Nachricht | Portal International - Krieg / Frieden - Israel - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina Krieg in Gaza: Druck auf Konfliktparteien muss steigen

Muriel Asseburg plädiert für mehr Empathie und stärkere internationale Präsenz

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Dr. Muriel Asseburg
«Es ist furchtbar zu sehen, wie sich menschenverachtende Politik, entgrenzte Gewalt und Rachegelüste Bahn brechen und Menschenleben, Träume, Hoffnungen, Zukünfte auslöschen.»
Muriel Asseburg Quelle: Stiftung Wissenschaft und Politik

Ohne einen Waffenstillstand können die israelischen Geiseln nicht befreit und kann die humanitäre Situation im Gazastreifen nicht verbessert werden. Eine deutlich robustere internationale Vermittlung und internationale Sicherheitsgarantien wären notwendig, um das Töten zu beenden. Doch selbst, wenn das erreicht wäre: Wie kann es dann weiter gehen in der Region? Muriel Asseburg forscht seit langem zum Mittleren Osten und Afrika bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sie beschäftigt sich unter anderem mit Konfliktdynamiken und -regelungsmöglichkeiten in Syrien und Israel/Palästina. Mit ihr sprach Katja Hermann, Referentin Westasien bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
 

Katja Hermann: Fast ein Jahr nach Beginn des Gaza-Krieges ist immer noch kein Ende in Sicht. Die Nachrichten und Bilder aus dem Gazastreifen sind dermaßen erschreckend, dass sie kaum auszuhalten sind, Hilfsorganisationen schlagen schon lange Alarm, die Kritik von internationalen Politiker*innen und Analyst*innen am Vorgehen Israels ist mittlerweile vehement geworden. Was muss aus Ihrer Sicht passieren, damit es endlich zu einem «Deal» kommt, der eine Befreiung der israelischen Geiseln und eine Waffenruhe in Gaza ermöglicht?  

Muriel Asseburg: Der Druck auf die Konfliktparteien von Seiten der internationalen Gemeinschaft müsste erheblich verstärkt werden, um die Kosten-Nutzen-Kalküle der Hauptentscheidungsträger*innen in der israelischen Regierung und der Hamas so zu verändern, dass die Fortsetzung der Kampfhandlungen politisch und materiell deutlich kostspieliger werden als ein dauerhafter Waffenstillstand.

Dabei stellen sich zwei Hauptherausforderungen: a) die Druckmittel, über die die internationale Gemeinschaft in Bezug auf die Führung der Hamas im Gazastreifen verfügt, sind sehr begrenzt; und b) klare Signale an die israelische Regierung, die Fortführung und Ausweitung des Krieges nicht weiter zu unterstützen, stehen im Widerspruch zu beabsichtigten Signalen an Iran und seine Verbündeten, an Israels Seite zu stehen.

Dr. Muriel Asseburg ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und leitet dort seit Januar 2024 zusammen mit Dr. Sinem Adar die Themenlinie «Autokratisierung als Herausforderung für die deutsche und europäische Politik». 

Dennoch: ohne einen Waffenstillstand können die Geiseln nicht befreit und kann die humanitäre Situation im Gazastreifen nicht verbessert werden. Ohne einen Waffenstillstand kann auch kein Einstieg in eine politische Konfliktbearbeitung gelingen und die regionale Eskalation nicht eingehegt werden. Daher wäre die deutliche Erhöhung des Drucks auf die Konfliktparteien – insbesondere auf den israelischen Premier Netanjahu – jetzt vonnöten, um zu einem Waffenstillstand und Geiselaustausch zu kommen. Die Umrisse des Deals liegen ja schon seit Mai vor – und die Hamas-Führung hat ihnen auch im Wesentlichen zugestimmt. Auch der israelische Verteidigungsminister und relevante Vertreter*innen des Sicherheitsapparats – und natürlich die Familien der Geiseln – fordern einen entsprechenden Deal.

Auch nach einem «Deal» wird nur eine nachhaltige politische Lösung, die den Interessen und Bedarfen beider Seiten Rechnung trägt, einen dauerhaften Frieden bringen. Für die Palästinenser*innen impliziert dies unbedingt die Beendigung der Besatzung und ein Ende der Abriegelung des Gazastreifens. Welche Szenarien werden diskutiert, die diese Forderungen – denen sich mittlerweile auch viele internationale Akteure anschließen – berücksichtigen?

Die US-Administration, die EU und die arabischen Kontaktgruppe sind sich in den Grundelementen ihrer Vorstellungen einig: Es soll keine dauerhafte israelische Militärpräsenz im Gazastreifen geben, keine Verkleinerung des Territoriums, keine dauerhafte Vertreibung der Bevölkerung. Eine revitalisierte Palästinensische Autonomiebehörde (PA) soll die Kontrolle in Gaza übernehmen, unterstützt womöglich durch eine internationale Präsenz. Gleichzeitig soll es einen Wiedereinstieg in einen Friedensprozess geben, der mittelfristig zu einer Zweistaatenregelung auf Basis der Grenzen von 1967 führt. Israel soll dann auch noch stärker in die Region integriert werden, unter anderem durch eine Normalisierung der Beziehungen zu Saudi-Arabien.

Bei der Umsetzung dieser Vorstellung stehen die internationalen Beteiligten allerdings vor großen Hürden: Die israelische Regierung ist nicht bereit zu einer Zweistaatenregelung, ihre rechtsextremistischen Teile fordern vielmehr die Wiederbesiedlung des Gazastreifens und treiben die Annexion der West Bank voran. In den letzten Monaten hat Israel zudem eine breite Pufferzone innerhalb des Gazastreifens geschaffen und Vorkehrungen für eine dauerhafte Präsenz in Gaza getroffen: im Netzarim-Korridor [der den Gazastreifen in einen Nord- und einen Südteil aufteilt; Anm. d. Red.] und entlang des Philadelphi-Korridors [an der Grenze zwischen Gazastreifen und Ägypten, Anm. d.R.]. Ein Ende der Abriegelung ist nicht abzusehen.

Ohne einen politischen Prozess, der auf eine nachhaltige Regelung abzielt, wird es allerdings auch wenig Bereitschaft seitens arabischer Staaten geben, sich beim Wiederaufbau in Gaza einzubringen oder mit einer Präsenz an der Stabilisierung zu beteiligen. Saudi-Arabien hat zudem klargemacht, dass eine Normalisierung seiner Beziehungen zu Israel von unumkehrbaren Schritten in Richtung eines palästinensischen Staates abhängt.

Hinzu kommt, dass die Hamas auch nach dem Krieg ein Vetoakteur bleiben dürfte und die Autonomiebehörde sehr geschwächt ist. Die PA verfügt über wenig Legitimität in der Bevölkerung, ihre Finanzlage ist prekär, ihre Sicherheitskräfte haben schon längst die Kontrolle über die Städte und Flüchtlingslager in der nördlichen West Bank verloren. Vor diesem Hintergrund wird sie die Kontrolle im Gazastreifen nur mit Zustimmung der Hamas übernehmen können. Dabei wäre auch zu klären, wie die Verwaltung und die zivilen Sicherheitskräfte der De-facto-Regierung in eine Nachkriegsordnung eingebunden werden können. Die Einbindung der Hamas wäre wiederum nicht nur für die Regierung Israels ein Problem – Netanjahu hat ja einen «vollständigen Sieg» über die Hamas als eines der Kriegsziele proklamiert –, sondern würde auch – nach den Gräueltaten des 7. Oktober – von der Bevölkerung Israels abgelehnt.

Der Umgang mit der islamistischen Hamas, die federführend für den Überfall am 7. Oktober verantwortlich war, wird sicherlich – Sie haben es angedeutet - auch mit Blick auf die Nachkriegs-Szenarien eine Herausforderung sein. Ein Ausschluss der Hamas scheint nicht im Interesse der Palästinenser*innen zu sein, da sie als integraler Teil der palästinensischen Bevölkerung wahrgenommen wird, aber eine Einbindung ist aufgrund der Geschehnisse und des Profils der Organisation durchaus auch herausfordernd. Wofür plädieren Sie?     

Eine palästinensische Führung, die für die Palästinenser*innen in der West Bank und im Gazastreifen sprechen und auch verbindliche Entscheidungen treffen kann, halte ich für sehr wichtig. Momentan haben wir ja eine Situation, in der Israel und Hamas (indirekt) miteinander verhandeln. Damit kommt der Hamas sehr viel Einfluss zu, die PA hingegen kann die Dynamiken kaum beeinflussen.

Eine Überwindung der innerpalästinensischen Spaltung ist nicht nur essentiell, um eine verantwortliche Führung zu haben, die über Fragen von Krieg und Frieden entscheiden und den Wiederaufbau effektiv koordinieren kann. Sie ist auch entscheidend, um in den palästinensischen Gebieten zu einer Gewaltenteilung und demokratischen Verfahren zurückzukehren.

Eine repräsentative palästinensische Führung kann allerdings ohne Einbindung der Hamas – oder zumindest Duldung durch die Hamas – derzeit nicht zustande kommen. Letztlich sollte sie aber nicht nur auf Absprachen zwischen palästinensischen Gruppierungen beruhen. Die Regierung müsste vielmehr mittelfristig aus freien und fairen Wahlen (soweit dies unter Besatzung möglich ist) hervorgehen.

Ob in Zukunft dabei die militanten Gruppierungen größeren Einfluss haben, also diejenigen, die wie die Hamas für den bewaffneten Kampf stehen, oder diejenigen, die auf das internationale Recht oder einen friedlichen Ausgleich mit Israel setzen, wird vor allem davon abhängen, welche Perspektiven am erfolgversprechendsten erscheinen.

Viele politische Analyst*innen teilen die Überzeugung, dass ein Nachkriegsszenario von Drittparteien unterstützt werden sollte, um Bestand zu haben. Teilen Sie diese Sicht und wie könnte das konkret aussehen?

Derzeit sieht es in der Tat so aus, als ob die Konfliktparteien nicht ohne internationale Vermittlung aus der Eskalationsspirale herausfinden können. Tatsächlich gehe ich davon aus, dass es eine deutlich robustere internationale Vermittlung, eine internationale Präsenz, internationale Sicherheitsgarantien und ein massives Engagement beim Wiederaufbau des Gazastreifens bräuchte, um zu einem tragfähigen Arrangement zu kommen.

Eine Regelung, die das Selbstbestimmungsrecht beider Völker umsetzt und die Flüchtlingsfrage einvernehmlich regelt, wird derzeit nicht aus den Bevölkerungen vor Ort erwachsen können. Jüdische Israelis und Palästinenser*innen sind stark traumatisiert, der 7. Oktober und der Krieg im Gazastreifen haben auf beiden Seiten die kollektiven Traumata wieder wachgerufen. In Folge haben sie auch so gut wie keine Empathie für die Opfer der anderen Seite und unterscheiden dort kaum zwischen Kämpfern bzw. Soldat*innen und der Zivilbevölkerung. Die gegenseitige Entmenschlichung und der exklusive Anspruch auf das ganze Land zwischen Jordanfluss und Mittelmeer haben ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Das zeigen auch aktuelle Umfragen, etwa die des Palestinian Center for Policy and Survey Research und der Universität Tel Aviv.  

Deutschland ist seit Jahren einer der größten (Geld-) Geber für Palästina. Aufgrund der politischen Nähe zu Israel, die in Palästina als einseitige Parteinahme wahrgenommen wird, hat aber die Glaubwürdigkeit der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) im letzten Jahr sehr gelitten. Vor Ort und in der gesamten Region gibt es Boykottaufrufe gegen deutsche Organisationen, Partnerorganisationen beenden die Zusammenarbeit, Kolleg*innen kündigen. Wie schätzen Sie diese Situation ein und was sollte auf deutscher Seite passieren, um Vertrauen und Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen – oder ist die Zusammenarbeit auf Dauer gefährdet?

Die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik insgesamt und nicht nur der Entwicklungszusammenarbeit hat in den Augen der Palästinenser*innen, der arabischen Welt und weiter Teile des sogenannten Globalen Südens ganz massiv gelitten. Dazu trägt nicht nur die einseitige Parteinahme für Israel bei. Diese wird ja nicht nur so wahrgenommen, sondern wird von deutschen Politiker*innen auch immer wieder betont. Vor diesem Hintergrund werden auch die Nuancen, in denen sich die deutsche Politik seit dem 7. Oktober verändert hat, kaum sichtbar.

Dazu tragen auch die Bilder bei, die die Unterdrückung der Palästina-Solidarität in Deutschland zeigen. Mir scheint, dass sich unsere Politik nicht immer im Klaren darüber ist, wie groß der internationale Widerhall ist, den etwa eine Maßnahme, wie die Auflösung des Palästina-Kongresses in Berlin samt Einreise- und Betätigungsverboten für prominente Teilnehmer im April 2024 erzeugt.

Und dazu trägt bei, dass Deutschland von seiner Seite die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Region – selbst in Israel – einstellt, die von der israelischen Regierung kriminalisiert oder als problematisch bewertet werden bzw. die Boykottaufrufe unterstützen. Damit aber verliert die deutsche EZ viele zentrale Partnerorganisationen in der Region, die sie eigentlich für Anliegen wie die feministische Entwicklungspolitik oder das Brückenbilden zwischen jüdischen Israelis und Palästinenser*innen braucht.

Ob dies auf Dauer der Fall sein wird, wird meines Erachtens vor allem davon abhängen, ob es Deutschland gelingt, sehr viel stärker auch Empathie für andere als jüdisch-israelische Opfer des Konflikts zu zeigen, sehr viel konsistenter für die Umsetzung internationalen Rechts einzutreten, sehr viel deutlicher zwischen Solidarität mit der israelischen Zivilbevölkerung und Israels Regierung zu unterscheiden und sich auf eine Art und Weise bei der humanitären Hilfe und beim Wiederaufbau zu engagieren, die zu palästinensischer Selbstbestimmung beiträgt.

Eine persönliche Frage zum Schluss: Sie arbeiten seit Jahrzehnten zu Palästina und Israel und sind auch jetzt während des Krieges eine sehr gefragte Analystin und Gesprächspartnerin. Wie gehen Sie mit diesen erschreckenden, wenn auch nicht überraschenden Entwicklungen um, vor denen Sie selbst oft genug gewarnt haben, und was hat das letzte Jahr mit Ihnen gemacht? 

Es ist furchtbar zu sehen, wie sich menschenverachtende Politik, entgrenzte Gewalt und Rachegelüste Bahn brechen und Menschenleben, Träume, Hoffnungen, Zukünfte auslöschen. Die Katastrophe, die sich in Israel und den palästinensischen Gebieten derzeit abspielt, wird das Leben sehr vieler Menschen in der Region langfristig bestimmen und ihre Einstellungen entscheidend prägen. Eine friedliche Koexistenz oder gar ein Frieden sind in sehr weite Ferne gerückt. Ich mache mir deshalb sehr große Sorgen um meine Freund*innen vor Ort. Neben dieser Sorge finde ich es sehr schwierig mit der Hilflosigkeit umzugehen, weil der Beitrag so klein ist, den ich leisten kann, um den verheerenden Trends vor Ort und der polarisierten Debatte bei uns entgegenzuwirken.