Für viele Frauen, die in der DDR lebten, war das Recht auf Abtreibung eine Selbstverständlichkeit. Wie es dazu kam und warum es sich heute noch lohnt, einen Blick darauf zu werfen, haben wir mit der Soziologin Ursula Schröter in einem Interview besprochen. Schröter war bis 1990 am soziologischen Institut der Akademie für Gesellschaftswissenschaften tätig. Nach der Wende gründete sie mit anderen das Institut für Sozialdatenanalyse e.V. und forschte zu Fragen des sozialistischen Patriarchats. Mit ihr sprachen Clara Siegel und Nadine Kramer.
Clara und Nadine: Anfang März 1972 wurde in der DDR das «Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft» beschlossen und in Kraft gesetzt. Damit waren Abtreibungen in den ersten drei Monaten ohne Angabe von Gründen straffrei möglich. Zuvor galt das Abtreibungsrecht nur bei medizinischen und eugenischen Indikationen, ab 1965 auch aus sozialen und ethischen Gründen. Auffallend ist, dass es weder vor der Einführung der Fristenlösung noch danach eine öffentliche Debatte zu diesem Thema gab. Welche Gegebenheiten führten dazu, dass die Fristenlösung in der DDR schließlich eingeführt wurde?
Das Gespräch führten Clara Siegel und Nadine Kramer. Beide haben ein dreimonatiges Praktikum bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Zentrum für Gesellschaftsanalyse und politische Bildung absolviert.
Ursula Schröter: Ja, zu diesem Thema hielt sich die Berichterstattung in der DDR in Grenzen. In den Statistischen Jahrbüchern der DDR gab es dazu bis 1989 keine Zahlen. Eine Diskussion im DDR-Fernsehen Ende 1977 im Anschluss an die Ausstrahlung einer Neu-Verfilmung des Friedrich-Wolf-Dramas «Cyankali» (Regie: Jurij Kramer) ist vielleicht die einzige Ausnahme. Wie so oft in der DDR waren es aber die Schriftstellerinnen, die das Problem ansprachen, in dem Fall Charlotte Worgitzky mit ihrem Roman «Meine ungeborenen Kinder» (1982).
Als Anfang März 1972 das Gesetz öffentlich vorgestellt wurde, galt es als Frauentags-Geschenk für «unsere Frauen». Dass es in aller Eile verabschiedet worden war, konnte man schon an der Formulierung erkennen, denn schließlich geht es nicht um eine Unterbrechung der Schwangerschaft, sondern um deren Abbruch. Heute sehe ich mehrere Gegebenheiten, die schließlich zur Fristenlösung führten:
So muss der atheistische Charakter des sozialistischen Staates, insbesondere der (historisch entstandene) geringe Einfluss der katholischen Kirche, in Betracht gezogen werden. Anfang Januar 1972 erschien zwar eine Erklärung der katholischen Bischöfe und Bischöflichen Kommissare in der DDR, in der von einer unheilvollen Entwicklung seit 1965 (also seit der sozialen Indikation!) für das ganze Volk die Rede war. Eine Gesellschaft, die auf den Schutz des werdenden Lebens verzichtet, sei in ihrem Bemühen um wahren Humanismus unglaubwürdig. Diese Erklärung verhinderte das Gesetz nicht, hatte aber möglicherweise Einfluss darauf, dass es – erstmalig in der Geschichte der Volkskammer – nicht einstimmig beschlossen wurde.
Außerdem werden die Forderungen der DDR-Frauen – nicht nur als «Eingaben» – eine Rolle gespielt haben. So richteten DDR-Frauen im Vorfeld des Ersten DDR-Frauenkongresses 1964 etwa 13.000 Anträge an die zuständige Kommission, von denen wohl viele eine «bewusste Mutterschaft» betrafen. Auf dem Kongress selbst gab es das Thema nicht, aber alle Anträge zur bewussten Mutterschaft wurden der Frauenkommission des Politbüros übergeben. Dass ein Jahr später eine «Ministerielle Instruktion» das Abtreibungsverbot in sozialer Hinsicht lockerte, hat ganz sicher mit den Kongress-Anträgen zu tun.
Selbstverständlich war die DDR-Regelung fortschrittlicher, nicht nur frauenfreundlicher, sondern auch männer- und kinderfreundlicher. Keine Frage, dass das sozialistische Patriarchat um vieles erträglicher war als das kapitalistische.
Die Formulierung «bewusste Mutterschaft» unterscheidet sich von den westlichen Losungen (z. B. «Mein Bauch gehört mir») und ist vermutlich schon in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts entstanden. Edwin Hörnle hatte in den 1920er Jahren von «bewusster Regelung der Geburten» gesprochen – als Bestandteil der proletarischen Moral.
Eine weitere Gegebenheit dürften die Forderungen von Ärztinnen und Ärzten gewesen sein, die mit den Folgen illegaler Abtreibungen konfrontiert wurden. «Vor 1972 wurden in der DDR jährlich etwa 60.000 Aborte registriert, an deren Folgen 60 bis 70 Frauen verstarben», schrieb die Ärztin Lykke Aresin 1993. Sie gehörte zu denen, die konsequent für eine fachgerechte Durchführung von Abbrüchen stritt, insofern für eine Legalisierung.
Schließlich die vielleicht ausschlaggebende Gegebenheit: Der lautstarke Kampf der Westfrauen, der im Herbst 1971 erfolgversprechend aussah. Aus meiner Sicht besteht kein Zweifel daran, dass die erst Mitte Dezember 1971 einsetzenden juristischen und politischen Aktivitäten, die bis Anfang März 1972 zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in der DDR führten, vor allem eine Folge der westdeutschen Frauenbewegung 1971 waren. Für diesen Zusammenhang scheint es keine schriftlichen Belege zu geben, aber es gibt inzwischen den Film «Die Unbeugsamen 2». Hier bestätigt die Tochter von Inge Lange (Kandidatin des Politbüros und konsequente Verfechterin des Abtreibungsrechtes), dass ihre Mutter erst in dieser Situation die Männer des Politbüros von der Gesetzesänderung überzeugen konnte. Der Klassenfeind sollte in dieser wichtigen Frage nicht schneller sein. Wäre es ursächlich um «das Abtreibungsverbot als Kernstück der Frauenunterdrückung» (Ute Gerhard) gegangen oder wäre es Erich Honecker darum gegangen, sich von der Politik Walter Ulbrichts abzusetzen (wie auch vermutet wurde), dann hätte das Thema auf dem VIII. Parteitag der SED, der im Monat der Stern-Aktion [Anm.d.R.: 1971 veröffentlichte der Stern eine Ausgabe, in der 374 Frauen erklärten: «Ich habe abgetrieben»] stattfand, eine Rolle gespielt. Die Tatsache, dass es den Entscheidungsträger*innen letztlich um die Klassenfrage und nicht um die Frauenfrage ging, schmälert die Bedeutung des «Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft» von 1972 allerdings nicht. Wichtig bleibt, dass es das «Kernstück» der Frauenunterdrückung in der zweiten DDR-Halbzeit nicht mehr gab.
Seit dem 19. Jahrhundert gehörte der Kampf um das Abtreibungsrecht zur Arbeiterbewegung, weil es vor allem die armen Schichten waren, die unter dem Verbot litten. Reiche Frauen fanden immer Ärzte, die ihnen unabhängig von der Gesetzeslage halfen. Noch in den 1920er Jahren wurden – auch mit Blick auf die junge Sowjetmacht – Verhütung und das Recht auf Abbruch als Bestandteile einer künftigen Arbeiterpolitik bezeichnet (Friedrich Wolf). Die DDR verstand sich als Antwort auf die Arbeiterfrage. Kapitalisten wurden enteignet, ein Arbeiter-und-Bauern-Staat errichtet. Warum ging sie trotzdem zögerlich mit dem Abtreibungsrecht um?
Eine zusammenfassende Antwort wäre: Weil in der Gesellschaft eben nicht nur der Klassenwiderspruch wirkt, sondern gleichrangig der Geschlechterwiderspruch, der ethnische Widerspruch (der ehemals Rassenwiderspruch hieß) und der Widerspruch zwischen Natur und Gesellschaft. Das Gesellschaftskonzept, nach dem der reale Sozialismus funktionieren sollte, packte diese Widersprüche aber in ein hierarchisches Modell – mit dem Klassenwiderspruch an der Spitze. Bis heute ist dieses Modell in der Linken präsent, ohne dass es kritisch genug reflektiert wird. Die gegenwärtige Debatte um Antisemitismus, Gender-Sternchen, Klima-Kleber… enthält für mich die dringende Aufforderung, neu über die unterschiedlichen Menschenrechtsbewegungen und die zugrundeliegenden Widersprüche nachzudenken. Es gibt keinen Grund, die Arbeiterbewegung, die im 18. Jahrhundert entstanden ist, höher zu schätzen als die Frauenbewegung, die im 19. Jahrhundert dazu kam, oder die Antikolonialbewegung, die vor allem im 20. Jahrhundert aktiv war, oder die Klima-Bewegung, die es erst seit dem 21. Jahrhundert gibt.
Für die DDR bzw. das sozialistische Lager war der Klassenwiderspruch aber der dominierende (mit fragwürdigem Bezug auf Marx), d.h. patriarchale Strukturen (das sozialistische Patriarchat), rassistische Strukturen und «Beherrschung der Natur» wurden kaum beforscht und schon gar nicht infrage gestellt. Insofern ist erklärbar, dass das bedingungslose Abtreibungsrecht, das den Frauen Russlands unmittelbar nach der Revolution zugestanden wurde, schon kurz danach eingeschränkt und 1936 wieder abgeschafft wurde.
Und erklärbar ist auch, dass in der DDR 1950 das Abtreibungsverbot (mit den genannten Indikationen) wieder eingeführt wurde, nachdem mit der Verfassung 1949 «alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung widersprechen», aufgehoben worden waren. Das heißt, Paragraf 218 des Bürgerlichen Strafgesetzbuches galt in der DDR nie, wohl aber seit 1950 der Paragraf 11 des «Gesetzes über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau».
Ungeachtet der Gründe für die Einführung der Fristenlösung war die Regelung in der DDR eine fortschrittlichere als jene heute. Aktuell wird die Legalisierung von Abtreibungen durch die Streichung des Paragrafen 218 verstärkt gefordert. Dass dieser Schritt gerade als «Dammbruch» dargestellt wird, obwohl es das ja schon mal gab, kann für einige Ostdeutsch-Sozialisierte frustrierend sein. Wie ordnest du die heutigen Forderungen ein, besonders in Hinblick auf unterschiedliche biografische Erfahrungen in Ost- und Westdeutschland?
Selbstverständlich war die DDR-Regelung fortschrittlicher, nicht nur frauenfreundlicher, sondern auch männer- und kinderfreundlicher. Keine Frage, dass das sozialistische Patriarchat um vieles erträglicher war als das kapitalistische. Das lässt sich an zahlreichen Indikatoren, nicht nur am Abtreibungsrecht, nachweisen und wird ja in der Gegenwart auch wieder heftig debattiert. Aber der Sozialismus ist weltweit zusammengebrochen, und die DDR musste der Bundesrepublik beitreten[*], konnte also nicht auf einer Vereinigung zweier Staaten auf gleicher Augenhöhe bestehen. Insofern hat es seine Logik, dass die Regeln der Sieger nun auch die Regeln für die Besiegten sind.
Ich möchte mich nicht mit Frustrationen aufhalten, obwohl die gegenwärtige kriegstüchtige Welt es schwer macht, optimistisch in die Zukunft zu schauen. Wichtig und dringend notwendig ist aus meiner Sicht, dass das Gesellschaftskonzept, das wir Marxismus-Leninismus nannten, kritisch unter die Lupe genommen wird und dass wir «mit der Weisheit einer Niederlage» ein neues, diesmal tragfähiges Konzept entwickeln: zur Überwindung des Kapitalismus, gleichzeitig des Patriarchalismus, des Rassismus und der Naturzerstörung. Bescheidener lässt es sich nicht formulieren.
Literaturempfehlungen:
- Edith Ockel, 2000, Die unendliche Geschichte des Paragrafen 218. Erinnerungen und Erlebnisse. Berlin
- Filmmuseum Potsdam, 2016, Booklett zur DVD «Cyankali»
- Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2020, Manuskripte 28: «Über Privates und Öffentliches. Eine ostdeutsche Sicht auf das geteilte Deutschland»
[*] Vielleicht sollte sie froh sein, dass sie das konnte, dass es also einen reichen Bruder im Westen gab, dem sie beitreten konnte. In vielen anderen ehemals sozialistischen Staaten war das Chaos viel größer, wurde sozusagen schlagartig Kapitalismus ohne demokratischen Unterbau, ohne zweiten Arbeitsmarkt… eingeführt. Was Russland vor Putin betrifft, wird in diesem Zusammenhang heute von einem «verbrecherischen Kapitalismus» gesprochen.