
1. Zu keinem Zeitpunkt hat sich die (west)deutsche Gesellschaft ernsthaft mit dem Problem der sozialen Ungleichheit auseinandergesetzt und nach Möglichkeiten zu dessen Lösung gesucht, sondern die Armut meistenteils ignoriert, negiert oder relativiert, um ihm ausweichen zu können.
2. Da praktisch sämtliche Bevölkerungsschichten unter den Zerstörungen, sozialen Verwerfungen und materiellen Entbehrungen litten, die das Alltagsleben im Nachkriegsjahrzehnt bestimmten, lag es nahe, weniger die gesellschaftlichen Interessengegensätze als die gemeinsamen Unsicherheiten und Zukunftsängste zu betonen. Extreme Armut, die sich in Massenelend, Wohnungslosigkeit und Hungersnot äußerte, wurde daher selten als eine Folge der Klassenspaltung, überkommener Herrschaftsverhältnisse oder ungleicher Verteilungsrelationen, sondern eher als von den Alliierten oktroyierte und von der Bundesregierung nicht unmittelbar zu beeinflussende Kriegslast betrachtet.
3. In dem nur durch leichte konjunkturelle Rückschläge unterbrochenen Wirtschaftsaufschwung ging die Massenarmut zurück, wenngleich das Problem nie verschwand. Je mehr Bevölkerungsgruppen im Laufe des relativ stetigen Wirtschaftsaufschwungs wenn auch zum Teil unterdurchschnittlich am gesellschaftlichen Wohlstand beteiligt wurden, umso weniger Aufmerksamkeit fand die Armut der übrigen. „Armut“ entwickelte sich aus einem Reizwort im Kalten Krieg während der hierzulande besonders stark ausgeprägten Prosperitätsperiode mehr und mehr zu einem politischen Unwort.
4. Die (west)deutsche Soziologie verzichtete jahrzehntelang fast ganz darauf, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen. Spezialuntersuchungen zu dieser Thematik hatten Seltenheitswert. Da man weder von der Bundesrepublik als Klassengesellschaft noch über die Gesellschaftsklassen sprechen wollte, schwieg man auch über die Armut. Kaum hatte sich die Kennzeichnung der westdeutschen Ökonomie als „Soziale Marktwirtschaft“ durchgesetzt und dem Nachkriegskapitalismus ein positives Image verliehen, bezeichnete Helmut Schelsky die Bundesrepublik 1953 als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, was kaum mehr als eine Legitimationsformel war, die Öffentlichkeit, Politik und Parteien gern übernahmen.
5. Je mehr die westdeutsche Gesellschaft, statt ihre widersprüchliche Realität und sozial heterogene Zusammensetzung zu akzeptieren, ein unrealistisches (Zerr-)Bild von sich selbst entwickelte, in dem weder Raum für nennenswerte Armut noch für großen Reichtum war, umso weniger war sie fähig, soziale Polarisierungstendenzen in ihrer Mitte auch nur wahrzunehmen, von der Bereitschaft, dieser Entwicklung konsequent entgegenzusteuern, ganz zu schweigen.
6. Erst im Gefolge der Rezession 1966/67 einerseits sowie der Schüler- und Studentenbewegung bzw. der Außerparlamentarischen Opposition (ApO) andererseits wurde die Armut in der Bundesrepublik wieder öffentlich wahrgenommen, wenn auch meist als Problem von Randgruppen: Drogenabhängigen, Strafgefangenen, Bettler(inne)n und Obdachlosen.
7. Nach der Bildung einer sozial-liberalen Koalition unter Führung Willy Brandts im Herbst 1969 schien die Gefahr der Verarmung größerer Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Reformen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik gebannt zu sein, denn mit dem „Modell Deutschland“ (SPD-Wahlslogan) verband sich die Zielsetzung einer größeren Verteilungsgerechtigkeit.
8. Dies änderte sich während der Weltwirtschaftskrise 1974/75, die zu einem Kurswechsel in der westdeutschen Sozialpolitik führte: Durch zuerst noch relativ geringfügige Leistungskürzungen und eine schrittweise Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen wollte man die öffentlichen Finanzen konsolidieren und die privaten Investitionen stimulieren, förderte damit jedoch die Armut.
9. Die von Bundeskanzler Kohl verkündete „geistig-moralische Wende“ brachte für Arme und sozial Benachteiligte weniger Unterstützung in schwierigen Lebenslagen, mehr Missbrauchsvorwürfe an ihre Adresse und einen stärkeren (Kontroll-)Druck der zuständigen Behörden. Die neue „Koalition der bürgerlichen Mitte“ betrieb eine auf Umverteilung „von unten nach oben“ gerichtete Wirtschafts- und Sozialpolitik. Vor allem ihre Steuerpolitik sorgte dafür, dass sich die Einkommensverteilung zulasten von Arbeitnehmer(inne)n, deren Reallöhne sanken, und ihren Familien verschob, während begünstigt wurde, wer Einkünfte aus Unternehmertätigkeit und Vermögen erzielte.
10. Während der 80er-Jahre vollzog sich in der „alten“ Bundesrepublik eine tiefgreifende soziale Spaltung zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen, deren materielle Schlechterstellung zuerst im Gewerkschaftsbereich registriert und als „neue Armut“ etikettiert wurde. Auch im etablierten Wissenschaftsbetrieb blieb das Anwachsen der Armut nicht ohne Echo. Zumindest nahm die Zahl einschlägiger Veröffentlichungen gegenüber den vorangegangenen Dezennien zu.
11. Ulrich Beck sprach in seinem 1986 erschienenen Buch „Risikogesellschaft“ von einem sozialen „Fahrstuhl-Effekt“, der alle Klassen und Schichten nach dem Zweiten Weltkrieg „insgesamt eine Etage höher gefahren“ habe. Während am Beginn der Bundesrepublik ein „kollektiver Aufstieg“ gestanden habe, seien die 80er-Jahre von einem „kollektiven Abstieg“, einem „‚Fahrstuhl-Effekt‘ nach unten“ gekennzeichnet. Dabei übersah der Münchner Soziologe allerdings, dass sich Gesellschaften nicht gleichförmig entwickeln und ein Paternoster-Effekt dominiert: In demselben Maße, wie die einen nach oben gelangen, geht es für die anderen nach unten.
12. Durch den Zusammenschluss von BRD und DDR bekam die Armut in Deutschland ein anderes Gesicht. Das soziale Problemfeld der Arbeitslosigkeit wie der Armut wurde in seiner Struktur grundlegend verändert und verlagerte sich stärker nach Osten, wohingegen das Altbundesgebiet sogar von einem mehrjährigen „Vereinigungsboom“ profitierte. Die neue Armut war weder temporärer noch singulärer Natur, sondern ein Strukturproblem, das (in seiner ganzen Brisanz) entweder nicht erkannt oder bewusst negiert wurde.
13. In ihrer am 20. Oktober 1998 geschlossenen Koalitionsvereinbarung mit dem Titel „Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert“ versprachen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die Bekämpfung der Armut zum Schwerpunkt ihrer Regierungspolitik zu machen. Wer gehofft hatte, die rot-grüne Koalition werde eine ganz andere Sozialpolitik als ihre Vorgängerin machen und die Armen davon profitieren, sah sich jedoch getäuscht.
14. Hartz IV sollte nicht nur durch Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt den Staatshaushalt entlasten, sondern auch durch Einschüchterung der Betroffenen mehr „Beschäftigungsanreize“ im Niedriglohnbereich schaffen. Man zwingt sie mit Hilfe von Leistungskürzungen, schärferen Zumutbarkeitsklauseln und Maßnahmen zur Überprüfung der „Arbeitsbereitschaft“, fast jede Stelle anzunehmen und ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen zu verkaufen.
15. Seit der Begriff „Bildungsarmut“ um die Jahrtausendwende in die deutsche Fachdebatte eingeführt wurde, tut man so, als könne eine gute Schul- oder Berufsausbildung verhindern, dass Jugendliche ohne Arbeitsplatz bleiben. Tatsächlich verhindern Bildungsdefizite vielfach, dass junge Menschen auf dem überforderten Arbeitsmarkt sofort Fuß fassen. Bildung ist jedoch keine Wunderwaffe im Kampf gegen die Armut, zumal sie immer mehr zur Ware verkommt. Denn wenn alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland – was zweifelsohne sinnvoll und anzustreben ist – bessere Bildungsmöglichkeiten erhalten, konkurrieren sie am Ende womöglich auf einem höheren Bildungsniveau, aber nicht mit besseren Chancen um weiterhin fehlende Lehrstellen und Arbeitsplätze. Dann gibt es zwar mehr Taxifahrer mit Abitur oder Hochschulabschluss, aber nicht weniger Arme.
16. Als der SPD-Vorsitzende Kurt Beck in einem Interview, das die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung am 8. Oktober 2006 veröffentlichte, eher beiläufig den Begriff „Unterschichten“ fallen ließ und Zwischenergebnisse einer Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ bekannt wurden, in welcher der Terminus „abgehängtes Prekariat“ vorkommt, entdeckte die deutsche Öffentlichkeit nach Jahren, wenn nicht Jahrzehnten wieder das sonst nur in der Vorweihnachtszeit und im Sommerloch behandelte Thema „Armut“. Statt eines Paradigmen- bzw. Politikwechsels löste dieser Umstand ideologisch motivierte Abwehrreflexe aus: Entweder wurde der einzelne Betroffene für seine Misere verantwortlich gemacht oder der Sozialstaat zum Sündenbock erklärt.
17. Armut und Reichtum sind keine unsozialen Kollateralschäden der Globalisierung, sondern in dem bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem funktional, d.h. gewollt und bewusst erzeugt. So hat die Große Koalition kurz vor dem Jahreswechsel 2008/09 eine Erbschaftsteuerreform verabschiedet, die einen verteilungspolitischen Skandal ersten Ranges darstellte, weil sie besonders Reiche und Superreiche begünstigte. Kindern von Familienunternehmern wurde die betriebliche Erbschaftsteuer vollständig erlassen, sofern sie die Firma zehn Jahre, und zu 85 Prozent, wenn sie das Unternehmen sieben Jahre lang fortführten und die Lohnsumme insgesamt mindestens zehn bzw. 6,5 Mal so hoch war wie im letzten Tätigkeitsjahr des Erblassers. Ehepartner/innen, die eine selbst genutzte Luxusimmobilie erbten und sie zehn weitere Jahre bewohnten, blieben von der Erbschaftsteuer ganz verschont, genauso wie Kinder, sofern die Wohnfläche 200 qm nicht überschritt und sie für zehn Jahre dort ihren Hauptwohnsitz einrichteten.
18. Damit wurde die zuletzt in der Bundesrepublik überaus deutlich feststellbare Spaltung in Arm und Reich nicht bloß zementiert, sondern auch verschärft. In kaum einem westlichen Industriestaat ist die Erbschaftsteuer so niedrig und das Finanzaufkommen daraus so gering wie hierzulande (ca. 4 Mrd. EUR pro Jahr). Während die Regierung deutschen Unternehmerdynastien wie Burda, Oetker oder Quandt/Klatten (BMW) Steuergeschenke in Milliardenhöhe macht, bittet sie Geringverdiener/innen samt ihrem Nachwuchs seit dem 1. Januar 2007 stärker als vorher zur Kasse: Die Anhebung der Mehrwert- und Versicherungssteuer von 16 auf 19 Prozent trifft tagtäglich besonders jene Familien hart, die praktisch ihr gesamtes Einkommen in den Konsum stecken (müssen).
19. Reichtumsmehrung statt Armutsverringerung – so lautet das heimliche Regierungsprogramm. Gemacht wird eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird auch das noch genommen.
20. Weniger großzügig zeigten sich die etablierten Parteien gegenüber den Armen: Als die Große Koalition rechtzeitig vor dem Jahreswechsel beschloss, ab dem 1. Januar 2009 das Kindergeld für das erste und zweite Kind um 10 EUR und ab dem dritten Kind um 16 EUR pro Monat zu erhöhen, einigte man sich auf Initiative der SPD gleichzeitig darauf, für die Kinder von Hartz-IV-Bezieher(inne)n, die nicht in den Genuss des höheren Kindergeldes kommen, weil es voll auf ihre Transferleistung angerechnet wird, ein „Schulbedarfspaket“ in Höhe von 100 EUR pro Schuljahr zu schnüren. Es sollte nach dem zum Jahresbeginn 2009 in Kraft getretenen Familienleistungsgesetz allerdings nur bis zur 10. Klasse gewährt werden. CDU und CSU hatten auf dieser Begrenzung bestanden, weil die SPD ihrem Wunsch nach Steuerprivilegien für Eltern, deren Kinder auf Privatschulen gehen, nicht entsprach. Die öffentliche Kritik an der beschlossenen Regelung blieb nicht aus, schien es doch geradezu so, als wollte die Große Koalition damit unterstreichen, dass die Kinder aus sozial benachteiligten Familien kein Abitur machen sollen, oder dokumentieren, dass Gymnasiasten der höheren Klassenstufen ohnehin aus Elternhäusern kommen, die keiner staatlichen Zuwendung bedürfen. Auf einer Sitzung des Koalitionsausschusses am 4./5. März 2009 verständigten sich CDU, CSU und SPD schließlich darauf, den Gesetzestext an diesem Punkt nachzubessern und auch Oberstufenschüler/innen und Vollzeit-Berufsschüler/innen sowie die Kinder von Geringverdiener(inne)n in den Genuss des „Schulbedarfspaketes“ kommen zu lassen, das jedoch den realen Bedarf gar nicht deckt.
21. Seit die Bankenkrise globale Dimensionen angenommen hat, deutet vieles darauf hin, dass sich die soziale Zerklüftung der Industrieländer erheblich verschärfen wird. Zu den fatalen Folgen der Weltfinanzwirtschaftskrise könnten eine auf Rekordniveau steigende Arbeitslosigkeit, die zunehmende Verelendung von Millionen Menschen und eine dramatische Verschuldung aller Gebietskörperschaften des Staates, d.h. „öffentliche Armut“ in einem ungeahnten Ausmaß gehören. Gleichzeitig wird sich der Reichtum noch stärker bei wenigen Kapitalmagnaten, Finanzinvestoren, Investmentbankern und Großgrundbesitzern sammeln, wenn dem nicht energisch entgegengesteuert wird.
22. Während die das Krisendebakel wesentlich mit verursachenden Hasardeure und Spekulanten durch einen „Rettungsschirm“ aufgefangen werden, müssen die Mittelschicht, Arbeitslose und Arme jene Suppe, die Banker und Börsianer der gesamten Bevölkerung eingebrockt haben, vermutlich einmal mehr auslöffeln. Wenn die privaten Banken den für sie bürgenden Staat zur Kasse bitten und ihn die Firmenerben immer weniger mitfinanzieren, wird für die sozial Benachteiligten und die Bedürftigen kaum noch Geld übrig bleiben. Zusammen mit der im Grundgesetz verankerten „Schuldenbremse“ führen Bürgschaften und Kredite in Milliardenhöhe zu überstrapazierten Haushalten, wodurch sich „Sparmaßnahmen“ natürlich eher als sonst legitimieren lassen.
23. Nach der Landtagswahl in NRW am 9. Mai 2010 erlag die Bundesregierung der Versuchung, Kürzungen im Sozialbereich vorzunehmen. Aufgrund der härteren Verteilungskämpfe um die knappen Finanzmittel des Staates dürfte das soziale Klima hierzulande erheblich rauer werden. Bereits seit geraumer Zeit mehren sich die Anzeichen für eine „härtere Gangart“ gegenüber den Armen. Denn mit der US-Amerikanisierung des Sozialstaates durch die sog. Hartz-Gesetze geht nicht nur eine US-Amerikanisierung der Sozialstruktur (Polarisierung von Arm und Reich sowie Pauperisierung großer Teile der Bevölkerung und Prekarisierung der Lohnarbeit), sondern auch eine US-Amerikanisierung der (sozial)politischen Kultur einher.
24. Unter den Konzepten zur Armutsbekämpfung sticht das bedingungslose Grundeinkommen hervor, weil es suggeriert, ein „gesellschaftspolitischer Befreiungsschlag“ zu sein. Dabei handelt es sich um eine alternative Leistungsart, die mit der Konstruktionslogik des bestehenden, früher als Jahrhundertwerk gefeierten Wohlfahrtsstaates bricht sowie seine ganze Architektur bzw. Struktur zerstören würde. Wenn (fast) alle bisherigen, zum Teil nach Bedürftigkeit gewährten Transferleistungen zu einem Grundeinkommen verschmolzen würden, wäre das Ziel neoliberaler Reformer, einen „Minimalstaat“ zu schaffen und die Sozialversicherungen zu zerschlagen, ganz nebenbei erreicht, was sich noch dazu als Wohltat für die Bedürftigen hinstellen ließe.
25. Gleichzeitig böte die Refinanzierung des Grundeinkommens über indirekte, d.h. Konsumsteuern einen Hebel, um die Unternehmenssteuern weiter zu senken und am Ende abzuschaffen. Zu mehr sozialer Gerechtigkeit käme man auf diese Art und Weise sicher nicht. Was vielen Menschen als reformpolitischer Königsweg erscheint, entpuppt sich als Sackgasse: Letztlich würde ein bedingungsloses Grundeinkommen als „Kombilohn“ für alle Bürger/innen wirken, weil niedrige Arbeitseinkommen generell aufgestockt würden. Da ihr Existenzminimum durch das Grundeinkommen gesichert wäre, könnten dessen Bezieher/innen noch schlechter entlohnte Jobs annehmen, wodurch den Unternehmen mehr preiswerte Arbeitskräfte zur Verfügung stünden.
26. Anstatt das bestehende Sozialversicherungssystem durch ein bedingungsloses Grundeinkommen aus den Angeln zu heben, könnte man es zu einer solidarischen Bürgerversicherung ausbauen, die alle Wohnbürger/innen einbezieht und durch eine Sockelung der Leistungen im Sinne einer bedarfsorientierten Grundsicherung verhindert, dass Menschen durch die Maschen des „sozialen Netzes“ fallen. Mittels einer Bürgerversicherung, die allgemein, einheitlich und solidarisch sein müsste, könnte die berufsständische Gliederung des Bismarck’schen Sozialstaates endgültig überwunden und gleichzeitig sein Fundament verbreitert werden, ohne von der Systemlogik abzugehen. Ergänzend zu einer solchen Bürgerversicherung, die alle Wohnbürger/innen mit ihren sämtlichen Einkommen und Einkunftsarten (möglichst ohne Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen) zur Finanzierung der nötigen Leistungen im Sozial- bzw. Gesundheitsbereich heranzieht, bedarf es einer sozialen Grundsicherung, die das persönliche Existenzminimum ohne entwürdigende Antragstellung und bürokratische Bedürftigkeitsprüfung sicherstellt. Sie müsste armutsfest, bedarfsdeckend und repressionsfrei sein.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge, geb. 1951, lehrt seit 1998 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Seine neueste Buchveröffentlichung: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 4. überarbeitete und erweiterte Aufl. Wiesbaden (VS – Verlag für Sozialwissenschaften) 2011