Am 9. Oktober 2024 fand in der Rosa-Luxemburg-Stiftung das Detlef-Nakath-Kolloquium zur Zeitgeschichte statt. Mit diesem Kolloquium wollen wir die zeitgeschichtlichen Debatten fortführen, die jahrelang durch den ehemaligen Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg, den Historiker Dr. Detlef Nakath, vorangetrieben wurden.
Anlässlich des 75. Jahrestages der Gründung der DDR wurden bei diesem Kolloquium die Spannungen und Widersprüche, die Hoffnungen und verpassten Chancen im Laufe der Entwicklung der DDR thematisiert.
Die Rolle der DDR-Forschung für die politische Bildungsarbeit
In seinem Eröffnungsbeitrag ging Gerd-Rüdiger Stephan der Frage nach, welche Rolle die Forschung zur DDR-Geschichte für die linke politische Bildungsarbeit spielt. Er verwies auf eine Diskursverschiebung, die derzeit zu beobachten sei und die einen differenzierteren Umgang als in den vergangen 30 Jahren einfordere. Diesen differenzierten Umgang habe es immer gegeben – nur nicht im hegemonialen medialen Diskurs. Er verwies auf die vielen Publikationen und Diskussionsforen (wie die deutschlandpolitischen Kolloquia) zur DDR-Geschichte, die es allein im Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung gegeben habe. Angesichts der öffentlichen und medialen Ignoranz gegenüber diesen Forschungen und Veranstaltungen frage man sich, welche Wirkung diese Tätigkeiten im Bereich der politischen Bildung entfalten konnten. Ein solcher Erfolg lässt sich natürlich nicht messen. Allerdings könnte die aktuelle Diskursverschiebung auch als Erfolg und Ergebnis dieser unermüdlichen Forschungen und Debatten angesehen werden. Zumindest könnte man annehmen, dass die politisch-historische Bildungsarbeit Richtungsimpulse gegeben hat, die so unbemerkt nicht geblieben sind.
Der Schwerpunkt des diesjährigen Kolloquiums, sich intensiv mit Biografien einzelner Intellektueller oder dem ideologischen Werdegang von SED-Politikern auseinanderzusetzen, ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass die Zahl der Personen geringer wird, die noch selbst von ihren Erfahrungen aus den einzelnen Phasen der DDR berichten können, sondern auch dem Anspruch, vielfältige Perspektiven zusammenzutragen und Wege für die politische Bildung zu suchen, die Auseinandersetzung mit der Geschichte lebendig und nahbar zu gestalten.
Wer ist „Dissident“? – Intellektuelle im Spannungsverhältnis zwischen Zustimmung und Kritik
Die französische Historikerin Sonia Combe ging in ihrem Vortrag der Frage nach, welche Rolle in der DDR die intellektuellen West-Remigranten spielten, die sich einerseits zum Sozialismus bekannten, allerdings immer eine kritische Distanz zu dessen konkreter Umsetzung in der DDR einnahmen und parteiintern Kritik übten. Diesen Typus bezeichnet sie mit dem Oxymoron „linientreue Dissidenten“, um damit die Widersprüchlichkeiten und Spannungen auszudrücken, die sozialistische Intellektuelle angesichts der Missstände in der DDR empfanden. Als Prototypen solcher „linientreuen Dissidenten“ stellt sie Jürgen Kuczynski und Georg Lukács vor. Merkmale dieser linientreuen Dissidenten seien, dass sie immer überzeugte Sozialisten blieben, die Partei eine wichtige Bezugsgröße für sie darstellte– selbst nach Parteiausschluss wieder aufgenommen werden wollten -, parteiintern Kritik übten, diese Kritik aber nicht nach außen formulierten. Ihnen sei eine „kognitive Dissonanz“ – also ein Auseinanderfallen von Denken (bzw. auch Äußerungen) und Verhalten zu eigen. Daher seien sie, so Combe, in Wendezeiten um ihren Sieg betrogen worden, da sie zu zögerlich für den „dritten Weg“ eingetreten seien. In der Diskussion wurde in Frage gestellt, ob es sich bei diesem Personentypus tatsächlich um „Dissidenten“ handele. Mit „Dissident“ werde doch eher jemand bezeichnet, dessen Handeln in Opposition zum gesamten System stehe und der sich mit diesem oppositionellen Verhalten in Gefahr bringe. Dennoch traf Sonia Combes Analyse auf breite Zustimmung, da sie einen differenzierten Blick auf die Akteur*innen der DDR, ihre Überzeugungen und ihren Umgang mit den politischen Realitäten eröffnete und insbesondere auch das Vermächtnis der „nichtjüdischen Jüdinnen und Juden“ hervorhob. Wenn man an der Idee eines demokratischen Sozialismus festhalten möchte, scheint insbesondere die Kritik der überzeugten Sozialist*innen an den konkreten Ausgestaltungen des politischen Systems in de DDR unumgänglich zur Weiterentwicklung und Erneuerung einer sozialistischen Perspektive.
Reformvorschläge
Alexander Amberger stellte mit Wolfgang Harich und Rudolf Bahro zwei Kritiker des DDR-Systems vor, die versuchten, Reformen anzuschieben, und damit scheiterten. Harich, „erster Öko-Marxist“ der DDR, forderte als Konsequenz des Berichts des Club of Rome die DDR-Wirtschaft auf ein Null-Wachstum umzustellen und scheiterte – die Begründung: wegen der Systemkonkurrenz müsse man mit dem Westen Schritt halten. Auch Bahros Reformvorschläge zu einer politischen Demokratisierung trafen auf Widerstand. Beide, so Amberger, hätten sich nicht als Dissidenten verstanden, sondern sahen sich als Teil einer innerkommunistischen Auseinandersetzung um den richtigen Weg zum Sozialismus. In der Diskussion wurde aus dem Publikum die Frage aufgeworfen, ob nicht die Diskussion über die Systemalternativen und einen „dritten Weg“ sich heute erledigt hätte. Aus historischer Perspektive vielleicht schon. Mit Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft und angesichts des Scheiterns des Kapitalismus in der Bewältigung dieser Herausforderungen sollten die Debatten um einen „dritten Weg“ jedoch nicht ad acta gelegt, sondern könnten als Anregung für die Suche nach Alternativen genutzt werden.
Aktuelle Debatten über den „Osten“ und die „DDR“
Abschließend diskutierten, moderiert von Anika Taschke, die Schriftstellerin und Filmemacherin Grit Lemke (Hoyerswerda/Berlin), der Historiker Ulrich Pfeil (Metz) und der ehemalige Leiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung Martin Sabrow (Berlin) über aktuelle Debatten über die „DDR“ und den „Osten“. Eingangs stellte Sabrow fest, dass das Reden über die DDR weitgehend verdrängt werde von der Rede über den Osten. An die Stelle der hegemonialen DDR-Diskurse der vergangenen Jahrzehnte (Totalitarismus- und Unrechtsstaatsdebatte etc.) trete nun eine ostdeutsche Identitätsdebatte. Lemke bemerkte, dass der Begriff „Osten“ verhängnisvoll an den der „DDR“ gekettet sein. Zu lange sei das Reden über die DDR auf das Stasi-Narrativ verengt gewesen. Demokratieerfahrung und Selbstermächtigung der ostdeutschen Gesellschaft von 1989/90 haben nie Eingang in das hegemoniale Narrativ gefunden. Auch realexistierende Unterschiede zwischen Ost und West wie ungleiche Renten, Löhne und Vermögensverteilung seien kaum durchgedrungen.
Uneinigkeit herrschte in der Frage, wie sich die Unterschiede zwischen Ost und West entwickelt hätten. Während Sabrow eine Angleichung feststellte, betonte Lemke die Vertiefung der Ungleichheit. Laut Sabrow und Pfeil gäbe es gleichfalls abgehängte Regionen auch im Westen oder in Frankreich. Wohingegen Grit Lemke auf die spezielle Erfahrung der ostdeutschen Gesellschaft verwies: Der traumatische Bruch, den die ostdeutsche Gesellschaft 1990 erlebt hat und der tief in die persönlichen Lebensumstände und sozialen Beziehungen hineinwirkte, sowie die existenziellen Krisen und die Entwertung von Biografien sowie das Fehlen einer ganzen Generation hinterlassen bis heute Spuren. Dem konnten auch die westdeutschen Historiker nicht widersprechen.
In Bezug auf die ökonomischen Ungleichheiten zwischen Ost und West wäre eine Erweiterung der Debatte um eine klassenbewusste Perspektive interessant gewesen, z.B. das Vererben von großen Vermögen, das nahezu hauptsächlich in Westdeutschland stattfindet (wobei natürlich auch in Westdeutschland die meisten Menschen nicht über Vermögen verfügen) und ein Bestandteil der strukturellen Ungleichheit ist, sollte aus linker Perspektive sowieso abgeschafft oder durch eine hohe Erbschaftssteuer zumindest eingeschränkt werden.
Eine Differenzierung zwischen ost-west-spezifischen und Klassen-Unterschieden hätte hier geholfen, konkrete politische Forderungen zu formulieren und die Handlungsspielräume linker Politik aufzuzeigen.
In Bezug auf die Wahlerfolge der AfD zeigte sich einmal mehr die Vielschichtigkeit der Problematik. Einigkeit bestand darin, dass der Zuspruch zur neuen Rechten kein ostdeutsches, sondern ein gesamtdeutsches bzw. sogar mindestens europäisches Problem sei. Jeder konkrete Erklärungsansatz jedoch provozierte allerdings ein Gegenbeispiel. Die Diskussion bestätigte, dass die Komplexität dieser politischen Entwicklungen noch eingehender Analysen bedarf.
Die Diskussion verlief stellenweise kontrovers und emotional, doch zu jeder Zeit respektvoll und produktiv. Im Abschlussstatement fasste Monika Nakath zusammen, welche Denkanstöße gegeben, welche Fragen beantwortet und welche neu aufgeworfen wurden, denen bei folgenden Veranstaltungen nachgegangen werden sollte, um diese produktive Debatte – auch im Sinne des Zeithistorikers Detlef Nakath – weiterzuführen.