Nachricht | Geschichte Streiter für eine soziale Republik

Dem Juristen Gustav Radbruch (1878-1949) zum 75. Todestag

Prof. Dr. Gustav Radbruch, Rechtslehrer und Politiker, geb: 21.11.1878 in Lübeck, 1920-24 sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter, von Oktober 1921-November 1922 unter Wirth und vom August-November 1923 unter Stresemann Reichsjustizminister, Bundesarchiv, Bild 183-H28400

Den Akademikern aber bleibt die Aufgabe, den sozialistischen Führern aus dem Arbeiterstande fachmännische Berater und Helfer zu stellen. Ganz verkehrt, wenn sich der sozialistische Student zum Politiker bilden würde. (…). Wer im sozialistischen Geiste ein Verwaltungsamt, ein Richteramt, ein Lehramt ausübt, tut, wenn auch weniger sichtbar, oft wichtigere sozialistische Arbeit als der sozialistische Politiker.

Gustav Radbruch gehört in der Weimarer Republik zu den prägenden Persönlichkeiten im Kampf für ein soziales Recht. Als Inspirationsfigur wirkte er bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die vom ihm im Eingangszitat erstmals im Jahr 1928 veröffentliche Aufgabenbeschreibung des sozialistischen Akademikers lässt sich durchaus als Fazit Radbruchs für die eigene Arbeit verstehen – auch wenn er als zeitweiliger Reichstagsabgeordneter und zweimaliger Reichsjustizminister für die SPD in gewissem Maße gegen diese selbst auferlegte Beschränkung verstieß.

Geboren wurde Gustav Radbruch am 21. November 1878 in eine Kaufmannsfamilie in Lübeck. Ohne großen eigenen Antrieb studierte er Jura in München, Leipzig und Berlin, wo er bei Franz von Liszt, einem der bedeutendsten Strafrechtsreformer seiner Zeit, promovierte. Nach mehreren außerordentlichen Professuren erfolgte im Jahr 1919 die Berufung auf eine ordentliche Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie in Kiel. Seit 1918 Mitglied der SPD, engagierte Radbruch sich in Kiel für den Aufbau des Volkshochschulwesens – in seiner politischen Vorstellung einer der zentralen Ansatzpunkte für die kulturelle Integration der Arbeiter*innen in den demokratischen Staat.

Thilo Scholle ist Jurist und u.a. Mitherausgeber der Zeitschrift Kritische Justiz. Zuletzt erschien der von ihm mit Mike Schmeitzner herausgegebene Sammelband Hermann Heller, die Weimarer Demokratie und der soziale Rechtsstaat, J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2024.

Wissenschaftlich stand Radbruchs Denken in neukantianischen Traditionen. Methodisch trat er ein für einen Dualismus, der die Betrachtung der Wirklichkeit – etwa das positive Recht und dessen tatsächliche gesellschaftliche Wirkung – als Ausgangspunkt der weiteren Analyse nahm. So setzte er sich strafrechtspolitisch für ein stärker auf Besserung und weniger auf Vergeltung ausgerichtetes Strafrecht ein, die Todesstrafe lehnte er ab. Mit seinen Arbeiten aus der Weimarer Republik gehört er zu den Inspirationsquellen für die sozialliberale Strafrechtsreformdebatte der 1960er Jahre. Sein Nachdenken über die Rolle von Juristen während der NS-Diktatur und die Notwendigkeit, in bestimmten Situationen geltendes Recht aus übergeordneten ethischen Motiven nicht anwenden zu dürfen – im Nachhinein als «Radbruchsche Formel» bezeichnet – wird in juristischen Debatten bis in die heutige Zeit herangezogen, etwa in der Diskussion um die Strafbarkeit der «Mauerschützen» in den Jahren nach der Wiedervereinigung.

Im Jahr 1920 wurde Radbruch in den Reichstag gewählt, dem er bis 1924 angehörte. Vom Oktober 1921 bis November 1922 sowie noch einmal von August bis November 1923 übernahm er zudem das Amt des Reichsjustizministers. Die gesellschaftspolitische Orientierung seines juristischen Denkens wird zum Beispiel in einer Reichstagsrede aus dem Januar 1921 deutlich. Breiten Raum widmete er zunächst den politischen Morden von rechts – namentlich den Morden an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, an Gustav Landauer sowie den Parlamentären der Berliner Januarkämpfe im Jahr 1919 und deren kaum erfolgte strafrechtliche Aufarbeitung: «Können Sie, meine Herren von der Rechten, eine entsprechende Gegenrechnung aufstellen von Bluttaten gegen rechtsstehende Persönlichkeiten, die ungeahndet geblieben sind?» Als zentralen Ausgangspunkt für eine veränderte Arbeit der Justiz erörtert er die juristische Ausbildung – mit Vorschlägen, die bis heute aktuell erscheinen: Das Privatecht sei unter den Gesichtspunkt des öffentlichen Rechts zu stellen und «schon dem jungen Studenten zum Bewusstsein zu bringen, dass das Privatrecht lediglich ein einstweilen noch für die Privatinitiative ausgesparter Spielraum innerhalb des großen Gebiets des öffentlichen Rechts ist.» Zudem gelte es, das volkswirtschaftliche und das juristische Studium miteinander zu verschmelzen. Die juristische Ausbildung müsse möglichst unter der Perspektive des Rechtssuchenden gesehen werden und deshalb bei denjenigen Körperschaften und Einrichtungen beginnen, «bei denen der junge Jurist mit dem Rechtssuchenden als Vertreter ihrer Interessen in unmittelbare Fühlung kommt, bei den Arbeitersekretariaten, bei den Mieteinigungsämtern, bei den Rechtsauskunftsstellen.» Zudem solle neben dem Abitur auch der Zugang durch die Praxis zum juristischen Studium gewährt werden, etwa für den bewährten Arbeitersekretär. Frauen sollten zu allen Ämtern der Justiz zugelassen werden - was in Radbruchs Zeit als Reichsjustizminister auch geschah. Ein Jahr nach seinem Ausscheiden aus dem Amt wurde mit dem von ihm mit entworfenen Jugendgerichtsgesetz zudem ein Meilenstein für ein vom Erwachsenenstrafrecht abgegrenztes Jugendstrafrecht gesetzt. Sehr präzise ist auch der Blick auf das Bürgerliche Gesetzbuch, für Radbruch eigentlich «in Wahrheit ein Bürgergesetzbuch», von dem die Arbeiterschaft eigentlich nur drei Gebiete interessierten: Das Arbeitsrecht, das Mietrecht und das Familienrecht. Radbruch schlug vor, neben einem eigenen Arbeitsrecht auch ein besonderes Mietgesetzbuch, das das gesamte öffentliche und private Miet- und Wohnrecht vereinigen sollte, aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch herauszulösen.

Für ein soziales Recht

Radbruchs Vorstellung eines sozialen Rechts wird auch in einer Kommentierung zu Art. 157 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung, «Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Rechts» deutlich. Durch die Gewährung eines Rechtsschutzes werde die Arbeitskraft zu einem Rechtsgut sowohl des Einzelnen wie der Gesellschaft erhoben. In der Folge sei etwa eine Überanstrengung der Arbeitskraft selbst dann verboten, wenn der Arbeiter dieser Überanstrengung zugestimmt habe. Arbeitskraft werde der schrankenlosen Freiheit der Verträge entzogen. Radbruchs Menschenbild war eindeutig: «Die Grundlage jeder sozialen Sittlichkeit aber ist das Bewusstsein von der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt». Zugleich betonte er die Rolle der Nation, bei ihm verstanden nicht als Abstammungs-, sondern als Kulturgemeinschaft. Vaterlandsliebe münde in «staatsbürgerliche Gesinnung» – in Staatsbewusstsein, Rechtssinn und soziales Verantwortungsgefühl. Marxistisches Denken akzeptierte Radbruch für den Bereich der ökonomischen Analyse. Die persönliche Motivation für eine solidarische Gesellschaft schöpfte er aus ethischen Vorstellungen. Innerhalb der Sozialdemokratie übte Radbruch großen Einfluss auf die jüngeren Funktionäre aus. So sprach er auf Veranstaltungen der Jungsozialisten und widmete den dort aktiven auch seine erstmals im Jahr 1922 erschienenen «Kulturlehre des Sozialismus», in der er den Sozialismus nicht nur als eine geschichtliche, sondern auch als eine sittliche Notwendigkeit zu begründen versuchte. Die Jugend wolle nicht mehr nur auf die sozialistische Zukunft warten, sie wolle schon mitten in der kapitalistischen Welt ein Stück Sozialismus lebendig darstellen.

Nach 1924 zog Radbruch sich aus der aktuellen Politik zurück und widmete sich wieder der universitären Arbeit. Im Jahr 1926 an die Universität Heidelberg berufen, lehnte er es 1928 ab, im Kabinett Müller noch einmal Justizminister zu werden. Seine Vorstellung der demokratischen Republik als Grundlage auch umwälzender Veränderungen der ökonomischen Ordnung formulierte er weiterhin prägnant – so heißt es in einem Text für die Bildungsarbeit der SPD aus dem Jahr 1928: «Die demokratische Staatsform wird einmal die Staatsform einer sozialistischen Gesellschaft sein; heute ist sie die Staatsform, in der sich ein nie zuvor geahnter Hochkapitalismus hemmungslos und skrupellos auslebt. Die demokratische Staatsform, die als die bloße Staatsform der Gesellschaft für jeden Inhalt empfänglich sein muss, werden wir darum nicht schelten: sie kann nur der Ausdruck der jeweiligen Wirtschaft und Gesellschaft sein. Sie bietet uns sogar selber Waffen gegen den Kapitalismus. (…) Die in der Reichsverfassung verankerte Wirtschaftsdemokratie hat ihren ersten bescheiden Ausdruck im Betriebsrätegesetz gefunden. (…) So bleibt es Aufgabe, die Demokratie weiterzubilden. Die erste Aufgabe aber ist, die bedrohte Demokratie zu schützen. Drei Weltmächte bedrohen sie mit dem Untergang: der Bolschewismus, der Faschismus und der Kapitalismus». Und weiter: «Nur der Sozialismus kann die Demokratie zur vollen Wahrheit machen. Wir feiern an diesem Tage eine Errungenschaft und eine Hoffnung. Wir feiern das demokratische Vaterland der Gegenwart, das sozialistische Vaterland der Zukunft».

Am 8. Mai 1933 wurde Radbruch auf Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem Staatsdienst entlassen. Die Zeit der NS-Diktatur überstand er zurückgezogen in Heidelberg, wo er 1945 seine Lehrtätigkeit wiederaufnehmen konnte. Politisch orientierte Radbruch sich zunächst auf die CDU, bei der er auf die Politik eines christlichen Sozialismus hoffte, trat im Jahr 1948 aber dann doch wieder in die SPD ein. Am 23. November 1949 verstarb Gustav Radbruch an den Folgen eines Herzinfarkts.

Mit seinem Wirken sowohl als Rechtspolitiker wie auch als Rechtswissenschaftler widerlegte Gustav Radbruch in gewisser Weise seine eigene Vorstellung des sozialistischen Akademikers. Mit Blick auf die bis heute bestehenden Anschlussmöglichkeiten im Kampf für ein soziales Recht darf man sich darüber freuen.

Zum Weiterlesen

Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Gustav Radbruch als Reichsjustizminister (1921–1923), Berlin 2004, 84 Seiten (PDF)

Gustav Radbruch, Die Problematik des sozialistischen Akademikers, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Band 12, Politische Schriften aus der Weimarer Zeit I, bearbeitet von Alessandro Baratta, Heidelberg 1992, S. 154 - 160

Gustav Radbruch, 25. Januar 1921, 56. Sitzung in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Band 19, Reichstagsreden, bearbeitet von Volkmar Schöneburg, Heidelberg 1998, S. 46 - 63

Gustav Radbruch, Kulturlehre des Sozialismus, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Band 4, Kulturphilosophische und kulturhistorische Schriften, bearbeitet von Günter Spendel, Heidelberg 2002, S. 51 - 93

Gustav Radbruch, Am 11. August – Entwurf zu einer Rede, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Band. 14, Staat und Verfassung, bearbeitet von Hans-Peter Schneider, Heidelberg 2002, S. 113 - 116