Kommentar | Rosalux International - Krieg / Frieden - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina Das unerträgliche Leid in Gaza

Seit einem Jahr fragen sich die Menschen im Gazastreifen, wie – und wo – das Leben weitergehen kann

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Duha Almusaddar,

Ein palästinensischer Junge kehrt nach Hause zurück, nachdem er Wasser aus einem Fahrzeug abgefüllt hat in der Stadt Khan Younis im südlichen Gazastreifen, 20. Oktober 2024.
Ein palästinensischer Junge kehrt nach Hause zurück, nachdem er Wasser aus einem Fahrzeug abgefüllt hat in der Stadt Khan Younis im südlichen Gazastreifen, 20. Oktober 2024. Foto: IMAGO / Xinhua

Seit dem 7. Oktober 2023 sind die Menschen im Gazastreifen Dauerbombardements ausgesetzt, aus der Luft, vom Meer und zu Lande. Sie leben in unerträglichen Verhältnissen und sind darin gefangen. Neunzig Prozent der Bevölkerung sind Vertriebene. Zwei Drittel der Gebäude im Gazastreifen sind zerstört oder beschädigt. Die Menschen hausen deshalb zusammengepfercht in provisorischen Zelten, in der glühenden Sommerhitze wie in der eisigen Winterskälte. Da es an sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygienemöglichkeiten fehlt, breiten sich Krankheiten rasch aus. Hinzu kommt, dass die Gesundheitsversorgung stark eingeschränkt ist, weil Israel Gaza seit dem 9. Oktober 2023 komplett abgeriegelt und Krankenhäuser und weitere medizinische Einrichtungen bombardiert hat.

Duha Almusaddar arbeitet als Projektmanagerin im Palästina- und Jordanienbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Statt zur Schule und dann wieder nach Hause zu gehen, sind diesem Schrecken Tag für Tag nach UNWRA-Schätzungen rund 650.000 Kinder ausgesetzt. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts werden die Menschen, die im nördlichen Gazastreifen geblieben sind, von der israelischen Armee belagert und müssen befürchten, Massakern zum Opfer zu fallen. Nach wie vor werden Evakuierungsbefehle angeordnet, die Teil der Zwangsumsiedlungen sind. Aber selbst die sogenannten Sicherheitszonen, in die die Menschen sich begeben, werden regelmäßig angegriffen. Sie sind traumatisiert und erschöpft und fühlen sich von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Dabei versuchen sie, sich von einem Tag zum nächsten irgendwie durchzukämpfen.

Ein Albtraum ohne Ende

Wer den Gazastreifen verlassen konnte, bevor der Grenzübergang Rafah nach Ägypten zerstört wurde, entkam zwar den Angriffen, trägt aber das Trauma und die Angst um unsere Familienmitglieder und Freund*innen, die dortgeblieben sind, mit sich herum. Unser aller Leben ist geprägt von einer lähmenden Hilflosigkeit. Wir müssen so tun, als sei alles normal. Aber mit unseren Gefühlen und Gedanken sind wir weiter in Gaza.

Viele sitzen in Ägypten fest, ohne das Recht zu arbeiten oder zu studieren und mit wenig Hoffnung auf bessere Lebensumstände. Es ist unklar, ob und wie es dort weitergeht – ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten, die die teure medizinische Versorgung mit sich bringt, wenn man nicht krankenversichert ist.

Alle in Gaza hatten befürchtet, dass es zu so etwas kommen könnte. Aber niemals hätten wir es für möglich gehalten, dass die Grausamkeiten solch ein Ausmaß annehmen würden.

Nur wenige konnten aufgrund ihrer ausländischen Staatsangehörigkeit oder einer Aufenthaltsgenehmigung ausreisen. Einige konnten Asyl beantragen. Aber die meisten Menschen, die den Gazastreifen verlassen haben, stecken im Ungewissen fest. Sie wollen sich ein zweites Leben aufbauen, sind aber auf die Frage zurückgeworfen, wie angesichts der Schrecken in der Heimat eine solche Zukunft aussehen könnte. Trotz der quälenden Gedanken gehen sie ihrem Alltag nach. Die meisten halten den Kopf hoch und üben sich in Zuversicht, eines Tages zurückkehren und beim Wiederaufbau mithelfen zu können. Verdrängt wird dabei aber oft die schreckliche Frage, ob eine Rückkehr überhaupt jemals wieder erlaubt sein wird.

Mit der kompletten Zerstörung unserer Städte und Häuser ist auch die Erinnerung daran ausgelöscht worden. In den 17 Jahren davor hatten die Bewohner*innen von Gaza trotz der militärischen Operationen und der israelischen Belagerung immer wieder Orte des Trostes gefunden – am Meer oder an einem sicheren Plätzchen, wo man einfach mal abschalten konnte. Das ist heute nicht mehr möglich. Wir haben keine Häuser, in die wir zurückkehren könnten. Für uns existieren keine sicheren Orte mehr, unsere Zukunft und unsere Liebsten wurden uns gestohlen. Das Trauma ist so belastend und der Verlust so groß, dass wir noch über Jahrzehnte in Ungewissheit verharren und unsäglichen Schmerz erleiden müssen.

Unsere Kämpfe sind miteinander verbunden

Die internationale Solidarität von Menschen aus aller Welt, die sich Ende Oktober 2023 abzuzeichnen begann, war für die Menschen in Gaza ein Hoffnungszeichen. Wir dachten, der internationale Druck würde die Regierungen von ihrer bedingungslosen Unterstützung für Israels Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit abbringen, als es erste Hinweise auf einen Genozid gab. Leider wurden die Proteste und Demonstrationen vielerorts mit Gewalt beantwortet, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit wurde brutal unterdrückt.

Dennoch haben sie dazu beigetragen, dass einige Regierungen ihre Waffenabkommen revidiert und die Abwicklung von Waffenlieferungen über ihre Häfen gestoppt haben. Auch die Klage Südafrikas gegen Israel wegen Völkermordes vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) weckte Hoffnungen, ebenso wie das Gutachten des IGH vom 19. Juli dieses Jahres, das die Unrechtmäßigkeit der israelischen Besatzung des Westjordanlands, des Gazastreifens und Ost-Jerusalems bestätigte. Darauf folgte eine Resolution der UN-Vollversammlung, die besagt, dass Israel seine rechtswidrige Besatzung innerhalb von zwölf Monaten zu beenden hat.

Das sind wichtige Schritte. Aber es könnte noch weitaus mehr getan werden, um Israel zur Beendigung seines genozidalen Kriegs in Gaza und nun auch seines Kriegs gegen den Libanon zu zwingen. Vielerorts werden ein vollständiges Waffenembargo, Sanktionen und der Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen gefordert. Diese Maßnahmen hätten sofort ergriffen werden müssen, als es erste Warnungen vor Völkermord und ethnischer Säuberung der Palästinenser*innen in Gaza gab.

Die Menschen in Gaza sind erschöpft und fühlen sich von einer Welt verraten, die solche Verbrechen zulässt. Denjenigen, die für einen Waffenstillstand auf die Straße gegangen sind, aber angegriffen wurden und sich zum Schweigen gezwungen fühlen, ist zu sagen: Es ist wichtig, weiterzumachen. Denn wir stehen an einem entscheidenden Punkt der Geschichte, an dem unsere Grundrechte überall geschleift werden. In Artikel 30 der UN-Menschenrechtserklärung – die nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst wurde, um das Versprechen einzulösen, nie wieder zuzulassen, dass solche Verbrechen irgendwo stattfinden – heißt es: «Keine Bestimmung dieser Erklärung darf dahin ausgelegt werden, dass sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, welche die Beseitigung der in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten zum Ziel hat.»

Wir dürfen nicht zulassen, dass das leidvolle Schicksal der Menschen in Gaza umsonst ist.

Offenbar werden all diese Rechte in Gaza angegriffen, aber sie sind auch weltweit bedroht – das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, das Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, die Meinungsfreiheit und das Versammlungsrecht, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, auf Wohnung, Gesundheit und Wohlbefinden, Bildung, Freizügigkeit und Asyl. Diese Befürchtung ist auch Äußerungen von UN-Expert*innen zu entnehmen, die vor dem Zusammenbruch der internationalen Rechtsordnung warnen.

Unsere Kämpfe sind miteinander verknüpft. Die meisten derjenigen Menschen, die an der Spitze von Solidaritätsbewegungen, von Kampagnen für einen Waffenstillstand und für die Befreiung der Palästinenser*innen stehen, sind in ihrem täglichen Leben selbst von Unterdrückung betroffen. Wir befinden uns an einem entscheidenden Punkt: Werden wir auf unsere Rechte verzichten und in einem Polizeistaat leben, oder werden wir für eine bessere Welt kämpfen? Wir dürfen nicht zulassen, dass das leidvolle Schicksal der Menschen in Gaza umsonst ist.

Unsere Zukunft zurückerobern

Alle in Gaza hatten befürchtet, dass es zu so etwas kommen könnte. Aber niemals hätten wir es für möglich gehalten, dass die Grausamkeiten solch ein Ausmaß annehmen würden – dass die Welt ihnen nicht Einhalt gebieten, ja dass sie sie sogar zulassen und unterstützen würde. Denn dem einen Jahr des Völkermords gingen Jahrzehnte voraus, in denen die Not der Palästinenser*innen ignoriert, die illegale Besatzung unterstützt, kaum Druck auf Israel zur Umsetzung von UN-Resolutionen ausgeübt und über das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte einfach hinweggesehen wurde.

Wir warten auf einen Waffenstillstand, aber wir fürchten ihn auch. Denn wenn es dazu kommt, wird das ganze Ausmaß unseres Verlustes deutlich werden. Wir werden mit zerstörten Städten, getöteten Angehörigen und von uns getrennten Familien und Freund*innen zurechtkommen müssen. So kann es nicht weitergehen. Ohne dass diejenigen, die diesen Horror inszeniert und unterstützt haben, belangt und zur Rechenschaft gezogen werden, kann es für Gaza keinen «Tag danach» geben. Über den Tag danach muss die palästinensische Bevölkerung in Gaza entscheiden, nicht die Anführer, die uns im Stich gelassen haben, und auch nicht die internationale Gemeinschaft. Denn auch sie hat uns im Stich gelassen. Nur wir selbst können über unsere Zukunft entscheiden.

Übersetzung von Max Böhnel.