Angesichts der vielfältigen Krisen in der Welt, wie kriegerischen Konflikten, wirtschaftlich und politisch instabilen Regionen, Hungersnöten und Folgen von Klimawandel sind immer mehr Menschen auf der Flucht, um ihr Leben und ihre Existenz zu retten. Einige – aber global betrachtet, die Wenigsten – landen in Europa und Deutschland. Dennoch, die Menschen, die hier ankommen, brauchen ein Zuhause, Teilhabe und Sicherheit. Das macht es notwendig, Migration in der Stadtentwicklungspolitik, aber auch in allen anderen Politikfeldern immer mitzudenken und vorausschauend einzuplanen.
Elif Eralp ist Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, Sprecherin für Migration und Partizipation sowie Antidiskriminierung und Mitglied im Fraktionsvorstand der Partei Die Linke Berlin. In ihrem Wahlkreisbüro in Berlin-Kreuzberg bietet sie wöchtentlich eine kostenlose rechtliche Erstberatung zum Aufenthalts- und Antidiskriminierungsrecht an.
Davon ist Deutschland trotz der Erfahrung mit verschiedenen Flucht- und Migrationsbewegungen in verschiedenen Dekaden leider weit entfernt. Das gilt auch für die Metropole Berlin, in der alle Regierungen der letzten Jahre für sich in Anspruch genommen haben, Berlin als Stadt des sicheren Hafens zu gestalten. Doch ausgerechnet hier hat sich inzwischen das größte und unzumutbarste Geflüchtetenlager Deutschlands etabliert: Das Ukraine-Ankunftszentrum Tegel.
Ursprünglich war es von der rot-grün-roten Vorgängerregierung nur als Drehkreuz und Registrier- sowie Verteilzentrum für die ankommenden Geflüchteten geplant, in der Menschen allenfalls kurzfristig wohnen sollten, bis sie in andere Unterkünfte umziehen können.[1] Die Betriebsverträge waren daher immer nur auf wenige Monate begrenzt und wurden nur für kurze Zeiträume verlängert.
Tegel ist nicht nur die Unterkunft mit den geringsten Standards, sondern zugleich auch die teuerste.
Unter der seit April 2023 im Amt befindlichen schwarz-roten Koalition wurde die Unterkunft immer weiter ausgebaut und ist zu einer Massenunterkunft geworden, in der manche Geflüchteten länger als ein Jahr leben müssen. Die Bewohner*innen beschreiben die Zustände vor Ort als katastrophal. Mindeststandards, die sonst für Unterkünfte gelten, werden hier nicht gewahrt. In den Schlafeinheiten sind bis zu 14 Personen auf engstem Raum untergebracht und es mangelt an Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten. Nachts ist oft an Schlaf nicht zu denken, da immer irgendeine*r aufsteht, Geräusche macht oder auch, weil es nie ganz dunkel ist in den mit provisorischen dünnen Wänden ausgestatteten und nach oben hin offenen Wohneinheiten, die in riesigen Zelten stehen, die offiziell «Leichtbauhallen» genannt werden. Bewohner*innen und Geflüchtetenorganisationen berichten immer wieder von schlechten hygienischen Bedingungen und schlechtem Essen, unzureichendem Zugang zu Gesundheitsversorgung, Beratung, sozialer Betreuung sowie von diskriminierenden Erfahrungen mit dem Personal vor Ort, insbesondere mit dem Sicherheitspersonal. [2] Die Unterkunft ist weit ab vom Stadtzentrum, war lange mit Stacheldraht umzäunt bis die Kritik von Geflüchteten, Beratungsorganisationen und auch der Grünen und Linken Oppositionsfraktionen im Landesparlament, es immer öfter in die Headlines der Medien schaffte.
Rüstungskonzerne betreiben Unterkünfte
Tegel ist wie ein Brennglas für die Probleme in der Unterbringung von Geflüchteten in Deutschland. Auch wenn die Unterkünfte nirgends so groß und so beengt sind, bestehen viele der Probleme auch in anderen Unterkünften bundesweit. Und daran wird sich erst etwas ändern, wenn die politisch Verantwortlichen endlich die nötigen Finanzmittel und rechtlichen Instrumente in die Hand nehmen, um die seit Jahrzehnten durch neoliberale Sparpolitik und Marktgläubigkeit entstandene Wohnungsmisere endlich anzugehen.
Tegel ist dabei nicht nur die Unterkunft mit den geringsten Standards, sondern zugleich auch die teuerste[3] und dennoch besteht derzeit Streit in der Berliner Koalition, ob mehr in die wesentlich günstigere Anmietung von Hostel- und Hotelzimmern investiert werden soll oder nicht.[4]
Bei den europaweiten Ausschreibungen zum Betrieb von Unterkünften in Berlin ist bei der Gewichtung zwischen Preis und Qualität der Preis zu 100 Prozent entscheidend.
Insgesamt hat sich die Geflüchtetenunterbringung zu einem Markt entwickelt, in der sich inzwischen viele Privatunternehmen engagieren, da sich das offensichtlich rentiert. So hat das, laut dem internationalen Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) im Jahr 2022 auf Platz 64 der weltweit am meisten mit Waffenproduktion und Militärdienstleistungen verdienende Unternehmen Serco im September 2022 zunächst die ORS GmbH übernommen und dann im Dezember 2023 die European Homecare GmbH und betreibt damit über seine Tochterfirmen über 120 Geflüchtetenunterkünfte bundesweit. Jenseits der internationalen von Menschenrechtsorganisationen geäußerten Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen in Abschieblagern gegenüber der Serco Group, ist der Konzern dadurch öffentlich in den Verruf geraten, als von einem mehrere Wochen unentdeckten verstorbenen Geflüchteten in einer Berliner Unterkunft und der anschließenden außerordentlichen Kündigung des Betriebs von Unterkünften durch den Senat, berichtet wurde.[5]
Zugleich berichten immer mehr freie Träger, dass sie bei den europaweiten Ausschreibungsverfahren für den Betrieb von Unterkünften benachteiligt sind, da sie wegen der Tarifbindung ihrer Beschäftigten und den eigenen Standards beispielsweise an den Personalschlüssel im Hinblick auf soziale Betreuung der Geflüchteten, ihre Leistungen teurer als viele Privatunternehmen anbieten müssten. Derzeit schreibt Berlin den Betrieb von Geflüchtetenunterkünften europaweit mit der Angabe aus, dass bei der Gewichtung zwischen Preis und Qualität der Preis zu 100 Prozent entscheidend ist.[6]
Menschen brauchen Wohnraum
Aus dieser Misere wird man nur entkommen, wenn man über neue Modelle nachdenkt, wie die Stärkung kommunaler Unterbringungsformen und landeseigener Unterbringungsbetriebe sowie eine andere Qualitäts-Preisbewertung bei der Auftragsvergabe.
Das sollten aber alles nur Zwischenlösungen sein. Denn auch gute Gemeinschaftsunterkünfte ersetzen keine Wohnung und ein echtes Zuhause. Wohnraum ist zwar in Berlin und anderen Großstädten, ebenso wie Unterkunftsplätze auch knapp, aber er ist auch ungerecht verteilt und vor allem nicht bezahlbar. Daher sind die Umsetzung mietenpolitischer Forderungen, die Mieter*innenverbände und Initiativen und auch Die Linke schon lange erheben, der eigentliche Schlüssel zur Verbesserung der Wohnsituation von Geflüchteten und zugleich von allen Menschen, die sich die horrenden Mieten nicht mehr leisten können.
Entscheidend sind große Investitionen in den sozialen Wohnungsbau, eigene kommunale Wohnungsbauprogramme und Ausbau des sozialen Wohnungsbestandes, aber auch Maßnahmen zur Senkung und Abbremsung der Mietentwicklung wie ein bundesweiter Mietendeckel, wie die Stärkung von Genossenschaften und der Ankauf von Wohnungen durch die öffentliche Hand. Und auch die Vergesellschaftung großer Wohnungsbestände von Immobilienunternehmen, die mit Wohnungen spekulieren, die die Berliner*innen per Volksentscheid beschlossen haben, bleibt zentral.
Über eine Million Quadratmeter Büroflächen stehen in Berlin leer
Speziell für den besseren Zugang von Geflüchteten zu Wohnungen müsste außerdem der Wohnberechtigungsschein (WBS), der Menschen mit geringem Einkommen einen verbesserten Zugang zu Wohnungen kommunaler Wohnungsgesellschaften bietet, auf Geflüchtete unabhängig vom Aufenthaltsstatus ausgeweitet werden. Diese erhalten ihn derzeit nur, wenn der Aufenthaltstitel noch eine Mindestgültigkeitsdauer von einem Jahr hat, obwohl der Aufenthalt in der Regel verlängert wird und diese Praxis in den Bundesländern ein wesentliches Hindernis beim Zugang zu Wohnungen in kommunaler Hand darstellt. Wichtig wäre zudem die Festlegung von höhere Belegungsquoten für WBS-Inhaber*innen und insbesondere für Geflüchtete in landeseigenen Wohnungsunternehmen festzulegen und auch gewerbliche Vermieter*innen müssen verpflichtet werden, einen Teil der Wohnungen zu festen Preisen an WBS-Inhaber*innen zu vermieten. Zudem muss der Leerstand viel stärker in Anspruch genommen werden. Beispielsweise besteht in Berlin über eine Million Quadratmeter Büroflächenleerstand[7], der umgebaut und zum Wohnen genutzt werden könnte.
Um diese Veränderungen herbeizuführen, bedarf es endlich eines Paradigmenwechsels in der Wohnungspolitik, der noch in weiter Ferne zu liegen scheint, für den wir aber als Linke an der Seite von Mieter*innenverbänden und -initiativen weiterkämpfen werden.
Damit ein Leben und Wohnen in Würde für alle Menschen möglich wird.
[1] Siehe Pressemitteilungen des Berliner Senats, 15.3.2022: Aktuelle Maßnahmen des Landes Berlin zur Unterbringung und Versorgung von aus der Ukraine Geflüchteten - Berlin.de; 26.4.2022: Zur aktuellen Situation geflüchteter Menschen aus der Ukraine in Berlin - Berlin.de.
[2] Siehe Reportage, DER SPIEGEL, 15.9.2024: Überfüllte Flüchtlingsunterkunft Berlin-Tegel: Ein Ort des Chaos und der Millionen-Geschäfte - DER SPIEGEL und Pressemitteilungen des Flüchtlingsrat Berlin; 19.9.2023: PM Berlin muss Geflüchteten menschwürdiges Wohnen ermöglichen: Beschwerden aus dem Lagerkomplex auf dem Ex-Flughafen Tegel bestätigen katastrophale Zustände; 13.3.2023: Kein Ort für Schutzsuchende: Notunterkunft im Flughafen Tegel schließen“ sowie Bericht der Zustände im Ukraine-Ankunftszentrum im ehemaligen Flughafen Berlin-Tegel (Stand November 2023).
[3] Siehe Tagesspiegel, 27.9.2024: Schlimme Zustände und hohe Kosten in Berlin-Tegel: Kritik an Intransparenz bei Deutschlands größter Flüchtlingsunterkunft wird lauter; taz, 3.7.2024: Bundesweit größte Geflüchtetenunterkunft: So kann man hier nicht leben | taz.de; nd, 7.5.2024: Tegel: »Größte, teuerste und schlechteste Unterkunft in Berlin« | nd-aktuell.de.
[4] Siehe Tagesspiegel, 4.11.2024: Streit um Geflüchtetenunterkünfte: Für Wahlkampf in der Berliner Koalition ist es deutlich zu früh; Tagesspiegel, 4.11.2024, Senat streitet über Unterbringung von Geflüchteten: Tausende Plätze in Hotels könnten in Berlin wegfallen und Dringlicher Antrag der Fraktion Die Linke, 7.11.2024: Dezentrale Unterbringung und Unterkunftsplätze in Hotels sichern! Perspektiven für die Schließung der Massenunterkunft in Tegel schaffen!, Abgeordnetenhaus-Drucksache 19/2009.
[5] Siehe Medienberichterstattungen u.a. MONITOR, 29.8.2024: Unterversorgt: Geschäfte mit Flüchtlingsunterkünften - Sendungen - Monitor - Das Erste; Tagesschau, 9.7.2024: Betreiber wegen «gravierender Mängel» gekündigt; taz, 10.7.2024: Flüchtlingsunterkünfte in Berlin: Geschäfte mit dem Krieg; Süddeutsche Zeitung, 2.9.2024: Geschäft mit Flüchtlingsunterkünften - Die Firma für Rüstung und Soziales (Bezahlschranke) und Schriftliche Anfragen Vergabeverfahren zum Betrieb von Geflüchtetenunterkünften in Berlin und Unterkunftsbetrieb durch Tochterfirmen der Serco Group Plc, Abgeordnetenhaus-Drucksache 19/19449 sowie Warum lässt Berlin Geflüchtetenunterkünfte von einem Rüstungskonzern betreiben?, Abgeordnetenhaus-Drucksache 18/18696.
[6] Siehe Ausschreibungen 585412-2024 - Wettbewerb - TED (zuletzt abgerufen: 7.11.2024).
[7] Siehe Schriftliche Anfrage Büroflächen zu Wohnraum?, Abgeordnetenhaus-Drucksache 19/18212; Tagesspiegel, 4.3.2024, 1,5 Millionen Quadratmeter: So viele neue Büroflächen erwartet der Berliner Senat bis 2026; Tagesspiegel, 20.4.2024: Absurder Luxus in der Berliner Wohnungskrise: Macht endlich die Büros auf!