Kommentar | Krieg / Frieden Wehrpflicht durch die Hintertür?

Der Bruch der Ampel wird die Militarisierung des Landes noch beschleunigen

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Ole Nymoen,

Verteidigungsminister Boris Pistorius spricht bei einem Gelöbnis in Hannover vor Rekrut*innen der Bundeswehr (12.11.2024). Foto: IMAGO / localpic

Die Deutschen lieben ihren Kriegsminister: Laut ARD-Deutschlandtrend zeigten sich in der vergangenen Woche 55 Prozent der Bundesbürger zufrieden mit der Arbeit von Boris Pistorius; ein Beliebtheitswert, mit dem kein anderer Bundespolitiker auch nur entfernt mithalten kann. Das gilt inner- und außerhalb der kürzlich zerbrochenen Regierung: Auf dem zweiten Platz stand Friedrich Merz mit 30 Prozent, gefolgt von Sahra Wagenknecht mit 24 Prozent.

Ole Nymoen studierte Soziologie und Wirtschaftswissenschaften in Jena und arbeitet als freier Journalist. Mit Wolfgang M. Schmitt moderiert er den  gemeinsamen Podcast «Wohlstand für Alle». Im nächsten Jahr erscheint bei Rowohlt sein neues Buch «Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde. Gegen die Kriegstüchtigkeit».

Die Mission von Boris Pistorius – Deutschland wieder «kriegstüchtig» zu machen – scheint sich großer Zustimmung zu erfreuen. Dass dieses Projekt auch noch von einem grimmig dreinblickenden Mann vorangetrieben wird, macht dem Wahlvolk klar: Solche Politiker braucht das Land! Und das hat man auch in der SPD verstanden, wo erste Genossen über Pistorius als neuen Kanzlerkandidaten nachdenken.

Umso bemerkenswerter ist es, dass in der vergangenen Woche kaum jemand danach fragte, was jetzt eigentlich aus dessen Großprojekt – dem neuen Wehrdienst – wird. Fast alle Augen richteten sich erst auf den designierten US-Präsidenten Donald Trump, dann auf die Ampel-Querelen zwischen Olaf Scholz und Christian Lindner, und schließlich auf den selbstgekürten grünen Kanzlerkandidaten Robert Habeck. Dass ein wesentlicher Teil der «Zeitenwende» – nämlich die personelle Stärkung der Bundeswehr – durch das Ampel-Aus wohl erst einmal verschleppt wird, ging neben solchen Personalfragen völlig unter. Daher soll im Folgenden kurz angerissen werden, was die politischen Verschiebungen der letzten Woche für die Militarisierung des Landes bedeuten.

Rekrutieren ganz ohne Zwang

Aber von Anfang an: Die Wehrpflicht wurde im Jahr 2011 ausgesetzt, seitdem gibt es keinen verpflichtenden Grundwehrdienst für junge Männer mehr. Der Staat setzt damit auf Freiwilligkeit bei der Rekrutierung seines Personals, die Bundeswehr ist eine Berufsarmee. Dieses Unterfangen ist jedoch nur bedingt erfolgreich, viele Ausbildungsplätze bei der Bundeswehr bleiben Jahr für Jahr unbesetzt. Das von Pistorius ausgelobte Ziel von 460.000 aktiven Soldat*innen und Reservist*innen liegt in unerreichbar weiter Ferne.

Konservative Stimmen fordern daher schon länger eine Rückkehr zur Wehrpflicht. Auch Pistorius hält deren Abschaffung rückblickend für einen Fehler, konnte sich jedoch innerhalb der Sozialdemokraten mit dieser Position bislang nicht durchsetzen. Aus dieser Uneinigkeit folgte dann ein eigenartiger Kompromissvorschlag, der neue Wehrdienst.

Alle jungen Männer sollen laut Pistorius dazu verpflichtet werden, an ihrem 18. Geburtstag einen Fragebogen zu Wehrbereitschaft und -fähigkeit auszufüllen. Auf diese Weise könnte die Bundeswehr ganz ohne Zwang wieder an neue Rekruten gelangen, die einen 6- bis 24-monatigen Wehrdienst absolvieren würden – zumindest in der Theorie.

Was aber, wenn diese Maßnahme erfolglos bliebe? Oder anders gefragt: Warum sollte sie überhaupt Erfolg haben? Freiwillig kann schon heute (fast) jeder junge Mensch der Bundeswehr beitreten. Dass ein Fragebogen das Interesse junger Leute an einer Armeekarriere wesentlich erhöht, ist nicht sehr wahrscheinlich. Würde der Staat dann einfach mit weniger Soldaten leben?

Wohl kaum, eine Wiedereinführung der Wehrpflicht wäre die anzunehmende Folge. So betrachtet hatte Pistorius‘ Vorschlag etwas von Augenwischerei: Weil er eine neue Wehrpflicht innerhalb der eigenen Partei (und innerhalb der Koalition) nicht durchsetzen konnte, forderte er eine abgeschwächte Version – um nach deren Scheitern das eigentlich anvisierte Programm durchzuführen. So gesehen wäre der Wehrdienst nur eine Wehrpflicht durch die Hintertür gewesen.

Die Wehrpflicht als feministisches Projekt

Und nun? Dass das seit Monaten angekündigte Vorhaben jetzt noch umgesetzt wird, ist mehr als unwahrscheinlich. Die Wirtschaftswoche zitierte in der vergangenen Woche einen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums mit den drastischen Worten: «Man hat den Eindruck, dass das Projekt tot im Wasser schwimmt.»

Das ist wenig verwunderlich: Die Koalition ist gescheitert, und die CDU hat überhaupt kein Interesse daran, SPD und Grünen zu einer Mehrheit zu verhelfen. In der Union hält man noch weniger als Pistorius davon, bloß auf Freiwilligkeit zu setzen: So forderte Markus Söder schon vor über einem Monat eine möglichst schnelle Rückkehr zur Wehrpflicht. Der Kanzlerkandidat Friedrich Merz erklärte kürzlich bei Caren Miosga, dass die Union eine Grundgesetzänderung anstrebe – um nicht nur Männer, sondern auch Frauen zum Dienst an der Waffe verpflichten zu können. Quasi die konservative Ausgestaltung einer feministischen Außenpolitik: Bald sollen auch Frauen süß und ehrenvoll fürs Vaterland sterben.

Die Unterstützung von Pistorius‘ Projekt wäre für die Union daher Wahnsinn: Wieso sollte die CDU der SPD zu einer Wehrpflicht light verhelfen, wenn sie nach der gewonnenen Wahl selbst Nägel mit Köpfen machen kann?

Was tun mit der neuen Macht?

Aber ganz gleich, wer regiert: Mittelfristig droht alles auf eine neue Wehrpflicht hinauszulaufen; und keine politische Kraft mit Regierungschancen widerspricht dem generellen Trend der Militarisierung. Das wurde in der vergangenen Woche besonders sichtbar, als Annalena Baerbock und Olaf Scholz als Reaktion auf die Trump-Wahl mehr eigene Aufrüstung forderten, während Robert Habeck sogar ein neues Sondervermögen vor den Neuwahlen in den Raum stellte.

Dann bleibt eigentlich nur noch die Frage, was mit dieser neuen deutschen Macht geschieht. Sollen die 460.000 (!) anvisierten Soldaten wirklich nur der Landesverteidigung dienen? Wohl kaum. Friedrich Merz erklärte schon im Februar 2022, kurz nach Putins Angriff auf die Ukraine: «Deutschland muss endlich bereit sein, in dieser Welt seine Interessen zu definieren, und vor allem bereit sein, diese Interessen auch durchzusetzen. Dazu zählt nicht nur, aber auch die Fähigkeit, das eigene Territorium […] zu schützen und zu verteidigen.»

In der CDU denkt man also bereits weit über die militärische Verteidigung der eigenen Grenzen hinaus, was auch für Teile der SPD gilt. Diese hielt in einem Papier vom Januar 2023 fest: «Nur aus einem starken Europa heraus können wir uns global für unsere Werte und Interessen einsetzen – alleine sind wir zu klein, um Einfluss auszuüben. Daher ist es in unserem ureigenen Interesse, eine Führungsrolle bei der Stärkung Europas als attraktives Zentrum einzunehmen.»

Die SPD will eine Führungsrolle in Europa, Merz will deutsche Interessen gewaltsam durchsetzen können, und hochrangige Sicherheitspolitiker wie Roderich Kiesewetter sprachen vor einigen Monaten schon davon, dass Deutschland Israel bei seiner Kriegsführung unterstützen solle. Diese neue Militanz könnte durch die US-Wahl und das Ende der Ampel-Koalition noch einmal schneller in die Tat umgesetzt werden – auf den Weg gebracht wurde sie aber schon lange vorher von einer sehr, sehr Großen Koalition.