Das Thema Polizei und Antisemitismus bedarf dringend wissenschaftlicher Aufarbeitung. Dies gilt erst recht angesichts des Anstiegs antisemitischer Delikte und bedrohlicher Gewalttaten wie auch angesichts der Tendenzen zur Verrechtlichung und Versicherheitlichung der Nahost- und Antisemitismusdebatte und des zunehmenden Protestgeschehens im Themenfeld Nahost.
Mit dem Sammelband von Kopke und Salzborn liegt ein erster Versuch eines Überblicks anhand der konkreten Situation in Berlin vor. Instruktiv ist der Überblick über das Themenfeld und relevante Analyseperspektiven von Mitherausgeber Christoph Kopke. Spannend auch die – allerdings über eine Vielzahl von Aufsätzen verstreuten – Bestandaufnahmen von Problemen und Blindstellen. Zu nennen sind unter anderem mangelndes Wissen von Beamt*innen, fehlende Sensibilität gegenüber Betroffenen, verzögerte Bearbeitung von Fällen, antisemitische Einstellungen und rechte Netzwerke innerhalb der Polizei. Thomas Irmer behandelt auch die Geschichte der Institution, insbesondere im Nationalsozialismus und damit deren antisemitisches Erbe. Aufschlussreich und komplex ist die juristische Bewertung des Zusammenhangs von Antisemitismus und Polizei aus antidiskriminierungsrechtlicher Perspektive durch Doris Liebscher, die auch weniger offensichtliche Aspekte anschneidet, beispielsweise jüdische Polizist*innen als Betroffene.
Die wenigstens Aufsätze folgen einer in diesem Sinne analytischen Linie. Ein beträchtlicher Teil widmet sich zuerst der Bestandsaufnahme und Deskription, so des Berliner Modells zur Antisemitismusbekämpfung, zur Arbeit des Antisemitismusbeauftragten der Berliner Polizei, von Monitoringstellen und dem Regishut-Projekt zur Sensibilisierung der Berliner Polizei zum Thema Antisemitismus. Die Autor*innen sind überwiegend selbst Praktiker*innen in diesen Handlungsfeldern und beschreiben ihre Programmatik. Zwei Aufsätze zum Schluss geben Hinweise, wie mit den Stellschrauben Polizeikultur und Bildung (nicht nur Ausbildung, sondern selbstreflexive Subjektwerdung) etwas zur Verbesserung der offensichtlichen Probleme beizutragen wäre.
Irritierend, wenn auch bei der personellen Zusammensetzung nicht überraschend, ist die Selbstverständlichkeit einiger normativer und wissenschaftspolitischer Voraussetzungen. So gilt die hochgradig umstrittene Antisemitismusdefinition der IHRA im Band weitgehend als unhinterfragte Richtschnur. Auch die außerrechtliche, im Kern undemokratische und in den letzten Monaten vermehrt diskutierte Kategorie der Staatsräson ist von der ersten Textseite an als normative Richtschnur präsent. Leider wird auch die für Lagebilder maßgebliche polizeiliche Klassifikationspraxis antisemitischer Straftaten kaum problematisiert (vgl. dazu Kohlstruck und Ullrich 2015; Laube 2021). Entsprechend ist der mit 150 Seiten auch schmale Sammelband ein Anfang und noch lange keine Bilanz der Erforschung der Konstellation Antisemitismus/Polizei.
Kopke, Christoph und Samuel Salzborn, Hrsg (2023): Antisemitismus und Polizei. Das Beispiel Berlin. Polizei - Geschichte - Gesellschaft, Band 5. Frankfurt am Main: Verlag für Polizeiwissenschaft, ISBN 978-3-86676-827-7, 150 S., 26,90 €
Zitierte Literatur:
Kohlstruck, Michael, und Peter Ullrich. 2015. Antisemitismus als Problem und Symbol. Phänomene und Interventionen in Berlin. 2. Aufl. Berliner Forum Gewaltprävention 52. Berlin (als PDF).
Laube, Max. 2021. Antisemitische Vorfälle in Berlin (Januar 2017 – Juni 2019) Art, Ausmaß, Entwicklung. Berlin: Zentrum für Antisemitismusforschung.