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Warum gewinnen rechtsradikale Parteien quer durch Europa Stimmen aus der Arbeiterklasse? Von Anton Jäger

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Anton Jäger,

Eine Menschenmenge mit Deutschlandfahnen hinter einem AfD-Transparent mit der Aufschrift "Alice meine Kanzlerin"
Abschlusskundgebung der Thüringer AfD auf dem Erfurter Domplatz, 31. August 2024.

 

  Foto: IMAGO / Funke Foto Services

Der Aufstieg der extremen Rechten ist in den letzten vierzig Jahren zu einem beherrschenden Faktum der europäischen Politik geworden. Seit 1989 konnten rechtsradikale Parteien ihren Stimmenanteil um durchschnittlich knapp 20 Prozentpunkte steigern, in der vergangenen Dekade sind sie in Ländern wie Polen und Frankreich an die Macht gelangt oder zumindest zu Regierungsanwärtern avanciert. Dieser Trend begann in den frühen 2010er Jahren mit dem Wahlsieg Viktor Orbáns in Ungarn und Andrej Dudas in Polen und hat wenig später mit rechten Überraschungserfolgen in Italien, Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und anderswo auch die westliche Hälfte des Kontinents erreicht. Der Vormarsch der Rechten geht zwar keineswegs gleichmäßig vonstatten, aber die politische Dynamik scheint ihn vorerst klar zu begünstigen.

Der belgische Historiker Anton Jäger lehrt Politikwissenschaft an der Universität Oxford und befasst sich vor allem mit politischer Ideengeschichte.

Das vielleicht Frappierendste an den neuen rechtsradikalen Kräften, die im Europaparlament drei verschiedene Fraktionen bilden, ist wohl ihre Fähigkeit, viel stärker als die faschistischen und reaktionären Parteien der Vergangenheit Unterstützung in der Arbeiterklasse zu gewinnen. Das wirft für jedes gegenwärtige und zukünftige linke Projekt in Europa schwierige, aber entscheidende Fragen auf. Wie lässt sich der neue proletarische Rechtsruck deuten, und vor allem: Lässt er sich umkehren?

Für die marxistische Analyse ist dies keine neue Frage. Bereits 1941 verfolgte der Theoretiker Karl Korsch von seinem amerikanischen Exil aus die Erfolge von Hitlers Blitzkrieg auf Kreta und unternahm eine gewagte klassentheoretische Interpretation. Was sich in der deutschen Offensive ausdrücke, so Korsch in einem Brief an Bertolt Brecht, sei «linke Energie, rechts gewendet» – ein verdrehtes Verlangen nach Arbeiterkontrolle. Jahrzehnte später fassten Alexander Kluge und Oskar Negt Korschs Position mit Blick auf den historischen Hintergrund der deutschen Truppen so zusammen:

«Er stellte bei seiner Untersuchung fest, dass die Mannschaften deutscher Panzerdivisionen im Zivilberuf mehrheitlich Automechaniker oder Ingenieure waren, erfahrene Praktiker der Industrie. Eine große Zahl von ihnen kam aus Provinzen Deutschlands, die in den Bauernkriegen (1524–1526) blutigen Massakern von Seiten der Obrigkeit ausgesetzt waren. Sie hätten, so Karl Korsch, einen Grund gehabt, den Kontakt zu Vorgesetzten zu vermeiden. Fast alle hatten sie zugleich die Erfahrung des Stellungskriegs von 1916 vor Augen, den sie ebenfalls ihren Vorgesetzten verdankten, denen sie daraufhin wenig vertrauten. […] Auf diese Weise, so Korsch, wurde es möglich, dass die Truppen spontan und aus historischem Motiv den Blitzkrieg quasi selbst erfunden haben.»[1]

Wenngleich analytisch weit hergeholt, ist es verlockend – und tröstend –, den Aufstieg der extremen Rechten in Europa aus einem ähnlichen Blickwinkel zu betrachten. Die Regionen, die sie zuletzt oder schon vor längerer Zeit erobern konnte – Thüringen, Billancourt, Ostflandern oder die Vororte Wiens –, waren im 20. Jahrhundert allesamt Hochburgen der Arbeiterbewegung. Offenbar wurde die alte Forderung nach Arbeiterkontrolle dort in eine glühende Fremdenfeindlichkeit verkehrt, der Drang zum Sturz der bürgerlichen Ordnung durch das Bestreben ersetzt, ihre schwächsten Mitglieder zu zermalmen. Nur zu gerne würde man mit Korsch glauben, dass sich hinter der Maske der Reaktion noch ein potenziell emanzipatorisches Profil verbirgt, dass auf den Ruinen der Arbeiterbewegung erneut ein linkes Gebäude errichtet werden könnte.

Hat die Arbeiterklasse die Seiten gewechselt?

Seit den frühen 1990er Jahren, als die extreme Rechte ihre ersten Durchbrüche in Europa erzielte, ist eine umfangreiche sozialwissenschaftliche Literatur entstanden, die Korschs Deutung zu stützen scheint. Wie die immer zahlreicheren Studien zum Populismus folgt sie der These eines «Seitenwechsels»: Mit dem Übergang zu einer neuen postindustriellen Gesellschaft hätten die europäischen Arbeiterklassen ihre bisherige Heimat in den kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien nach und nach verlassen und seien zum entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums abgewandert. Da sich die Extreme berühren, wie Liberale bereits im 20. Jahrhundert mit Blick auf die Totalitarismen ihrer Zeit befanden, hätten Arbeiter*innen die «linke Energie», von der Korsch sprach, demnach ebenso gut auf der Rechten zur Geltung bringen können.

Diese These hat den politischen Diskurs während der langen 1990er Jahre geprägt und später weit über akademische Debatten hinaus Plausibilität gewonnen, als die extreme Rechte immer deutlicher eine soziale und europafeindliche Position einnahm. Rechtsradikale Formationen vom Front National bis zu Jörg Haiders FPÖ wurden als Arbeiterparteien dargestellt oder unter die Rubrik «Populismus» gefasst – ein relativ neuer Begriff im sozialwissenschaftlichen Vokabular der frühen 1990er Jahre.

Die Schwächen der These liegen jedoch auf der Hand. Sie trifft zwar bestimmte rhetorische Züge des neuen Rechtsradikalismus, der anstelle einer «rassischen» Identität kulturelle Eigenarten beschwört, befreit ihn aber häufig vom Makel der postfaschistischen Tradition und zeichnet ihn als Fürsprecher einer Arbeiterklasse, die von ihren linken Repräsentant*innen im Stich gelassen worden sei. Gleichzeitig verdankt der Populismusbegriff seine Attraktivität zweifellos dem neuartigen Charakter einiger dieser Parteien. Da sie weder über einen militärischen Flügel verfügen noch von verbitterten Kriegsveteranen getragen werden, kann man sie schwer mit ihren faschistischen Vorgängern vergleichen. Ihre Popularität wurde unterdessen vom strukturellen Niedergang der Parteien in Europa beflügelt: Wähler*innen haben sich von ihren traditionellen Parteien abgewandt und sind Teil eines neuartigen virtuellen, unbestimmten «Volkes» geworden, das sich leicht von Kräften aus dem rechten Spektrum verführen lässt.

Die These eines Seitenwechsels war allerdings schon immer mehr als ein Analysewerkzeug. Sie verwandelte sich nach und nach in ein umfassendes politisches Programm, das die Aufforderung an linke Parteien enthielt, sich an die extreme Rechte anzupassen und von ihr zu lernen oder aber sich eine andere Basis in der neuen Mittelschicht und einem zunehmend diversen Dienstleistungsproletariat zu suchen. Da ihre bisherigen Wähler*innen sie verlassen hätten, müssten sie neue finden. Mit Begriffen wie «Le-Pen-Linke» und «rot-braune Politik» stützte die entsprechende Literatur nicht nur eine populistische Interpretation der neuen extremen Rechten, sondern riet der Linken auch, dem Vorbild ihrer ehemaligen Wähler*innen sowie der Betroffenheitsapostel in den Medien zu folgen und sich ebenfalls nach rechts zu bewegen.

Heute liegen die Folgen der These noch klarer auf der Hand. Dem konservativen Establishment dient sie als Alibi für eine weitere Verschiebung nach rechts, während Teile der Linken entweder versuchen, durch eine Übernahme rechter Taktiken Stimmen aus der Arbeiterklasse zurückzugewinnen, oder ihre ehemalige Basis vollständig aufgeben.

Allerdings ist die These seit den frühen 1990er Jahren durchaus auf Widerspruch gestoßen. Kritiker*innen haben darauf hingewiesen, dass in vielen Regionen, die heute als rechte Hochburgen gelten, die Wahlbeteiligung überdurchschnittlich stark gesunken ist. Sie betonten, dass die Wähler*innen sich von Arbeiterparteien aus Enttäuschung über die marktliberalen Reformen der 1990er und 2000er Jahre abgewandt hätten – die der Begriff «Globalisierung» nur unzureichend erfasst – und nicht aufgrund einer unüberwindlichen Ausländerfeindlichkeit. Außerdem hoben sie hervor, dass die Bindung dieser Menschen an die extreme Rechte viel schwächer sei als früher an linke Parteien, die ihnen eine vollständige soziale Welt boten. Eine Online-Chatgruppe ist nicht dasselbe wie die casa del popolo, und vor allem mangelt es der sozialen Programmatik der extremen Rechten an jedem Bestreben, der wachsenden Macht des Kapitals die Stirn zu bieten.

So ist es in der Faschismusforschung des 21. Jahrhunderts zu einem klassischen statistischen Fehlschluss gekommen: Der Befund, dass Regionen mit hohem Arbeiteranteil faschistisch wählen, hat die Tatsache verdeckt, dass die entsprechenden Stimmen aus der Mittelschicht kommen, nicht von den Arbeiter*innen, die in den Mitgliederverzeichnissen rechtsradikaler Parteien schon immer schmerzlich vermisst wurden. Es hat kein Rechtsruck in der Arbeiterklasse stattgefunden, sondern viele deklassierte städtische Arbeiter*innen haben sich vollständig von der Politik abgewandt. Manche haben sich zusammen mit dem neuen Kleinbürgertum zwar tatsächlich nach rechts bewegt – teils aus Angst vor Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, teils aus Fremdenfeindlichkeit –, aber nicht als ein kollektiver, klassenbewusster Akteur.

Faschisierung ohne Mobilisierung

Die vergangenen Jahre haben die These eines Seitenwechsels noch attraktiver gemacht. Dass Arbeiter*innen in Ostdeutschland, Frankreich, Belgien, Großbritannien und den Niederlanden bei Wahlen nicht einfach zuhause bleiben, sondern vermehrt für rechtsradikale Parteien stimmen, scheint unbestreitbar und hat zu einem erbitterten Krieg der Deutungen geführt. Viele Stimmen beharren darauf, der Aufstieg der extremen Rechten sei keineswegs, wie Korsch noch meinte, auf eine falsch sublimierte linke Libido zurückzuführen, sondern als Ausdruck spätkapitalistischer Fäulnis zu verstehen – nicht als eine umzulenkende Rebellion, sondern als ein Impuls, den es frontal anzugreifen gilt.

An dieser Diagnose ist im Kern vieles unstrittig: Die neue Wählerschaft der rechtsextremen Parteien ist in ihrer Klassenzusammensetzung nicht homogen proletarisch, sie reagiert häufig auf keinerlei Ereignis, das irgendeine konkrete «Bedrohung durch Migration» anzeigen würde; zu ihrer Entscheidung verleitet wird sie durch die politische Klasse einerseits und das wachsende Heer rechtsradikaler Social-Media-Unternehmer*innen andererseits, und Europas Drift nach rechts ist eher reißerischen Medienberichten geschuldet als den tatsächlichen Problemen der Besitzlosen. Dieser Kritik zufolge besteht die Basis der neuen extremen Rechten nicht aus «besorgten Bürger*innen», sondern aus revanchistisch eingestellten Teilen des Lumpenproletariats und der Mittelschichten, die außerstande seien, mit der Tatsache des gesellschaftlichen Wandels im 21. Jahrhundert umzugehen. Eine bestimmte Literatur über «Neo-» oder «Spätfaschismus», für die Autoren wie Alberto Toscano und Enzo Traverso stehen, hat versucht, die Rachefantasien der heutigen extremen Rechten in diesen Rahmen einzuordnen und zu zeigen, wie neue Umstände alte Gespenster heraufbeschwören.

So wie das Wort «populistisch» von sehr begrenztem Nutzen ist, wenn es um das Verständnis der neuen Rechten geht, erweist sich allerdings auch die Bezeichnung «faschistisch» als wenig erhellend. Mit Blick auf die bevorzugten Ideologeme – vom angeblich geplanten «Großen Austausch» der Bevölkerung bis zu anderen ethnonationalistischen Fantasien – ist eine Kontinuität zum 20. Jahrhundert sicherlich kaum zu bestreiten. Wie der Historiker Christopher Hill jedoch einmal bemerkte, gilt in der Politik nicht anders als in der Biologie, dass sich Umweltfaktoren häufig als ebenso wichtig wie Abstammung erweisen, und die heutigen Faschist*innen sind mit vollkommen anderen Rahmenbedingungen konfrontiert als ihre Vorgänger*innen. Der Militarismus etwa hat stark an Bedeutung verloren, und von der Linken geht keine revolutionäre Drohung mehr aus. Dylan Riley schreibt treffend, die Eigenart der gegenwärtigen extremen Rechten werde deutlich, wenn man sich vergegenwärtige, dass Faschist*innen traditionell nie einen soliden Rückhalt in der Arbeiterklasse zu gewinnen vermochten – für die Führungskader eine Quelle ständiger Frustration.

Der europäische Faschismus gelangte in einer Zeit massiver gesellschaftlicher Konfrontationen an die Macht: Hitler und Mussolini setzten sich nach gescheiterten proletarischen Revolutionsversuchen durch und galten den Eliten als aussichtsreichste Option, um die soziale Ordnung zu stabilisieren und die Arbeiter*innen wieder zu disziplinieren. Ein starkes Proletariat gibt es in Europa heute nicht; Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit haben die Lohnabhängigen fatal geschwächt. Im Gegensatz zu den 1930er Jahren, als die faschistische Straßengewalt Hochkonjunktur hatte, zehrt die heutige extreme Rechte von einer Demobilisierung – bei Wahlen, aber auch darüber hinaus.

Melonis Partei beispielsweise gewann eine Wahl, bei der beinahe vier von zehn Italiener*innen zuhause blieben – die Beteiligung sank um fast zehn Prozent. In Frankreich schneidet Le Pens Rassemblement National traditionell dort am besten ab, wo die Wahlbeteiligung am niedrigsten ist. Und in Polen, wo die PiS-Partei der Kaczyński-Brüder ans Ruder gelangte, gehört nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung einer Partei an.

Hier geht es offenkundig nicht um Massen, sondern um Übungen in orchestrierter Passivität, die einem Vergleich mit den Massenparteien des 20. Jahrhunderts kaum standhalten. Wie David Broder für den Fall Italien bemerkte, «lädt der jüngste Vormarsch einer rechtsradikalen Partei im Geburtsland des Faschismus fraglos zu eindringlichen Analogien ein», doch «das bedeutet nicht, dass Mussolinis Erben einfach die Vergangenheit in der Gegenwart wiederholen, oder auch nur, dass die faschistischen Elemente ihrer Kultur ausnahmslos dem Italien der Zwischenkriegszeit entlehnt wären».

Die vorliegenden Daten bezeugen den zutiefst zeitgenössischen Charakter des rechtsextremen Vormarschs in Europa – er stützt sich auf neuartige radikale Netzwerke, nicht auf eine Wiederkehr der Gewalt von Freikorps oder eines boulangistischen Militarismus, der als historischer Nachzügler Kolonien im Osten anstrebte. Hitler und Mussolini versprachen Kolonialreiche, wie ihre französischen und britischen Rivalen sie schon längst erworben hatten. Ihr Ziel war es, Grenzen einzureißen, nicht sie zu verstärken. Die heutige extreme Rechte dagegen will die Alte Welt vom Rest des Globus abschirmen; sie sieht ein, dass Europa im 21. Jahrhundert kein machtvoller Protagonist mehr sein wird und bestenfalls auf Schutz vor den postkolonialen Horden hoffen kann.

Was sagt uns das über die Anatomie des Phänomens? Wie erwähnt stehen diejenigen Linken, die den Erfolg der Rechtsradikalen in Teilen der Arbeiterklasse nachahmen wollen, und jene, die das Klassenterrain kurzerhand aufgeben, vor demselben Problem. Die These eines Überlaufens der Arbeiter*innen zur extremen Rechten findet zwar eine gewisse empirische Bestätigung, entspringt aber doch eher normativen Vorentscheidungen als nüchterner wissenschaftlicher Analyse. Was an den Wahlerfolgen der AfD und rechtsradikaler Parteien im Westen generell viel stärker auffällt, ist, dass sie sich keiner Re-, sondern einer Demobilisierung verdanken: Die meisten Arbeiter*innen wenden sich von der Politik ab, während einige wenige zur extremen Rechten wechseln – und dieser kleine Teil wird dann als repräsentativ für die demobilisierte Klasse insgesamt dargestellt.

Demobilisierung wird somit als Remobilisierung missverstanden – manche Wähler*innen aus der Arbeiterklasse experimentieren mit neuen Parteien, aber ihre vorherrschende Reaktion besteht in einer Mischung aus Apathie und Rückzug, nicht einem rebellischen Seitenwechsel. Und selbst die begrenzte Zahl, die zur Rechten abwandert und so die optische Täuschung eines allgemeinen Überlaufens erzeugt, hat zumeist eine wesentlich schwächere Bindung an die neuen rechtsradikalen Parteien als früher an die Parteien der Linken (ein Muster, das in Nordfrankreich, wo Le Pen ehemalige kommunistische Hochburgen erobern konnte, und in Ostdeutschland besonders deutlich ist). Für die extreme Rechte zu stimmen, ist eine Privatsache, die man für sich behält, kein öffentliches Engagement – ein eher passiv-aggressives als aktives, eher informelles als formelles Verhalten.

Didier Eribon hat in seinem autobiografischen Essay über seine ehemals kommunistischen Eltern beschrieben, wie das Überlaufen seines Vaters zur extremen Rechten sich auch in einem anderen Register ausdrücken musste als die kommunistische Lebensweise, der er früher anhing: «Im Gegensatz zur Stimme für die Kommunisten, die man selbstbewusst, demonstrativ und öffentlich abgab, wurde die Wahlentscheidung für die Rechtsextremen gegenüber dem Urteil von außen […] abgeschirmt, ja geleugnet.» Einen weiteren Unterschied zur kommunistischen Kultur fasst Eribon so: «In der Wahl für den Front National blieben die Einzelnen, wer sie waren. Die produzierte Meinung ist nur die […] Summe ihrer spontanen Vorurteile.»

Dimensionen der Reaktion

Mit Blick auf die These eines Seitenwechsels gilt es somit zwei Extrempositionen zu vermeiden: Weder ist der neue Rechtsradikalismus ein authentischer Ausdruck von Nöten der Arbeiterklasse, die von einer übermäßig progressiven Linken im Stich gelassen wurde, noch ausschließlich ein Projekt der Mittelschichten und Eliten, die lediglich vortäuschen, über eine proletarische Basis zu verfügen. Ein Mittelweg zwischen Ökonomismus und Kulturalismus bewahrt uns auch davor, ihn auf eine proletarische Rebellion zu reduzieren oder zu behaupten, der soziale und wirtschaftliche Niedergang sei bloß eine Halluzination der rechtsextremen Wählerschaft.

Wenn der rechte Vormarsch also kein verdrehter Ausdruck «materieller Interessen» ist, sollten wir ihn umgekehrt jedoch auch nicht als ein reines «Überbauphänomen» fassen und so die ökonomischen Ursachen der gegenwärtigen Krise verdecken. Die Perspektive eines Korsch kann in bequeme Apologetik münden, aber es gibt auch eine bestimmte Art von Antiökonomismus, die Gefahr läuft, das soziale Terrain zu verdecken und so die Aussicht auf seine Veränderung aufzugeben. Um die leicht entflammbare Umgebung zu verstehen, in der Europas pyromanische Rechtsextreme zündeln, brauchen wir weniger Massenpsychologie und mehr politische Ökonomie. So verstanden zeichnet die neue Rechte im Kern der Versuch aus, den zentralen Widerspruch der Finanzialisierung Europas rhetorisch zu steuern und im Zaum zu halten: einer Wirtschaft, die keine nennenswerten Produktivitätssteigerungen mehr erzielen kann und für ihr dürftiges Wachstums daher auf billige Arbeitskraft angewiesen ist, steht eine Bevölkerung gegenüber, die zunehmend staatliche Eingriffe in das System sehen will.

Ein besonders häufig vernachlässigter Aspekt besteht darin, wie wirtschaftliche Faktoren den widersprüchlichen Status von Einwanderung im öffentlichen Leben Europas untermauern. Nach der partiellen Deindustrialisierung der 1980er und 1990er Jahre blieb eine Zufuhr an billiger Arbeitskraft unverzichtbar: Um den expandierenden Dienstleistungssektor und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie auf einem zunehmend umkämpften Weltmarkt zu stützen, brauchte es demografisches Wachstum. Ungeachtet ihrer bombastischen Rhetorik haben konservative Parteien in den vergangenen Jahrzehnten wenig getan, um dieses fragile Wachstumsmodell zu verändern. In Großbritannien etwa haben die Tories in den letzten zehn Jahren weder die Zahl der Einwanderinnen und Einwanderer reduziert, noch auch nur den leisesten Versuch unternommen, ähnlich wie Joe Biden die Rückverlagerung von Industrieproduktion auf heimisches Terrain zu fördern – während an ihrer Basis zunehmend Wut um sich griff.

Der Unmut in der britischen Bevölkerung wächst spätestens seit dem Ende der 2000er Jahre, als auf den unteren Rängen des Arbeitsmarktes das Gefühl stärker wurde, dass Einwanderung zwar vielleicht nicht die Ursache magerer Einkünfte ist, aber doch ein unverzichtbarer Bestandteil des Niedriglohnregimes, dem sich die politische Elite verschrieben hat. Was wir in den letzten Jahren nicht nur in Großbritannien beobachten konnten, ist die Explosion dieses Unmuts in der für die 2020er Jahren prägenden «hyperpolitischen» Form: Agitation ohne dauerhafte Organisation, kurzlebige Spontaneität ohne institutionelle Festigung. Solche «Triggerpunkte», wie Steffen Mau und sein Forschungsteam sie nennen, können von einer neuen Schar rechtsradikaler Influencer*innen mühelos aufgeladen werden.

Die aktuell zunehmende Fremdenfeindlichkeit hat zugleich eine internationale Dimension. Ist es überraschend, dass Staaten, die als Kettenhunde eines absteigenden imperialen Hegemons auftreten und den Genozid im Nahen Osten bedingungslos unterstützen, Zeuge werden, wie eine solche Kriegsmentalität auf das eigene Land zurückschlägt? Sowohl Großbritannien als auch Deutschland haben die anhaltenden Kriegsverbrechen in Palästina normalisiert und wiederholt gerechtfertigt – und so den Kräften, die es zu antimuslimischer Gewalt drängt, starken Auftrieb gegeben.

Anders als die vorherrschenden Formen von Antisemitismus gehen antimuslimische Einstellungen selten mit der Projektion einer weltumspannenden Allmacht einher. «Der Moslem» wird vielmehr als eine bedrohlich ambivalente Figur dargestellt. Seine Fähigkeit, ein Minimum an Zusammenhalt der eigenen Gemeinschaft zu wahren, gilt im Nullsummenspiel des Spätkapitalismus als ein Vorteil in der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Nicht die Angst vor dem Anderen macht das antimuslimische Gefühl aus, sondern eine Angst vor dem Gleichen: vor einem, der sich in derselben Abhängigkeit vom Markt befindet, aber vermeintlich besser gewappnet ist gegen dessen Brutalität. Gleichzeitig gilt «der Moslem» als ein subalterner Agent der Abstraktion, die der Finanzsektor der stabilen Welt der Nachkriegsdekaden aufgezwungen hat: Er ist fehl am Platz, er ist schuld an der «Erosion von Grenzen», wie Richard Seymour formuliert.

Durchbrüche

1913 vertrat Lenin die kontroverse These, hinter den Schwarzen Hundertschaften – den reaktionär-monarchistischen Organisationen, auf die der Begriff «Pogrom» zurückgeht – könne man einen «unbewussten Bauerndemokratismus» ausmachen, «der äußerst grobschlächtig ist, aber auch sehr tief sitzt». Die russischen Gutsbesitzer würden «an die starrsten Vorurteile des rückständigsten Bauern appellieren, […] seine Unwissenheit ausnutzen». Doch ein «solches Spiel», so Lenin weiter, sei «nicht ungefährlich. Immer wieder durchbricht die Stimme des echten Bauernlebens, der Bauerndemokratismus, die ganze Schwarzhundertermuffigkeit und -routine».

Der Aufschwung der extremen Rechten in Europa hat keinen entstellten emanzipatorischen Kern, er speist sich nicht aus einer «Energie», die man umlenken könnte. Insofern ist die verzweifelte Hoffnung, die Korsch in den Blitzkrieg hineinlas, aufzugeben.

Dem rechten Vormarsch liegt aber eine Welt des Elends zugrunde, in deren Negation die historische Aufgabe der Linken besteht – und von Zeit zu Zeit durchbricht, mit Lenin gesprochen, auch die Stimme des postindustriellen Bauern die ganze «Muffigkeit und Routine» der Reaktion.

Was die Situation so gefährlich macht, ist der Mangel an Erfolg versprechenden Strategien, die solche Durchbrüche fördern könnten – sie sind bislang eher palliativ als wirklich oppositionell. Die Demonstrationen, die zurzeit Monat für Monat in vielen europäischen Städten stattfinden, mögen sinnvoll sein, um eine rote Linie zu markieren und die Minimalvoraussetzungen jeder Politik zu verteidigen, die die extreme Rechte aufhalten könnte. Das riesige gesellschaftliche Vakuum aber, das die neuen Rechtsradikalen in Europa ausschlachten, können sie nicht füllen.

[Übersetzung von Felix Kurz & André Hansen für Gegensatz Translation Collective]


[1]     Diese Passage ist im deutschen Original des Buches nicht enthalten, Alexander Kluge verfasste sie für die englischsprachige Ausgabe. Die Übersetzer danken Richard E. Langston, der das Buch ins Englische übertragen hat, für ihre Übermittlung im deutschen Wortlaut.