 19. Jahrhundert in Verbindung mit dem hohen Grad an Urbanisierung in Europa hat den großflächigen Anbau von Grundnahrungsmitteln in Monokulturen beflügelt. Dafür gab es mehrere Gründe, unter anderen den Bedarf an zuverlässiger, billiger und transportabler Nahrung für Industriearbeiter*innen. Von Anfang an stützte sich dieses System auf einige wenige Grundnahrungsmittel, die auch heute noch den größten Teil des weltweiten Getreidehandels ausmachen. Im Laufe der Zeit wurde die Auswahl der angebauten Nahrungsmittel so stark eingeschränkt, dass heute knapp die Hälfte der Welternährung auf nur drei Getreidearten basiert (Weizen, Mais und Reis), die 86 Prozent aller Getreideexporte und zusammen mit Soja etwa zwei Drittel der menschlichen Kalorienzufuhr ausmachen. Die extreme Abhängigkeit von dieser kleinen Zahl an Getreidekulturen bedeutet, dass die weltweite Ernährungssicherheit gefährdet ist, wenn die Produktion oder der Handel mit einer der vier Kulturen aus irgendeinem Grund eingeschränkt oder gestört wird, sei es etwa durch den Klimawandel oder geopolitische Spannungen.

Die konzentrierten industriellen Produktionssysteme sind auf Erdölprodukte angewiesen, um landwirtschaftliche Maschinen zu betreiben und synthetische Düngemittel auf Stickstoffbasis sowie chemische Pestizide herzustellen. Außerdem werden fossile Brennstoffe auch für den Transport des für den Weltmarkt produzierten Getreides verwendet. Die starke Abhängigkeit der industriellen Landwirtschaft von fossilen Brennstoffen macht sie nicht nur anfällig für schwankende Ölpreise, sondern trägt auch zum Klimawandel bei. Das globale Ernährungssystem ist für rund ein Drittel der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich, etwa durch die veränderte Landnutzung, die eigentliche Lebensmittelproduktion oder den Transport.

Ungleichgewicht zwischen Ex- und Importeuren

Nur eine Handvoll Länder produziert und exportiert Grundnahrungsmittel in eine viel größere Anzahl von Ländern, die auf diese Importe angewiesen sind. Dieses Ungleichgewicht hat zur Folge, dass die Ernährungssicherheit eines Großteils der Welt von nur einigen wenigen Ländern abhängt. Unterbrechungen der Produktion in nur einem Exportland können die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in vielen Ländern gefährden.

Die starke Unausgewogenheit des Ernährungssystems lässt sich auf den Aufstieg der industriellen Landwirtschaft ab dem 19. Jahrhundert zurückführen. Die Länder in den Regionen, in denen industrielle Anbaumethoden zuerst eingeführt wurden – Nordamerika, Australien, Südamerika und Teile Europas –, dominierten die Exportmärkte für Grundnahrungsmittel. Das ist teilweise auch auf die natürlichen Gegebenheiten vor Ort zurückzuführen, denn der Anbau von Monokulturen für den Export ist nur in Ländern mit großen Ackerflächen möglich. In den 1990er Jahren verfestigte die Liberalisierung des Agrarhandels diesen Trend, ermöglichte einigen Ländern allerdings auch den Markteinstieg und damit den Eintritt in den Club der Agrarexporteure. Deutlich wurde das beispielsweise am Anstieg der Sojaproduktion in Brasilien und Argentinien in den letzten Jahrzehnten. Heute entfallen mindestens 72 Prozent der Weizen-, Mais-, Reis- und Sojaproduktion auf nur fünf Länder.

Sieben Länder sowie die EU sind für rund 90 Prozent der weltweiten Weizenexporte verantwortlich, und vier Länder produzieren über 80 Prozent der weltweiten Maisexporte. Da Getreideexporte für diese Länder eine wichtige Einkommensquelle darstellen, sind sie natürlich daran interessiert, dieses System aufrechtzuerhalten, und neigen dazu, die Regeln des Welthandels so zu beeinflussen und zu gestalten, dass ihre Exportmacht gestärkt wird.

Die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten hat sich in den letzten 50 Jahren weiter verstärkt. Viele Länder produzieren zwar auch einige Grundnahrungsmittel für den eigenen Bedarf, dennoch können die meisten Länder die Binnennachfrage nicht decken und sind daher auf die globalen Märkte angewiesen, um das Defizit auszugleichen. Dieser Mangel ist indes nicht auf fehlendes Engagement dieser Länder zurückzuführen. Ein Hauptgrund für den Produktionsrückgang in diesen Regionen ist, dass sie nicht mit der hochindustrialisierten Landwirtschaft der Agrarexporteure konkurrieren können. Die Subventionierung entsprechender Anbaumethoden in vielen Exportländern gefährdet damit die Lebensgrundlagen kleinbäuerlicher Erzeuger*innen im globalen Süden zusätzlich.

Gleichzeitig haben neoliberale Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank seit den 1980er und 1990er Jahren viele Länder des globalen Südens dazu getrieben, die Nahrungsmittelproduktion aufzugeben und sich stattdessen auf die Produktion von Exportprodukten wie Kaffee, Tee und Kakao zu konzentrieren. Grundnahrungsmittel müssen sie seither auf dem Weltmarkt kaufen. Dadurch haben viele afrikanische Länder südlich der Sahara eine Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten entwickelt, die es vor 50 Jahren so noch nicht gab.

Finanzialisierung und Marktkonzentration

Die stark finanzialisierten Getreidemärkte befinden sich in den Händen einiger weniger mächtiger transnationaler Unternehmen. Die große Marktmacht dieser Unternehmen und anderer Finanzakteure birgt die Gefahr, dass Störungen zu enormen Preisschwankungen führen können, die sich sowohl auf die Möglichkeiten von Menschen auswirken, Lebensmittel zu kaufen, als auch auf die Möglichkeiten von Erzeuger*innen, landwirtschaftliche Betriebsmittel wie Saatgut, Pestizide und Düngemittel zu erwerben. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts begannen finanzialisierte Agrar- und Lebensmittelmärkte das globale Agrar- und Ernährungssystem zu dominieren, was mit dem Aufstieg industrieller Produktionsmethoden und einer Zunahme des globalen Handels mit Grundnahrungsmitteln einherging. Heute können Anleger*innen auf finanzialisierten Terminmärkten enorme Gewinne aus dem Getreidehandel einstreichen. Das birgt allerdings die Gefahr stark schwankender Nahrungsmittelpreise. Da es nur relativ wenige große Finanzakteure gibt, die mit Getreide spekulieren, sind diese Märkte anfällig für Schwankungen, vor allem wenn diese Investoren genau dann auf Warenterminmärkten aktiv werden, wenn das Ernährungssystem am stärksten gefährdet ist.

In den letzten Jahrzehnten wurden die Regeln für Finanzinvestitionen auf diesen Märkten aufgeweicht. Dies hat dazu geführt, dass immer mehr Anleger*innen – von Vermögensverwaltungsgesellschaften über Hedgefonds bis hin zu Pensionsfonds – ausgerechnet bei steigenden Preisen in Agrarmärkte investierten, was die Getreidepreise immer weiter in die Höhe trieb.

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrschen große transnationale Unternehmen die Märkte für Getreide und landwirtschaftliche Betriebsmittel; sie haben seitdem ihre Dominanz beibehalten. Die vier Agrarkonzerne Archer Daniels, Bunge, Cargills und Louis Dreyfus (auch ABCD-Gruppe genannt) kontrollieren zwischen 50 und 70 Prozent des weltweiten Getreidehandels sowie beträchtliche Teile der Lebensmittelverarbeitungskette. Mit dem massiven Anstieg der Lebensmittelpreise fuhren sie in den letzten Jahren Rekordgewinne ein.

Falsche Lösungsansätze

Die strukturellen Schwachstellen des globalen industrialisierten Ernährungssystems dienen den Interessen von mächtigen Staaten, Privatunternehmen und Finanzinvestor*innen, die alle bereits seit Beginn des Industriekapitalismus im 19. Jahrhundert profitiert haben. Dieses System hat sich nicht etwa deshalb gehalten, weil es die globale Ernährungssicherheit am besten gewährleisten kann, sondern weil es der Anhäufung von Macht und Reichtum dient. Es wird immer deutlicher, dass eine globale Agrarproduktion, die den Interessen großer Konzerne Vorrang einräumt, umso anfälliger für Krisen und Störungen in anderen Systemen wird.

Da diese Merkmale des Ernährungssystems mächtigen Interessen dienen, sollte es nicht überraschen, dass die gängigen Antworten – insbesondere jene, die von Großunternehmen, Agrarexportregierungen und bestimmten globalen Institutionen gegeben werden – die zugrunde liegenden strukturellen Probleme nicht angehen. Im Gegenteil tragen die von ihnen vorgeschlagenen «Lösungen» dazu bei, bestehende Probleme zu verfestigen. Dies zeigte sich schon zu Beginn der Grünen Revolution in den 1960er und 1970er Jahren, der Gen-Revolution in den 1990er Jahren und in jüngster Zeit beim Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) in der Landwirtschaft. Jeder dieser Ansätze beruhte auf der Annahme, dass der weltweite Hunger nur durch eine Ausweitung der industriellen Lebensmittelproduktion bekämpft werden könne.

Der UN-Gipfel für Ernährungssysteme (UNFSS) im Jahr 2021 lieferte ein weiteres Beispiel dafür. Als Forum für «bahnbrechende Lösungen» zur Beendigung des Hungers angekündigt, bediente der Gipfel stattdessen weitgehend die Interessen mächtiger Konzerne. Deren Einfluss war enorm groß, weshalb zivilgesellschaftliche Gruppen und soziale Bewegungen den Gipfel boykottierten. Dass Konzerninteressen die Zielsetzung des UNFSS bestimmten, lässt sich daran ablesen, welche Bedeutung technologischen Innovationen wie der digitalen Landwirtschaft und der Genom-Editierung als Mittel zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion beigemessen wurde. Angepriesen als neuer Weg zur Förderung eines nachhaltigen Ernährungssystems, zementieren diese Technologien in Wirklichkeit das gegenwärtig verfolgte Konzept von Landwirtschaft nur noch weiter.

Als die Lebensmittelpreise im ersten Quartal 2022 in die Höhe schnellten, starteten mächtige Staaten, internationale Institutionen und Unternehmen eine Vielzahl von Initiativen zur Bekämpfung von Hunger und zur Verbesserung der Ernährungssituation. So riefen die Entwicklungsminister*innen der G7 im Mai 2022 gemeinsam mit der Weltbank die Globale Allianz für Ernährungssicherheit (GAFS) ins Leben. Im September desselben Jahres verabschiedeten hundert Regierungen die «Roadmap for Global Food Security – Call to Action» (Fahrplan für globale Ernährungssicherheit – Aufruf zum Handeln), die auf einem von den Vereinten Nationen ausgerichteten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs zur globalen Ernährungssicherheit vorgestellt wurde. Beide Initiativen zielten darauf ab, die Finanzierung der «Krisenvorsorge» für Entwicklungsländer zu koordinieren, wobei auch hier industrielle Landwirtschaft, liberalisierter Handel und Industriepartnerschaften als einzig zielführende Wege vorausgesetzt waren. In der Erklärung des Gipfeltreffens wurde die Notwendigkeit «wissenschaftlich fundierter und klimaresistenter landwirtschaftlicher Innovationen» betont. Parallel dazu richtete die Internationale Finanz-Corporation der Weltbank eine Globale Plattform für Ernährungssicherheit ein, die mit sechs Milliarden US-Dollar den Zugang zu Düngemitteln verbessern und gleichzeitig Privatunternehmen bei längerfristigen Investitionen unterstützen soll.

Der Privatsektor wiederum hat mit Unterstützung Frankreichs, der Europäischen Kommission, des Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD), des Welternährungsprogramms, der Europäischen Investitionsbank und der Bill und Melinda Gates Stiftung Mitte 2022 den Zusammenschluss «Global Business for Food Security» mit dem Ziel gegründet, den Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und Nahrungsmitteln zu verbessern und gleichzeitig die Entwicklung «robuster Wertschöpfungsketten in fragilen Ländern, insbesondere in Afrika», zu unterstützen. Zu den Mitgliedern des Zusammenschlusses gehören einige der weltgrößten Agrarkonzerne, die die Getreidemärkte dominieren, darunter ADM, Cargill, Bunge und Dreyfus, und die größten Hersteller von Agrarbetriebsmitteln, wie der Düngerproduzent Yara und die Saatgutfirma Limagrain. Mit ihrer Forderung nach einer Intensivierung in der Landwirtschaft, einschließlich einer auf «Innovation» basierenden Transformation und des verbesserten Zugangs zu chemischen Düngemitteln, versuchen diese mächtigen Player, das von fossilen Brennstoffen abhängige Agrarsystem aufrechtzuerhalten. Mehr noch, sie befürworten eine noch stärkere Abhängigkeit von globalen Lieferketten. Dadurch wird die Macht der Länder, die den Handel mit Grundnahrungsmitteln bereits beherrschen, nur noch weiter ausgebaut. Andere Länder zum Anbau von Sonderkulturen anzuwerben, beeinträchtigt deren Ernährungssicherheit weiter, da sie von Nahrungsmittelimporten abhängig bleiben. Wenn mächtige Staaten eine Zusammenarbeit mit der Industrie fordern, lassen sie das Problem der Unternehmenskonzentration völlig außer Acht. Obwohl diese Initiativen auf die Notwendigkeit hinweisen, die Finanzialisierung auf den Nahrungsmittelmärkten zu überwachen, zielen diese Maßnahmen nicht auf eine Regulierung ab, sondern vielmehr auf einen erleichterten Austausch von Marktinformationen, was letztlich den exportierenden Staaten und den Unternehmensinteressen zugutekommt.

Alternative Ernährungssysteme

Solange mächtige Player vom derzeitigen globalen Ernährungssystem profitieren, haben sie keinen Anreiz zu wirklichen Veränderungen. Daher muss die Transformation von unten kommen – von den Menschen für die Menschen. Gegenwärtig profitieren die mächtigen Akteure von der hohen Marktkonzentration und den einheitlich gestalteten Ernährungssystemen – beides Merkmale, die solche Systeme krisenanfälliger machen. Ein radikaler Wandel erfordert daher mehr Vielfalt in der Erzeugung sowie beim Vertrieb und Verbrauch von Lebensmitteln.

Was die Produktion betrifft, so ist es besonders wichtig, dem in den vergangenen Jahrhunderten hegemonial gewordenen Modell der industriellen Landwirtschaft den Rücken zu kehren. Mächtige Staaten und große Unternehmen haben dieses System gefördert, obwohl es den Ökosystemen und den sozialen Systemen, die für eine florierende Lebensmittelproduktion notwendig sind, enormen Schaden zugefügt hat. Wir müssen dringend zu ökologisch nachhaltigen und klimaresistenten Produktionssystemen übergehen, die nicht auf energieintensive Inputs wie chemische Düngemittel angewiesen sind. Eine geringere Abhängigkeit von der industriellen Landwirtschaft würde dazu beitragen, landwirtschaftliche Systeme von Erschütterungen auf den globalen Energie-, Düngemittel- und Agrochemiemärkten abzuschirmen. Ökologisch orientierte Produktionssysteme müssen vorrangig auf das Wohl der Menschen ausgerichtet sein und ihnen Lebensgrundlagen und nahrhafte Lebensmittel bieten. Dies muss mit einer Demokratisierung der Produktionssysteme einhergehen, durch die die Menschen die Ausgestaltung und Funktionsweise dieser Systeme selbst bestimmen können.

Die Agrarökologie ist ein solches System. Sie basiert auf dem Prinzip der Vielfalt und umfasst Methoden wie den Zwischenfruchtanbau verschiedener Arten, Fruchtfolge, Agroforstwirtschaft, Kompostierung und die Verknüpfung von Ackerbau und Viehzucht – allesamt mit dem Ziel, die Agrobiodiversität zu fördern. Agrarökologische Systeme fördern Vielfalt auch im weiteren Sinne. Im politischen Bereich sorgen sie beispielsweise für mehr Gerechtigkeit und Handlungsfähigkeit. Dieses Modell zeigt bereits in einer Reihe von Ländern Erfolge, und es gibt Belege dafür, dass es im Vergleich zur industriellen Landwirtschaft besser geeignet ist, den Nahrungsmittelbedarf zu decken, da es anderen Systemen weniger Schaden zufügt. Agrarökologische Systeme schaffen auch mehr Vielfalt auf dem Teller, denn sie setzen auf diversere Anbaukulturen wie Hirse, Sorghum, Erdnüsse oder Wurzeln und Knollen, statt sich auf einige wenige Grundnahrungsmittel zu konzentrieren, die unsere Ernährung momentan dominieren.

Aus verteilungspolitischer Perspektive ist es wichtig, die einzelnen Länder in die Lage zu versetzen, mehr von den Nahrungsmitteln, die sie verbrauchen, selbst anzubauen. Sind sie weniger abhängig von Nahrungsmittelimporten, müssen Schocks nicht länger zu Krisen führen. Dies bedeutet keine völlige Autarkie, sondern vielmehr ein deutlich ausgewogeneres Verhältnis bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln über lokale und globale Märkte. Eine eigenständigere Produktion der Grundnahrungsmittel durch die Menschen vor Ort dank nachhaltiger und gerechter Anbaumethoden bedeutet gleichzeitig eine bessere Versorgung, als es multinationale Konzerne und mächtige Länder jemals leisten könnten.

Ein Weg hin zu einer stärker auf den Menschen ausgerichteten Lebensmittelverteilung sind territoriale Märkte. Solche Märkte sind in der Regel direkt mit lokalen, nationalen und/oder regionalen Ernährungssystemen verbunden. Daher sind die Lieferketten in der Regel kürzer und vor Ort verankert. Territoriale Märkte integrieren lokale Bedingungen und lokales Wissen und fördern gemeinschaftliche und regionale Beziehungen. Sie sind in der Regel auch weniger hierarchisch aufgebaut. Auf territorialen Märkten sind viele kleinbäuerliche Erzeuger*innen aktiv, die in Entwicklungsländern für die Lebensmittelversorgung entscheidend, deren Lebensgrundlagen jedoch durch die Ausweitung der von Konzernen dominierten globalen Lieferketten bedroht sind. Diese Art von Märkten bietet Dienstleistungen, die weit über Lebensmittel als reine Marktware hinausgehen. Sie verkörpern Inklusivität und fördern auf natürliche Weise Vielfalt. Die Verteilung von Nahrungsmitteln auf territorialen Märkten hat zwei weitere Vorteile für die biologische Vielfalt und die Begrenzung des Klimawandels: Zum einen werden regionale Kulturpflanzen gefördert, und zum anderen wird weniger Energie aus fossilen Brennstoffen für den Transport benötigt.

Schließlich müssen auf den Menschen ausgerichtete Ernährungssysteme den von Konzernen und Finanzinstituten dominierten Lebensmittelmärkten aktiv etwas entgegensetzen. Dabei geht es nicht nur darum, alternative Produktions- und Vertriebskanäle zu schaffen. Es sind auch regulatorische Änderungen nötig, die verhindern, dass mächtige Akteure die Märkte weiter auf ihre eigenen Interessen ausrichten können. Andernfalls könnten alle Bemühungen um die Förderung territorialer Märkte leicht von Unternehmen und Finanzinvestor*innen zunichtegemacht werden, die enormen Einfluss auf die Agrar- und Ernährungswirtschaft und die Märkte haben.

Ein Grund zum Optimismus ist die wachsende Bewegung, die sich gegen die Macht der Unternehmen im Ernährungssystem wehrt. Es ist jedoch noch mehr nötig. Ein großer Schritt in die richtige Richtung wären deutlich strengere Regeln zum Umgang mit Interessenkonflikten für Unternehmen sowie eine konsequentere Kartell- und Wettbewerbspolitik, um Monopole und Oligopole im Ernährungssystem zu verhindern. Seit der Nahrungsmittelpreiskrise von 2008 bis 2012 werden zunehmend Forderungen nach einer strengeren Regulierung der Finanzakteure im Ernährungssystem laut. Schließlich würden striktere Regeln an den Warenterminmärkten dazu beitragen, die spekulativen Investitionen einzudämmen, die zu volatilen Lebensmittelpreisen beitragen und Preisspitzen hervorrufen können. Zusammengenommen wird jeder dieser entscheidenden Schritte – ökologischere Lebensmittelproduktionssysteme, eine geringere Abhängigkeit vom Fernhandel mit Agrarprodukten und die Eindämmung der Unternehmensmacht im Ernährungssystem – die Ernährungssysteme widerstandsfähiger und weniger anfällig für die umfassendere Polykrise machen.
 

Dieser Artikel ist Teil des gemeinsamen englischsprachigen Dossiers der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Alameda Seeds of Sovereignty: Contesting the Politics of Food.

Übersetzung von Cornelia Gritzner und Daniel Fastner für Gegensatz Translation Collective.