Nachricht | Eine Marx-Biografie im Entstehen; Stuttgart 2024

Karl Marx von 1818 bis 1841

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Es ist eine augenöffnende, sich auf die vielfältigen Details stützende Lektüreerfahrung, die 2., überarbeitete und erweiterte Auflage des ersten Teils einer Marx-Biografie zu lesen, deren Erstauflage vor sechs Jahren erschienen ist und deren Fortsetzungen ursprünglich 2020 und 2022 veröffentlicht werden sollten. Das Vorhaben wurde derweil umstrukturiert: so werden drei weitere Bände folgen, für 2025 ist Band 2 angekündigt, der die Jahre 1842 bis 1844 umfasst. Wenn man den ersten Band nochmal aufmerksam liest, verwundert es nicht, dass es zur Verzögerung und Änderung der Folgebände kam: Michael Heinrich schreibt akribisch und in Sachen Reflektion auf äußerst hohem Niveau; keine biografisch relevante Information, die nicht gerechtfertigt wird, hinzu kommen fein ausgearbeitete Kritiken an den vorhergehenden biografischen Darstellungen, insbesondere denen von Francis Wheen (1999), Jonathan Sperber (2013) und Gareth Stedman Jones (2017), die mitunter unhaltbare Spekulationen enthalten. Aber auch klassische Darstellungen werden in wichtigen Aspekten korrigiert, ergänzt oder mit ihren Lücken konfrontiert. Heinrich selbst betont ausdrücklich, dass es nichts zu erzählen gibt, wofür es keiner Belege gibt, Vermutungen werden von ihm plausibel und abwägend geäußert. Als erster Marx-Biograf überhaupt versucht Heinrich durchgängig, Leben und Lebensumstände (also den gesellschaftspolitischen Kontext samt relevanter politisch-philosophischer Diskussionen) und Werk miteinander verknüpft darzustellen. Auch Wegfährten und wichtige Bezugswerke werden skizziert, immer mit Blick darauf, dass dies zum Verständnis von Marx‘ Entwicklung und dessen Verortung beiträgt. Kein einziger dieser Punkte wird zu detailliert geschildert, im Gegenteil wird die jeweilige Bedeutung präzise vor Augen geführt. Über sein Verständnis von biografischer Arbeit und wie er dieses biografische Großwerk angegangen ist, legt Heinrich in einem 23 Seiten umfassenden Anhang Rechenschaft ab.[1]

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich Heinrich die Aufgabe stellte, den ersten Band zu ergänzen und zu aktualisieren, sprich, neuere Literatur einfließen zu lassen, die Diskussionen und seine Position in bestimmten Sachverhalten zu vertiefen und zu präzisieren. Außerdem hat er die Textgliederung etwas verfeinert. Der Umfang ist um circa 20 Seiten gewachsen. Was erst bei der Relektüre deutlich wird: Die Gesamtbiografie ist nicht nach Büchern gegliedert, sondern nach Kapiteln – der vorliegende Band umfasst drei, hieran wird dann nahtlos angeschlossen werden.

Ebenso erfreulich ist, dass das Buch zwischenzeitlich in viele Sprachen übersetzt wurde, so ins Englische, Spanische, Koreanische, so dass nun erstmals eine echte transnationale Auseinandersetzung möglich ist – eine äußerst seltene Gelegenheit, gerade auch für wissenschaftliche Unternehmungen.

Wer also die Wartezeit bis zum Erscheinen von Band 2 überbrücken will, der/die greife zu dieser zweiten Auflage und groove sich so ein, denn es ist gerechtfertigt zu erwarten, dass der Autor in dem Folgeband in allen Belangen das Niveau halten wird.

Der Band schildert das wenige, was man über Karl Marx Kindheit und Jugend weiß, seine Eltern werden portraitiert, den jüdischen Wurzeln der Familie nachgespürt und die Bedeutung des Judentums und von Religion für Marx‘ Vater und seine Kinder beleuchtet. Ohne vom ‚Endergebnis‘ her zu argumentieren, wird Marx Schaffen als Autor anhand seiner überlieferten Schulschriften und Briefe rekonstruiert und nachvollzogen, wie er langsam in politisierte Kreise hineinwuchs. Wichtiger Bezugspunkt war hierbei Bruno Bauer, der entsprechend näher dargestellt wird, ebenso die wichtigen philosophisch-theologischen Auseinandersetzungen und die Entwicklung des Hegelianismus. Zuletzt geht es um Marx‘ Studium und seine Dissertation. Keinesfalls war der Weg zu Analytiker und Kritiker des Kapitalismus vorherbestimmt: so rang Marx mit einer eigenen philosophischen Position zur Welt und mit dem Vater über seine vorgesehene berufliche Zukunft. Heinrich wird mit seiner Darstellung den von ihm selbst gestellten Anforderungen an eine Biografie gerecht.

Michael Heinrich: Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft. Biografie und Werkentwicklung: Band I: 1818-1841; 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2024, 438 Seiten, 36,80 Euro


[1] Zugleich ist es eine spannende Erfahrung, die Besprechung zur ersten Auflage erneut zu lesen – und festzustellen, dass diese auch nach der Wiederlektüre noch immer zutreffend ist: Warum noch eine Marx-Biographie?, 19. Januar 2019 (Zugriff 11. November 2024)