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Wie Armutsbetroffene Klassenverhältnissen und Klassismus begegnen

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#IchBinArmutsbetroffen ist eine Bewegung, die die massenhafte Armut und die Diskriminierung von Betroffenen in Deutschland sichtbar machen möchte (Demonstration «Solidarisch aus der Krise», 29.10.2022 in Hamburg). picture alliance/dpa | Markus Scholz

Jede sechste Person in Deutschland lebt unter der Armutsschwelle. In der öffentlichen Debatte ist das Ausmaß dieser sozialen Katastrophe kaum Thema. Stattdessen plant die Bundesregierung Einschränkungen beim Bürgergeld und neue Härten in der Migrationspolitik. Der Berlin-Monitor hat in seiner jüngsten Studie Armutsbetroffene nach ihrem Alltag befragt. Ihre eindrücklichen Berichte zeigen, dass klassistische und rassistische Diskriminierung oft Hand in Hand gehen. Eine Politik der sozialen Gerechtigkeit muss an der Leistungsideologie als gemeinsamer Wurzel ansetzen, statt Benachteiligte gegen andere Benachteiligte auszuspielen.

Selana Tzschiesche hat als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Berlin-Monitor zu Antisemitismus, Klassenverhältnissen und individueller und kollektiver Handlungsfähigkeit in Berlin geforscht. 

Katrin Reimer-Gordinskaya ist Kritische Psychologin und leitet an der Hochschule Magdeburg-Stendal das Institut für demokratische Kultur. Sie forscht in der Tradition subjektwissenschaftlicher Handlungsforschung zu ideologischer Vergesellschaftung und Perspektiven emanzipatorischer Praxis in ländlichen und urbanen Räumen.

Die Einführung des Bürgergelds sollte eine kleine, aber bedeutende Kurskorrektur im Umgang mit Erwerbslosen markieren. Doch nicht einmal ein Jahr später begann im Dezember 2023 eine Diskussion, die Reform zurückzunehmen. Finanzminister Christian Lindner (FDP) wollte das unter seiner Verantwortung entstandene Haushaltsloch durch Einsparungen bei den Ärmsten der Armen stopfen. Dafür setzte er die Wiedereinführung von Sanktionen bei sogenannten «Totalverweigerern» durch, wie in der öffentlichen Debatte Menschen bezeichnet werden, die Arbeitsangebote des Jobcenters ablehnen. Seine Partei ist auch mit Blick auf den Haushalt 2025 der Meinung, das Bürgergeld sei zu hoch. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG), das die Erhöhung angemahnt hatte, könne durch eine Gesetzesänderung umgangen werden. Andere, wie der ehemalige Leiter der Bundesagentur für Arbeit Detlef Scheele (SPD), sprechen es noch offener aus: Das Bürgergeld soll abgeschafft, die Hartz IV genannte vorherige Regelung wieder eingeführt werden.

Was die damit vorprogrammierte «Armut per Gesetz» für die Betroffenen bedeutet, zeigen Auszüge einer Studie des Forschungsprojekts Berlin-Monitor zur Lebensrealität von Berliner*innen, die von Transferleistungen oder vergleichbaren Einkommen leben. Anhand der Erfahrungen von Alleinerziehenden, Rentner*innen und Migrant*innen wird gezeigt, welche Dynamiken der Klassengesellschaft Menschen in die Armut führen, wie sie ihren Alltag stemmen und um ein besseres Leben ringen.[1]

Damit wollen wir veranschaulichen, welchen gesellschaftlichen Blicken Betroffene ausgesetzt sind, welche Rolle Klassismus, also die Diskriminierung aufgrund des sozialen Status, darin spielt, und wie sie selbst auf ihre Situation schauen.

«Ich bin arm»

In Deutschland leben etwa 7 Millionen Menschen vom Bürgergeld, von Grundsicherung oder von anderen Hilfen zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe). All diese Transferleistungen beruhen auf dem Regelsatz, der aktuell 563 Euro für eine alleinstehende Person zuzüglich der Warmmiete beträgt. Dies bedeutet ein Leben in (relativer) Armut, also mit weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens. Aber von Armut betroffen sind nicht nur Bezieher*innen von Bürgergeld. Bundesweit leben 16,8 Prozent der Bevölkerung unter der ‚Armutsschwelle‘, die aktuell 1.186 Euro für eine alleinstehende Person beträgt. In Berlin geben zudem 31 Prozent an, sich finanziell Sorgen machen zu müssen. Was ein Leben in Armut bedeutet, soll im Folgenden anhand ausgewählter Handlungsproblematiken von Betroffenen dargestellt werden.

«Noch esse ich Haferflocken mit Joghurt, auf alles verzichten möchte ich auch nicht»

Armutsbetroffene versuchen ihren Alltag mit zu knappen Einkommen zu stemmen, indem sie Ausgaben nach Dringlichkeit priorisieren. Für die meisten steht die Miete dabei an erster Stelle. Die Wohnung zu verlieren stellt für die chronisch erkrankte Reinigungskraft Silvia eine existenzielle Bedrohung dar. «Wir haben ja schon so viele Obdachlose. Das kann mir passieren, das geht ganz schnell.» Der LKW-Fahrer Adrian entkam der Wohnungslosigkeit mit seiner Familie nur knapp. Unfallbedingt temporär arbeits- und bald zahlungsunfähig, war er auf die Kulanz seines Vermieters angewiesen. In einer Siedlung kurz hinter der Berliner Stadtgrenze, gelang dieser persönliche Weg.

Da bei Transferleistungsbeziehenden die Miete vom Amt direkt überwiesen wird, ist der wichtigste Posten für sie die Ernährung. Britta, eine krankheitsbedingt frühverrentete Tierliebhaberin, kennt die Lebensmittelpreise so gut, dass sie für jedes Produkt Cent-genau den Preis je Supermarktkette angeben kann. Sie verbringt einen großen Teil ihrer Zeit damit, das tagesaktuell günstigste Angebot zu suchen. Trotzdem reichen die 195,36 Euro, die im Regelsatz für Nahrung und Getränke vorgesehen sind, nicht, um angesichts der gestiegenen Preise ihre bereits stark eingeschränkten Essgewohnheiten aufrecht zu erhalten. Isst sie dreimal täglich, dürfte sie pro Mahlzeit nicht mehr als 2,10 Euro ausgeben. Sie tut deshalb, was Menschen in ihrer Situation im Ringen um eine ausgewogene Ernährung tun können. Auf andere im Regelsatz vorgesehene Güter verzichtet sie ganz und muss trotzdem noch am Essen sparen. Sie reduziert ihren Obstkonsum auf Äpfel, ihre Gemüsezufuhr auf Spinat und verzichtet zugunsten günstigerer Alternativen auf Mehrkornbrot.

Neben Lebensmitteln stellt die Stromrechnung eine unverzichtbare Ausgabe dar. Dagegen sind Mobilitätseinschränkungen eine verbleibende Stellschraube. Bei Nebenkostennachzahlungen wird dann auf das ÖPNV-Ticket verzichtet und stattdessen «alles gelaufen» oder das Fahrrad genutzt, mit einem entsprechend und altersabhängig kleineren Bewegungsradius. Umso wichtiger ist die Beibehaltung des 9-Euro-Tickets für Transferleistungsbeziehende in Berlin. Auch wenn das Ticket nur für das Stadtgebiet gilt, wird es als große Erleichterung erlebt.

Am Ende der Prioritätenliste stehen die Dinge, die «man gern gemacht hat». Britta ist vor ihrer Erwerbslosigkeit gern mit Freund*innen Essen und in die Oper oder ins Ballett gegangen. Jenny, ebenfalls in der Grundsicherung, war eine passionierte Reiterin. Auf diese Aktivitäten zu verzichten schränkt nicht nur die Teilhabe am kulturellen Leben ein, sondern verringert auch den damit verbundenen sozialen Kontakt.

Auch Ausflüge sind kaum noch möglich, Urlaube für die meisten nicht denkbar: Das Ferienprogramm der Alleinerziehenden Katja und ihrer zwei Töchter bestand aus Wanderungen im Berliner Umland, wobei man sich «maximal ein Eis» leistete. Das bundesweite 9-Euro-Ticket ließ Jenny von einem Kurztrip an die Ostsee träumen. Die knapp 60-Jährige wollte sich dort mit dem Schlafsack in die Dünen legen. Eine Unterkunft zu bezahlen käme nicht in Frage.

«Man reißt so lange ein Loch, um ein anderes zu stopfen, bis es nicht mehr geht»

Unter den geschilderten Bedingungen müssen Menschen ihren Alltag jenseits der Erwerbsarbeit überwiegend in oder um ihre Wohnungen herum verbringen. Diese wird als Rückzugsort umso wichtiger. So investiert die Rentnerin Petra viel Zeit in die liebevolle Dekoration ihrer vier Wände. Und die Pflege ihres Katers spart Britta sich wörtlich von den Rippen ab. Umgekehrt löste ein vom Jobcenter erzwungener Umzug bei Jenny eine nachhaltige Krise aus.

Die Frauen haben sich Alltagsarrangements geschaffen, die «knapp» funktionieren. Der Punkt, an dem es «nicht mehr geht», ist immer in Sichtweite und erreicht, sobald unvorhergesehene Ausgaben anstehen. Der Ausfall unverzichtbarer Haushaltsgeräte oder der temporäre Ausfall des Einkommens, wenn zum Beispiel Anträge nicht zeitnah oder fehlerhaft bearbeitet werden oder krankheitsbedingt längere Phasen der Arbeitsunfähigkeit auftreten, können alles zum Einsturz bringen. Ein Kühlschrank kostet so viel, dass man danach kein Geld mehr hat ihn zu füllen, kommentiert Katja zynisch. Hat man in dieser Situation niemanden, bei dem man sich Geld leihen kann, bleibt nur die Verschuldung: Über einen kleinen Dispo-Kredit bei der Bank zu verfügen ist existenziell wichtig und bei größeren Anschaffungen werden Ratenzahlungen vereinbart. Beides ist mit teuren Zinsen verbunden, die zu bedienen wiederum den Verzicht an anderer Stelle bedeutet. Verschuldung ist laut Sozialberaterin Petra eine Spirale, die sich «immer weiterdreht». Sich wieder aus ihr zu lösen kann bei kleinen Einkommen auch schon bei geringen Beträgen Jahre dauern. Der Schufa-Eintrag schränkt lange über die akute Verschuldung hinaus die Handlungsspielräume ein.

«Wollen Sie noch meine Schuh- und Unterwäschengröße wissen?»

Mit den Behörden, die ihnen ihr monatliches Einkommen auszahlen und von denen sie insofern existenziell abhängig sind, haben die Interview-Partner*innen unterschiedliche Erfahrungen gemacht.

Bereits der Antrag auf Bürgergeld und Grundsicherung wird wegen der umfangreichen Abfrage persönlicher Daten als Eingriff in die Intimsphäre wahrgenommen. Es entsteht der Eindruck, bis zur Unterwäsche durchleuchtet zu werden. Zusätzlich nötige Anträge für kleine Bedarfe, wie z.B. die Leistungen im Rahmen des Bildungs- und Teilhabe-Paketes, erleben Betroffene als «Betteln-Müssen». Um damit einhergehende Schamgefühle zu vermeiden, verzichten sie lieber darauf und versuchen die Bedarfe durch Einsparungen in anderen Bereichen zu decken – mit den oben beschriebenen Konsequenzen.

Die Eingriffe der Institution in ihr Leben reichen von vermeintlichen Tipps, wie Arbeit und Kinderbetreuung als Alleinerziehende zu vereinbaren wären, bis hin zur Frühverrentung oder dem erzwungenen Umzug, wenn die Größe der Wohnung nicht mehr als angemessen anerkannt wird. Besonders bei Sanktionen, also Kürzungen des Regelsatzes bei Verletzung der sogenannten Mitwirkungspflicht, kommt die Haltung des Verdachts zum Ausdruck, mit der die Behörde den von ihr abhängigen Menschen begegnet. Jenny bringt es mit: «Ja sind denn alle Sozialhilfeempfänger Schmarotzer oder was?», trotzig auf den Punkt.

Der gesetzliche Auftrag des Regelsatzes ist es, ein Leben zu ermöglichen, «das der Würde des Menschen entspricht» (§ 1 Sozialgesetzbuch II). Der Berechnung liegen die durchschnittlichen Ausgaben der ärmsten 15 Prozent der Bevölkerung zugrunde. Von diesen werden wiederum einige unbegründet als für den Regelbedarf nicht relevant abgezogen. So wird Bürgergeld- und Grundsicherungsempfänger*innen im Vergleich zur Referenzgruppe beispielsweise nur die Hälfte der Ausgaben für Freizeit und Kultur und nur ein Drittel der Ausgaben für Gaststättenbesuche zugestanden. Hinzu kommt, dass bis 2023 nahezu keine Leistung an die gestiegenen Preise angepasst wurde. Die Bürgergelderhöhungen der letzten zwei Jahre sollten hier – auf Anmahnung des BVerfG – nachbessern, konnten aber die enorme Preisentwicklung seit 2022 nicht ausgleichen.

Transferleistungsbeziehende leben, bzw. überleben, also von weniger als wenig. Sie werden zu Expert*innen im Sparen und Kopfrechnen, im Entweder-Oder, der reduzierten oder kostenlosen Angebote. Weil es trotzdem nicht reicht, werden die Lebensmittel-Ausgabestellen der Tafel unverzichtbar. Allein in Berlin wird das Angebot von über 70.000 Menschen genutzt, bundesweit gibt es knapp 1.000 Ausgabestellen. Der private Träger leistet in überwiegend ehrenamtlicher Arbeit, was Aufgabe des Sozialstaats wäre: Die Sicherung des Existenzminimums.

«Es ist ein Kampf, jeden Tag»

In den Schlangen der Tafeln treffen Menschen aufeinander, deren Lebensgeschichten in die Armut oder nicht aus ihr herausgeführt haben. Nicht alle beziehen Transferleistungen. Aber auch die Erwerbstätigen sind aufgrund der Prekarität ihrer Arbeitsverhältnisse regelmäßig von Lohnersatz- oder aufstockenden Leistungen abhängig. Neben individuell Spezifischem wiederholt sich in den Lebensgeschichten auch vieles: Unsere Gesprächspartner*innen haben gegenwärtig oder in der Vergangenheit alleinige Sorgeverantwortung getragen, haben ihr Herkunftsland auf der Suche nach einem besseren Leben für sich oder ihre Kinder verlassen, sind längerfristig oder chronisch erkrankt, nicht selten als (un-)mittelbare Folge ihrer Arbeitsverhältnisse. Oder sie wurden zu einem Zeitpunkt erwerbslos, an dem konjunkturbedingt die Jobsuche beinahe aussichtslos war, insbesondere für bestimmte Altersgruppen.

An diesen biografischen Wendepunkten spiegeln sich gesellschaftliche Strukturen. Insbesondere anhand typischer Lebensläufe von Alleinerziehenden und von (EU-)Migrant*innen lassen sich die Wechselwirkungen von geschlechtlich verteilter Sorgearbeit, Migrationsregimen und Klassenverhältnissen aufzeigen.

«Das Dumme war: Ich war schwanger»

Schwangerschaften können einen Bruch in Bildungs- und Berufsbiografien darstellen. Eine unserer Interview-Partner*innen ist in den 1950er dafür noch direkt von der Schule geflogen. Doch auch heute haben die gesundheitliche Belastung während der Schwangerschaft, Pausen durch Geburt und Wochenbett, Umzüge und unzureichend Betreuungsmöglichkeiten für Frauen den Abbruch von Ausbildung oder Studium zur Folge. Ohne (formelle) Qualifikation bleibt nur die Arbeit im Niedriglohnsektor, wegen der Sorgeverantwortung oft nur in Teilzeit. Kommt es dann zur Trennung – bei unseren Gesprächspartnerinnen häufig wegen häuslicher Gewalt seitens der Partner – muss der Haushalt mit Kind(ern) von einem sehr niedrigen Einkommen bestritten werden.

So prägen vielfache Ansprüche und Belastungen den Alltag von Alleinerziehenden: «die Arbeit, die man machen muss, dann die Kinder, der Einkauf, der Haushalt». Das bedeutet permanenten «Stress. Arbeit, immer».

Hinzu kommt oft die Ungleichzeitigkeit von Arbeits- und Öffnungszeitenzeiten der Betreuungseinrichtungen. Viele unserer Gesprächspartner*innen arbeiten in sozialen und Dienstleistungsberufen. Zu Hause sorgen sie unbezahlt für ihre Familien, in ihrer Erwerbsarbeit schlecht bezahlt für die Gesellschaft. Sie reinigen Schulen oder Bürogebäude, arbeiten im Einzelhandel oder in der Pflege. Diese Arbeit findet oft im Schichtdienst oder an Nachmittagen und Abenden statt, nach Kita- oder Schulschluss.

Der Alltag von Alleinerziehenden wird oft mit dem Bild des Hamsterrads beschrieben. Wo die Erhöhung der Arbeitsgeschwindigkeit und Verringerung der Pausenzeiten aber nicht ausreichen, um allen Anforderungen nachzukommen, wird er zur Zwickmühle. Eine Interviewpartnerin fragte ihre Tochter: Soll ich Stunden erhöhen, damit wir uns das Nötigste leisten können, oder lieber mehr Zeit mit und für euch haben?

Informelle soziale Netzwerke wie Familie und Freundinnen, früher auch die Nachbarschaft, erleichtern die Situation punktuell, erfordern aber auch Koordinationsarbeit. Gekürzt wird meist an der Zeit für sich. Alle beschreiben Phasen, in denen sie einfach nicht mehr konnten. «Im Krankenhaus und völlig ausgeliefert» stelle sich trotzdem noch die Frage, wer jetzt auf die Kinder aufpasst.

Unter Alleinerziehenden ist Armut besonders verbreitet: 2022 betrug die Armutsquote unter ihnen 43 Prozent. Sorgeverantwortung zeitlich und materiell alleine getragen zu haben, wirkt sich auch auf Lebensphasen mit neuen Partner*innen, erwachsenen Kindern und das Alter aus.

«Im Vertrag stehen 8 oder 9 Stunden, aber man arbeitet 12, 13 oder sogar 14. Alle machen das so»

Menschen migrieren aus unterschiedlichen Gründen. Im Rahmen der Studie haben wir mit Menschen gesprochen, die vor antisemitischen oder homophoben Verhältnissen geflohen sind, die in ihren Herkunftsländern keine Perspektive auf Arbeit hatten oder von ihren Löhnen nur einen halben Monat Leben konnten. Einige kamen in der Hoffnung studieren zu können, andere fühlten sich von Berlins Subkultur angezogen. Auf dem Arbeitsmarkt stehen sie jeweils vor ähnlichen Herausforderungen: Sprachbarrieren, rassistische Abwertung, die fehlende oder nur teilweise Anerkennung ihrer ausländischen Bildungsabschlüsse. Die Folge ist weniger ein Ausschluss aus dem deutschen Arbeitsmarkt, als die einseitige Inklusion in un- oder geringqualifizierten Segmente (Maaroufi 2017).

Unserem Interviewpartner Paul wurde bereits in der Sammelunterkunft, in der er auf die Bearbeitung seines Asylverfahrens wartete, eine sechsmonatige Ausbildung zur Hilfskraft in der Altenpflege nahegelegt. Seine Ausbildung als Friseur zu wiederholen, um in Deutschland seinen Beruf ausüben zu dürfen, konnte er sich finanziell nicht vorstellen bzw. leisten. Nun versorgt er schwer demenzkranke Menschen zu außertariflichen Löhnen weit unter Facharbeiter*innen-Niveau.

Eine von vielen ähnlichen Geschichten ist die von Roman, einem Dolmetscher aus Russland, der im Callcenter von booking.com Kund*innen berät. Gerade Plattformunternehmen nutzen die prekäre Situation von Migrant*innen aus. Dort tritt die digitale Überwachung, mit deren Hilfe nach sechsmonatiger Probezeit eine Auswahl der besten «Performer» getroffen wird, an die Stelle bürokratischer Einstiegshürden. So wird in Deutschland sozial-systemrelevante und andere unbeliebte Arbeit überwiegend von Migrant*innen zu Niedriglöhnen ausgeführt.

Besonders prekär ist die Lage vieler EU-Migrant*innen: Da ihr Aufenthaltsrecht an ihren Status als Arbeitnehmer*innen geknüpft und ihr Zugang zu Sozialleistungen stark eingeschränkt ist, bestehe, so die Leiterin einer Beratungsstelle für Migration und Arbeit, eine «generelle Abhängigkeit von jeder Art von Arbeitsverhältnis». Der erschwerte Zugang zu Sozialleistungen ist Folge von Reformen, die im Zuge der EU-Beitritte von Kroatien, Bulgarien und Rumänien umgesetzt wurden. Ein Sozialarbeiter scherzte uns gegenüber, das Gesetz werde nun «im Fachjargon EU-Bürger-Ausschluss-Gesetz genannt». Doch auch rassistisches Verhalten gegenüber Menschen aus diesen Ländern in den Jobcentern trägt dazu bei. Beratungsstellen dokumentieren, wie bereits das Stellen eines Antrags verhindert. Ein Sozialrechtsberater hat den Eindruck, es würde eher geprüft «Wie können wir diesen Antrag ablehnen?» als «Wie können wir ihn bewilligen?». Dass hier oft soziale Rechte vorenthalten werden, zeigt die Tatsache, dass über ein Drittel der Widersprüche und Klagen gegen Bescheide des Jobcenters erfolgreich sind, wobei nur eine Minderheit der derart Entrechteten den Gerichtsweg geht oder gehen kann.

Den institutionellen Charakter der Diskriminierung verdeutlicht die interne Arbeitsanweisung der Bundesagentur für Arbeit zur «Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit». Sie steht in langer Tradition des Antiziganismus, also des speziellen Rassismus gegenüber Sinti und Roma. Das Bild des arbeitsunwilligen, bettelnden Z[…] trug als Kontrastfolie bereits zur Etablierung der protestantischen Arbeitsethik im 19. Jahrhundert bei.

Auf diese Weise wird Ausbeutung weit jenseits des Legalen stabilisiert. Unsere Interview-Partnerin Elena, die in Bulgarien Mitarbeiterin im Finanzamt war und nun in Berlin Hotels reinigt, arbeitete zeitweise unbezahlt das Dreifache ihrer vertraglich festgelegten Arbeitszeit. Der LKW-Fahrer Adrian beobachtet nicht nur in seiner Firma, sondern auch in seinem Umfeld unbezahlte Mehrarbeit als etwas geradezu Normales. In seiner alten Firma wurde auf Mini-Job Basis angestellt und alles darüber hinaus in Bar vergütet. Adrian selbst wurde so nach einem Arbeitsunfall um seinen Anspruch auf Kranken- und Arbeitslosengeld betrogen und stand mit seiner Familie kurz vor der Wohnungslosigkeit.

«Jetzt meine Ecke markieren für Pfandflaschen»

Wer aufgrund von alleiniger Sorgeverantwortung, Migration oder aus anderen Gründen als unqualifizierte Kraft im Niedriglohnsektor landet, sammelt kaum Rentenansprüche und wird so auch im Alter arm bleiben. Ein Mitarbeiter der Tafel beschrieb «alleinerziehende Mütter» und „ältere Frauen mit kleiner Rente» als zwei «klassische Gruppen» unter den Besucher*innen der Ausgabestelle. Viele unserer Interviewpartner*innen waren im Lauf ihres Lebens erst das eine, später das andere. 

Dabei stellten der Fall der Mauer und die darauffolgenden ökonomischen Umbrüche für einige unserer älteren Interview-Partner*innen einen zusätzlichen Einschnitt dar. Berlin erlebte in beiden Teilen der Stadt eine weitreichende Deindustrialisierung und einen entsprechenden Abbau von Arbeitsplätzen – 67 Prozent zwischen 1989 und 1998 (Krätke/Borst 2000: 7). Jenny war mit ihrer Ausbildung als Elektrotechnikerin unmittelbar betroffen. Auch Britta fand als Bürokauffrau nach kurzer, krankheitsbedingter Erwerbsunfähigkeit in den 1990er Jahren keine neue Anstellung. Als ein Jahrzehnt später die Ansiedlung von Medien- und Tech-Unternehmen in der Hauptstadt gelang, war die technologische Transformation der Bürotätigkeiten kaum noch aufholbar.

Britta und Jenny wurden durch die Erwerbsunfähigkeitsrente von Auseinandersetzungen mit dem Jobcenter befreit. Für andere, wie unsere Interview-Partnerin Petra, bedeutete die damals vom Jobcenter erzwungene Frühverrentung weitere Abzüge von ihrer Rente. Ökonomisch sind sie in ähnlichen Lagen. Sie beziehen Grundsicherung oder Renten knapp über der Hilfsbedürftigkeitsgrenze, zwischen 700 und 900 Euro im Monat. Dabei stehen ihnen mit zunehmendem Alter einige Strategien im Umgang mit Armut nicht mehr zur Verfügung: Soziale Unterstützungsnetzwerke und der Radius, in dem man kostenlos zu Fuß oder mit dem Rad mobil ist, werden kleiner, die Tafel-Schlange zur körperlichen Herausforderung. Und es kommen Ausgaben für medizinische Produkte dazu.

Altersarmut ist für einige unserer Interview-Partner*innen bereits Realität. Für ausnahmslos alle anderen ist sie die Zukunft, an die sie jährlich mit dem Rentenbescheid (oder durch dessen Ausbleiben) erinnert werden. Dieser Umstand löst Angst, aber auch Ärger aus: Katja findet es ungerecht, dass sie trotz lebenslanger Erwerbstätigkeit im Alter von Grundsicherung abhängig sein wird. Andere werden angesichts der Aussichtslosigkeit, sich einen sorgefreieren Lebensabend zu sichern, zynisch: Rente ist im Umfeld des jüngeren Bildungsarbeiters Joshua ein Running Gag. Man könne sich ja schon mal eine Ecke fürs Flaschen-Sammeln sichern.

Klassismus als Klassenkampf von oben

Menschen in prekären Lebenslagen sind aus materiellen Gründen von sozial, kulturell und auch politisch vielfach ausgeschlossen. Sie werden auch diskursiv an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Besonders verbreitet sind dabei Einstellungen, die prekäre Lebenslagen als individuelles Scheitern darstellen oder Menschen unterstellen, gesellschaftliche Unterstützung auszunutzen. Ein Drittel der Berliner*innen ist der Meinung, «Menschen in prekären Verhältnissen» hätten es «einfach nicht geschafft». 48 Prozent stimmen der Aussage zu, die meisten Langzeitarbeitslosen seien nicht wirklich daran interessiert einen Job zu finden. Und 36 Prozent denken, die meisten Bürgergeld- Empfänger*innen machten sich auf Kosten der Gesellschaft ein schönes Leben (Pickel 2023). Auch in bundesweiten Langzeiterhebungen gehört die Abwertung von Erwerbslosen zu den verbreitetsten Diskriminierungsformen (Mokros/Zick 2023: 165f.).

Diese Einstellungen kommen nicht von ungefähr. Als die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder die sogenannte Agenda 2010 umsetzte, ging dem eine Kampagne voraus, die den Diskurs in der Bundesrepublik von der Forderung nach guter Arbeit hin zur Fahndung von Leistungsmissbrauch verschob. Exemplarisch steht hierfür die 2005 vom Arbeitsministerium unter dem damaligem Minister Wolfgang Clement herausgegeben Broschüre mit dem Titel «Vorrang für die Anständigen» (BWA 2005). Dort wurden «Missbrauch», «Abzocke» und «Selbstbedienung» am Gemeinwohl» anhand namentlich genannter Transferleistungsbeziehender als moralisch verwerflich gebrandmarkt. Solche Diskurseingriffe rechtfertigen den Abbau sozialer Rechte und bringen Teile der lohnabhängigen Klasse als scheinbar Leistungswillige und Leistungsunwillige gegeneinander in Stellung. In den gegenwärtigen Debatten um die sogenannten Totalverweigerer wiederholen sich dieselben Muster. Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem Diskurs, der die Aufnahme südosteuropäischer Länder in die Europäische Union begleitete. Schlagzeilen über Armutszuwanderung folgten enorme Zugangsbeschränkungen zu Sozialleistungen für EU-Bürger*innen – mit den oben skizzierten Folgen.

Zwischen Verinnerlichung und Abwehr

Solche medialen Diskurse werden von den Gemeinten aufmerksam verfolgt, wobei sich der Umgang unterscheidet. Britta macht darauf aufmerksam, dass mit Vorliebe an den Ärmsten gespart wird, auch wenn es oft nur um symbolische, weil in den Staatshaushalten vernachlässigbare Summen geht. Deshalb und aus anderen Gründen fühlt sie sich manchmal wie der letzte Dreck behandelt. Dieses Gefühl teilt sie mit jeder bzw. jedem fünften Berliner*in, die sich oft wie Menschen zweiter Klasse behandelt fühlen (Pickel 2023).

Nicht immer können unsere Gesprächspartner*innen sich von Leistungsideologie und Eigenverantwortungs-Imperativen abgrenzen. Eine Gesprächspartnerin fühlt sich «nicht schuldig» dabei, Transferleistungen zu beziehen. Sie gehe ja arbeiten, in wechselnden Mini- oder 1-Euro-Jobs. Eine andere leidet stark unter ihrer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit, weil sie den Kindern «ein Vorbild sein möchte».

Werden die gesellschaftlich mächtigen Abwertungsmuster übernommen, kann das dazu führen, nach noch benachteiligteren Gruppen als den vermeintlich eigentlich Gemeinten zu suchen. Eine Gesprächspartnerin grenzt sich aggressiv von Langzeitarbeitslosen ab. Ihr Bemühen um eine stabile, sie und ihre Kinder ernährende und mit Kinderbetreuung vereinbare Arbeit erlebt sie zunehmend als einen verlorenen Kampf. Der Eindruck, ihre Armut sei Ausdruck davon es «einfach nicht geschafft» zu haben, scheint dabei, ob bewusst oder unbewusst, einer ihrer größten Feinde zu sein.

Sozialpolitik und Antidiskriminierung müssen Hand in Hand gehen

Klassismus beschreibt aus unserer Sicht eine bestimmte Art, in Klassenverhältnisse einzugreifen. Klassenunterschiede werden dabei dargestellt, als seien sie selbstverschuldet. Dadurch werden benachteiligte Gruppen durch Abwertung, Spaltung und Entrechtung in ihrer individuellen und kollektiven Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Dahinter steht eine Weltanschauung, die den Wert eines Menschen daran misst, wie viel Geld er durch seine Arbeit verdient. Diese Ansicht bildet eine Schnittmenge zwischen (Neo-)Liberalen und Rechtspopulisten. Dafür steht paradigmatisch der damalige Berliner Finanzsenator und SPD-Abgeordnete Thilo Sarrazin, der bereits 2009 mit der Unterscheidung von produktiven und unproduktiven Berliner*innen Schlagzeilen machte. Letztere waren für ihn vor allem «Kopftuchmädchen» und «Gemüsehändler». Auch die AfD setzt sich heute nur für die «kleinen Leute» ein, die sich zu «Werten wie Leistungsbereitschaft […] und Patriotismus» bekennen.

Auch in der Erhebung des Berlin-Monitors zeigen sich bei klassistischen Einstellungen starke Zusammenhänge mit rassistischen und antisemitischen Haltungen. Im Hintergrund wirkt eine als Chancengleichheit getarnte Leistungsideologie: Wer Aussagen wie «Die meisten Menschen sind nicht fähig, das Beste aus ihren Chancen zu machen.“ zustimmt, ist mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit auch klassistisch eingestellt (Pickel 2023). Ähnlich verhält es sich mit Autoritarismus und Dominanzorientierung, die in der Einstellungsforschung auch zu den zentralen Erklärungen von Rassismus zählen.

Die Zahlen legen ebenso wie die Berichte der Betroffenen nahe, dass Sozial- und Antidiskriminierungspolitik nicht – wie so häufig – gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Sie müssen im Gegenteil, Hand in Hand gehen. Dass 74 Prozent der Berliner Bevölkerung der Meinung sind, alle sollten leistungsunabhängig das haben, was man «für ein anständiges Leben braucht», könnte in dieser Auseinandersetzung Rückenwind geben.

Literaturverweise

Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BWA) (2005): Vorrang für die Anständigen. Gegen Missbrauch, „Abzocke“ und Selbstbedienung im Sozialstaat. Ein Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005, S. 5ff.

Krätke, Stefan/Borst, Renate (2000): Berlin: Metropole zwischen Boom und Krise. Opladen.

Pickel, Gert (2023): Klassismus im Berlin-Monitor. Befunde aus der Repräsentativerhebung 2021, in: Reimer-Gordinskaya, Katrin (Hg.): Immer noch ‚arm, aber sexy‘? Ungleiche Lebenslagen und Klassenverhältnisse in Berlin, Berlin.

Maaroufi, M. (2017). Precarious integration: Labour market policies for refugees or refugee policies for the German labour market, in: Refugee Review, 3/2017, S. 15-33.

Mokros, Nico/Zick, Andreas (2023): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zwischen Krisen- und Konfliktbewältigung, in: Zick, Anderas u.a. (Hg.): Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23, Bonn.


[1] Die nachfolgenden Zitate sind, soweit nicht anders gekennzeichnet, diesen Berichten entnommen.