Die Kulturwissenschaftlerin Lisa Schoß legt mit diesem Buch ihre Dissertation vor. Akribisch und in großer Breite widmet sie sich einem historisch abgeschlossenen Forschungsgebiet: Jüdische Erfahrungen im fiktiven Film der DDR.
Schoß recherchierte 50 Kino- und 80 Fernsehproduktionen, in denen jüdische Erfahrungen präsent oder repräsentiert waren, im Zeitraum von 1946 bis 1990, also von der Gründung der DEFA in der SBZ an bis zum faktischen Ende der DDR als Staat. Ein gewaltiges Unterfangen, aus dem ein gebührend dickes Buch wurde.
Zu Beginn bettet Lisa Schoß ihre Arbeit lobenswerterweise in ein weit gefasstes Umfeld ein, nämlich sowohl ins Thema des Antifaschismus als einem staatstragenden Selbstverständnis der DDR und nach dem Ende der DDR oft als «verordnet» abgewerteten Begriff - als auch in Hinblick auf die ab 1990 jahrzehntelang vermittelte Auffassung von der DDR lediglich als «SED-Diktatur» im bundesdeutschen Bildungskanon. Schoß sieht sich mit ihrer Arbeit in einer Reihe von Forschenden, die eine Differenzierung von Lebenswirklichkeiten und kulturellen «Nischen» in der DDR-Betrachtung vornahmen und wertschätzten. Die Vielfalt in Inhalt und Machart der Darstellung jüdischen Lebens und jüdischer Geschichte in den betrachteten Filmen geben dieser Haltung in fünf Kapiteln recht.
Schoß startet mit dem damals in Ost und West erfolgreichen Melodram «Ehe im Schatten» (1949) nach einer wahren Geschichte über Verfolgung und Selbstmord des Schauspielers Joachim Gottschalk und seiner jüdischen Ehefrau Meta Wolff. Wie bei vielen Filmen verknüpft die Autorin hierbei Handlung und historische Zeit des Films mit gut recherchierter Entstehungsgeschichte des Films und Biographien der beteiligten Filmschaffenden. Im Anschluss analysiert Schoß eine Reihe von Filmen der 1950er bis 1970er Jahre, wobei «Das Beil von Wandsbek» (1951) in seiner textuellen und kontextuellen Vielschichtigkeit (Opportunismus der kleinen Leute, antifaschistischer Widerstand, Judentum, Klassenkampf, deutsch-jüdische Exilliteratur) besonders hervorgehoben wird. Ihm bescheinigt Schoß die Schlüsselrolle für einen Paradigmenwechsel in der SED-Kulturpolitik durch «Re-Ideologisierung», der auch der Film via Aufführungsverbot für 30 Jahre zum Opfer fiel. Einen Kino-Publikumsrenner der 1960iger, «Nackt unter Wölfen» (1963), sieht Schoß als «mitreißend und rasant» erzählt. Ausführlich und kritisch analysiert sie dessen kulturpolitische Vorgeschichte, Romanvorlage, die Bedeutung von «Buchenwald» in der DDR-Sozialisation – und nicht zuletzt der «Positiv-Wirkung», die im guten Ausgang der Geschichte, der Rettung des jüdischen Kindes, besteht.
Jüdische Perspektiven im DDR-Fernsehen
Parallel betrachtet Schoß die Fernsehproduktion, wobei sie ausgerechnet den berühmtesten DDR-Kinofilm mit jüdischen Perspektiven, «Jakob der Lügner» (1974) dem Fernsehen zuordnet, da er eine Koproduktion zwischen DEFA und DDR-TV war, was seinen Grund wiederum in der damaligen persönlichen Situation des Regisseurs Frank Beyer hatte. Auch lief der Film tatsächlich zuerst im Fernsehen an, dann jedoch, wie es sich gehörte für einen Kinofilm, im Kino, dann mit Auszeichnung auf der Berlinale und vor der Oscar-Jury in Los Angeles, die ihn nominierte - ein Unikum der DDR-Filmgeschichte. Und, auch wenn Schoß die Kinoverwertung erwähnt, bleibt ihre Einordnung gerade dieses herausragenden Films über die Shoa in das Kapitel über «Jüdisches auf dem Fernsehbildschirm» grundlegend falsch. Denn «Jakob der Lügner» wurde als Kinofilm geschrieben und inszeniert. Er hat mit der Erzählweise von TV-Filmen nichts zu tun. Die TV-Beteiligung war lediglich administrativer Natur. Obwohl die Autorin vorausschickt, die Bedeutung des Films «nicht schmälern» zu wollen und ohne die spezielle Perspektive des Autors Jurek Becker, einem Überlebenden der Shoa, zu erwähnen, stellt sie seine besondere Wirkung doch in den - unzulässigen – Kontext einer Art Sauregurkenzeit der 1970er DEFA, in der dem Film «nicht viel entgegengesetzt {wird}». Auch sei, so Schoß, bereits in den 1960ern in den sozialistischen Ländern Osteuropas fürs Kino Wichtiges und auch schon Phantastisches zu dem Thema entstanden. Für diese Argumentation fungiert für Schoß «Jakob» wiederum als reiner Kinofilm. Schoß‘ seltsames Lavieren bei der Besprechung dieses Films zwischen Kino und TV, zwischen Anerkennung von dessen Bedeutung und Relativieren dieser Bedeutung fällt aus ihrer sonstigen Genauigkeit heraus.
Starke Hervorhebung des «Schattmann» TV-Romans
Als unvergleichbar herausragend, etwa auf einer Höhe mit der sechs Jahre später erschienenen US-amerikanischen TV-Serie «Holocaust», arbeitet Schoß den vierteiligen Fernsehfilm «Die Bilder des Zeugen Schattmann» (1972) heraus und widmet ihm 30 Seiten. Dem Mehrteiler über die Zeitspanne von 1943 bis 1963 gibt Schoß in ihrer Einleitung eine Schlüsselposition sowohl im DDR- Fernsehschaffen als auch in ihrer persönlichen Motivation für die Dissertation. Denn der Schauspieler Gunter Schoß, der die Titelfigur spielt, ist Lisa Schoß‘ Vater. Auch wenn Schoß mögliche Kritikpunkte erwähnt – zum Beispiel das propagandistische Element des Plots im Kontext des Kalten Krieges – vorbildliche Abrechnung mit Altnazis hier (DDR) und schändliche Nazi-Kontinuität dort (BRD) – möchte Schoß den TV-Roman nicht einfach in den Kanon des antifaschistischen Heldenkampfes eingemeinden. So sieht sie die Hauptfigur klar gegen den «makellosen» Kommunisten Wall abgesetzt, schildert die Darstellung von Schattmanns inneren Widersprüchen als besonders. Die bleibende Trauer Schattmanns um seine Frau Esther gibt tatsächlich einen seltenen Einblick in die Nichtintegrierbarkeit des Traumas der Shoa. Zentral ist jedoch Schattmanns antifaschistischer Widerstand, was zuweilen abrupt und plakativ erzählt wird. Kritisch merkt Schoß zwar jenes Plakative an, sieht den Film jedoch eher als einzigartiges Lebenszeugnis eines Betroffenen (des Autors Peter Edel) als «am Reißbrett entworfene Propaganda».
Das Schlusskapitel betrachtet einige DEFA-Filme der letzten DDR-Dekade mitten im moralischen Zusammenbruch des Sozialismus und in gleichzeitiger Öffnung für bis dahin Unmögliches.
Zur kulturellen Entdeckung jüdischen Lebens statt immer nur jüdischen Todes im DDR-Film der 1980er zählt Schoß den zu Unrecht fast vergessenen, visuell und schauspielerisch großartigen Kinofilm «Levins Mühle» von Horst Seemann(1980) über ostjüdisches Leben in präfaschistischen Zeiten, das mit der Shoa verschwand.
Zum Ende des Buches hin formuliert Schoß eine profunde Kritik des späten DEFA-Films «Die Schauspielerin» (1988), der jüdische Stereotype eher bediene als ausräume.
Lisa Schoß‘ Buch ist sorgfältig recherchiert und blättert DDR-Geschichte aus einer besonderen Perspektive auf. Stellenweise wirkt es unausgewogen. Einerseits akribisch und voll Entdeckungsfreude, andererseits mit unverständlichen Aussparungen hier und übermäßigen Hervorhebungen dort. Während zum Beispiel jüdische oder jüdisch konnotierte Lebensgeschichten und Werke von Persönlichkeiten wie Gerry Wolff, Hedda Zinner, Peter Edel, Arnold Zweig, Kurt Maetzig, Konrad Wolf, Lin Jaldati seitenweise beschrieben werden, bekommt die besondere, im Überleben verwurzelte Erzählperspektive des Filmautors Jurek Beckermeistens nur in Fußnoten Platz.
Schoß‘ Antrieb war, so kann man aus ihrer Einleitung schließen, sowohl wissenschaftlicher als auch emotionaler Natur. In diesem Spannungsfeld bewegt sich das Buch. Es kann trotz der erwähnten Einschränkungen als wertvoller Beitrag zur Grundlagenforschung zur DDR-Kultur- und Filmgeschichte gesehen und zum Nachschlagewerk für Künftiges werden.
Lisa Schoß: Von verschiedenen Standpunkten. Die Darstellung jüdischer Erfahrung im Film der DDR; Schriftenreihe DEFA Stiftung, Bertz und Fischer Verlag, Berlin 2023, 656 Seiten, 43 Euro