Analyse | Partizipation / Bürgerrechte - Rosalux International - Osteuropa - Ukraine-Krieg In Russland ist niemand vor dem Gefängnis sicher

Putins Repressionsmaschinerie analysiert Anastasia Spartak

Information

Russische Bereitschaftspolizei steht am Rande der Beerdigung von Alexej Nawalny Wache (Moskau , 1. März 2024). Foto: IMAGO / SOPA Images

Berechnungen der unabhängigen Menschenrechtsstelle OWD-Info zufolge wurden zweieinhalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine über 1.000 russische Dissident*innen mit Strafrechtsprozessen überzogen und mehr als 300 von ihnen zu Haftstrafen verurteilt. Viele dieser Gefangenen gehören zur liberalen Opposition in Russland, wie etwa ihr berühmtester Vertreter, Alexei Nawalny, der Anfang des Jahres unter mysteriösen Umständen in einer Strafkolonie starb. Es nimmt nicht wunder, dass solche Menschen in den westlichen Medien die größte Beachtung finden; damit wird der Eindruck gefestigt, die politische Opposition in Russland sei einzig und allein das Werk liberaler und bürgerlich-demokratischer Kräfte.

Anastasia Spartak ist eine russische Sozialwissenschaftlerin.

Allerdings ist es keineswegs so, dass sich die Repression in Russland nur auf Liberale beschränken würde: Linke Aktivist*innen geraten ebenfalls ins Visier und stehen in letzter Zeit verstärkt im Fokus des russischen Repressionsapparats. Doch trotz vieler Rückschläge und einer zunehmend feindseligen Stimmung im Land setzen sie weiterhin auf Solidarität. Es ist indes nicht möglich, alle linken politischen Gefangenen in Russland in einem einzigen Text behandeln zu wollen. Daher soll hier lediglich auf die symbolträchtigsten Fälle eingegangen werden, mit denen sich das Ausmaß und die Natur der Repression im heutigen Russland aufzeigen lassen, wo Denunziationen, Folter, Provokationen, Rechtlosigkeit und rechtliche Willkür an der Tagesordnung sind.

Der Kampf für die Meinungsfreiheit

Der bekannteste politische Gefangene aus der Linken ist der 66-jährige marxistische Soziologe Boris Kagarlizki, der vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB verfolgt wurde, nachdem er in einem Livestream über die Sprengung der Krim-Brücke gescherzt hatte. Im Juli 2023 wurde er unter Arrest gestellt und im Dezember mit einer Geldstrafe belegt. Anschließend legten ihm die Behörden nahe, zu seiner eigenen Sicherheit das Land zu verlassen. Kagarlizki blieb jedoch seinen Prinzipien treu und verließ das Land nicht. In der Folge wurde er am 13. Februar 2024 zu fünf Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt.

Zu seinen Ehren wurde am 8. Oktober 2024 eine internationale Online-Konferenz unter dem Titel «Boris Kagarlizki und die Herausforderungen der Linken heute» abgehalten. Dabei präsentierten die Organisator*innen mit dem Kagarlitsky Network for Intellectual Freedom (Kagarlizki-Netzwerk für geistige Freiheit, KNIF) eine neue Initiative. Das Netzwerk zielt darauf ab, Intellektuelle in Russland und in den von Russland besetzten Gebieten im Kampf für die Gedankenfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung zusammenzuführen. Der erste Schwerpunkt des KNIF soll auf der «zunehmenden Gefährdung der geistigen Freiheit liegen, am Beispiel bekannter Persönlichkeiten wie dem Soziologen Boris Kagarlizki, dem Mathematiker Asat Miftachow sowie weiteren Dozent*innen und Forscher*innen, die inhaftiert, als ‹ausländische Agenten› gebrandmarkt oder anderweitig dafür bestraft wurden, dass sie es wagten, anders zu denken».

Die Fälle von Boris Kagarlizki und Asat Miftachow haben weltweit Wellen geschlagen. Dass sie zudem starke Unterstützung auf höchster Ebene erhielten, hat mit der engen Vernetzung linker Intellektueller weltweit zu tun. Es gibt jedoch Dutzende weniger bekannte politische Gefangene, die ebenfalls Unterstützung benötigen.

Der Fall von Asat Miftachow war bereits vor dem Ukraine-Krieg weithin bekannt geworden. Am 18. Januar 2021 wurde er zu sechs Jahren Haft verurteilt, weil er angeblich ein Fenster in den Büros der Regierungspartei Einiges Russland eingeschlagen hatte. Miftachow gab an, gefoltert worden zu sein. Es wurde schnell klar, dass er nicht wegen dieser Aktion, sondern wegen seiner politischen Ansichten verfolgt wurde – Asat bezeichnete sich selbst öffentlich als Anarchist, kritisierte die russischen Behörden und sprach sich gegen den drohenden Ukraine-Krieg aus. Im Gefängnis schikanierten ihn die Wärter, indem sie Intimbilder von ihm an seine Mitgefangenen verteilten, um ihn auf diese Weise im Gefängnis zu isolieren.

Die akademische Community organisierte eine breit angelegte Kampagne für Miftachow. Zwei internationale Komitees wurden zu seiner Unterstützung eingerichtet, das Azat Miftakhov Committee und Solidarité FreeAzat. Die Kampagne folgte dem Muster der Kampagnen für die beiden sowjetischen Mathematiker Leonid Pljuschtsch und Juri Schichanowitsch, die 1972 verhaftet, ohne Anhörung verurteilt und wegen ihrer «antisowjetischen Akte» in eine psychiatrische Abteilung gesperrt wurden. Einer, der sich aktiv an der Kampagne für die Freilassung Asats beteiligte, war der französische Mathematiker Michel Broué, der bereits dissidente sowjetische Wissenschaftler*innen unterstützt hatte.

Miftachow wurde am 4. September 2023 entlassen, aber bald darauf wieder verhaftet. Am 28. März 2024 wurde er zu vier Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Einer offiziellen Untersuchung zufolge hatte Miftachow, als er mit anderen Gefangenen in der Kolonie fernschaute, seine Unterstützung für den Anarchisten Michail Schlobizki kundgetan, der 2018 einen Selbstmordanschlag auf das FSB-Hauptquartier in Archangelsk organisiert hatte. Einer der engsten Freunde Miftachows im Gefängnis sagte gegen ihn aus. Allerdings hat er bislang in keinem der Fälle seine Schuld eingestanden.

Die Fälle von Boris Kagarlizki und Asat Miftachow haben weltweit Wellen geschlagen. Dass sie zudem starke Unterstützung auf höchster Ebene erhielten, hat mit der engen Vernetzung linker Intellektueller weltweit zu tun. Es gibt jedoch Dutzende weniger bekannte politische Gefangene, die ebenfalls Unterstützung benötigen. Die Fälle von Kagarlizki und Miftachow haben immerhin den positiven Nebeneffekt gehabt, dass linke politische Gefangene allgemein mehr Aufmerksamkeit erhalten haben und es zur Gründung von Solidaritätsnetzwerken im Land selbst gekommen ist – was bei weniger bekannten Aktivist*innen bislang nicht der Fall war.

Ein Fonds für die Unterstützung von Gefangenen

Die beiden Fälle führten zu einer starken Mobilisierung einer ansonsten orientierungslosen russischen Linken, die enorm unter der Militärzensur und dem Verbot von Demonstrationen und sogar Organisierungsbestrebungen leidet. Im Juni 2024 errichteten linke Aktivist*innen, Journalist*innen, Bekannte und Familienangehörige sowie Mitglieder von Unterstützungsgruppen für politische Gefangene den Unterstützungsfonds für linke politische Gefangene. Im ersten Eintrag auf dem Telegram-Kanal der Organisation heißt es:

«Der Repressionsapparat der oligarchischen Diktatur in Russland gewinnt zunehmend an Bedeutung, und zwar vor dem Hintergrund sich verschlimmernder imperialistischer Konflikte und der Tatsache, dass sich die ‹Stabilität› im Land einzig und allein durch das Anziehen der Daumenschrauben aufrechterhalten lässt. Die Gesamtzahl der politischen Gefangenen wächst immer weiter, und auch die Zahl von Menschen mit linken Überzeugungen, die Repression erfahren, nimmt unweigerlich zu. Dazu gehören Anarchisten, Kommunisten, Sozialdemokraten, sowohl international bekannte Persönlichkeiten als auch normale Aktivisten. Vor diesem Hintergrund, im Angesicht der düsteren Aussichten und basierend auf den Erfahrungen mit der Unterstützung einzelner Genossen, haben wir […] entschieden, unsere Bemühungen im Sinne einer effektiveren Unterstützung unserer Genossen zu vereinen und diese Initiative zu gründen.»

Das Team ist aktuell damit beschäftigt, eine mehrsprachige Website aufzubauen, auf der eine regelmäßig aktualisierte Liste der linken politischen Gefangenen in Russland erscheinen soll. In der Zwischenzeit koordinieren die Mitglieder des Fonds die Medienarbeit, unterstützen Solidaritätskampagnen und leisten Zahlungen an politische Gefangene. Im September 2024 hatte der Fonds Einnahmen durch private Spenden in Höhe von 213.119 Rubel (ca. 2.000 Euro) und Ausgaben von 230.900 Rubel (ca. 2.200 Euro), wovon 200.000 Rubel für die Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von 300.000 Rubel für Juri Tschilikin vorgesehen waren, der im Juli aus einer sechsmonatigen Untersuchungshaft entlassen worden war.

Im Juli 2023 hatte Tschilikin das Foto eines mobilen Rekrutierungszentrums für den Krieg in der Ukraine auf seinem persönlichen Telegram-Kanal mit der Bildbeschriftung gepostet: «Das schreit geradezu nach einem Molotow-Cocktail.» Der Beitrag hatte eine strafrechtliche Verfolgung aufgrund des «öffentlichen Aufrufs zum Terrorismus im Internet» zur Folge. Die Staatsanwaltschaft forderte sechs Jahre Haft in einer Strafkolonie. Doch obgleich das Gericht Tschilikin für schuldig befand, verurteilte es ihn lediglich zu einer Geldstrafe und belegte ihn mit einem einjährigen Verbot zum Betrieb von Websites.

Das ist alles, was die prekären Solidaritätsnetzwerke der russischen Linken bislang bewerkstelligen können gegen die unnachgiebige Repressionsmaschinerie. Doch selbst diese winzige Hilfestellung kann für politische Gefangene einen großen Unterschied bedeuten. In Russland wird die Gefangenenunterstützung von draußen als grew oder wörtlich «wärmen» bezeichnet, denn in einem Land der ewigen Kälte brauchen alle ein wenig Wärme, selbst hinter Gittern. Und wie das Motto von OWD-Info besagt: «Niemand darf mit dem System allein gelassen werden.»

«Vor Armut und Gefängnis ist niemand sicher»

Es sollte allerdings angemerkt werden, dass Tschilikins Prozess mit seinem glücklichen Ende ein Ausnahmefall war. Den Statistiken des Obersten Gerichts zufolge weist das russische Justizwesen eine Freispruchquote von 0,26 Prozent auf. Zudem wurden die üblichen politischen Paragraphen mit den Vergehen Terrorismus, Staatsverrat, Diskreditierung des Militärs sowie Falschmeldungen zum Militär ergänzt.

Im Allgemeinen lässt sich das russische (Un-)Rechtssystem mit drei Regeln definieren: Willkür, Rücksichtslosigkeit und Denunziation. Diese sind derart tief in die gesellschaftliche Realität Russlands eingeschrieben, dass sie deren fester Bestandteil geworden sind. «Rechtlosigkeit» oder bespredel ist die beste Beschreibung für Russland als ein Raum ohne Grenzen, in dem sich die eine Hälfte der Bevölkerung versteckt, während die andere Hälfte versucht, sie einzufangen. Der weit verbreitete Einsatz sexueller Folter macht den Aufenthalt linker Aktivist*innen in diesen menschengemachten Höllenlöchern zum Albtraum. Die Memes «Kniebeuge auf einer Flasche» und «Besenstiel-Folter» haben Eingang in die russische Pop-Kultur gefunden, da sie sich eindringlich auf die brutale Folter im russischen Strafvollzugssystem beziehen.

Als Teil einer übergeordneten Strategie werden Strafen für politische Vergehen willkürlich vollstreckt. Die Grenzen des Erlaubten sind völlig unklar, und ihre mögliche Überschreitung hängt von den Umständen ab oder, was öfter der Fall ist, von der Laune der beteiligten Beamt*innen. Die Logik dieser Form der Repression liegt in ihrer kompletten Unberechenbarkeit begründet: Jede Person kann für alles Mögliche im Gefängnis landen, die Betroffenen sind von Anfang an schuldig, und ob einzelne Personen bereits im Gefängnis sitzen oder nicht, ist nur eine Frage der Zeit sowie der Hartnäckigkeit der Strafverfolgungsbehörden.

Das Fehlen klarer Regeln darüber, welche Äußerungen oder Handlungen zu einer Verhaftung führen können, macht aus dem Justizsystem ein Glücksspiel, ganz nach dem russischen Sprichwort: «Vor Armut und Gefängnis ist niemand sicher.» Diese Unwägbarkeit erzeugt ein Klima der Angst, das – trotz einer politischen und wirtschaftlichen Krise – jegliche Opposition im Keim erstickt.

Der Rückgang der Standards bei den Strafverfolgungsbehörden sowie die abnehmende Rigorosität bei der Beweisaufnahme hatten zur Folge, dass Staatsanwaltschaften immer stärker von Informant*innen abhängig sind, was den juristischen Prozess insgesamt unterminiert.

Diese Dynamik lässt sich beispielhaft am Fall von Husyn Dschambetow beleuchten. Im März 2022 kämpfte Dschambetow auf ukrainischer Seite mit anderen Freiwilligen aus Tschetschenien unter dem Namen «Bandera». In einem Video rief er Allah an, «Putin, einen Feind der zivilisierten Welt», zu vernichten. Dafür kam er auf die russische Fahndungsliste. Doch als er 2023 plötzlich die Seiten wechselte und ein Video veröffentlichte, in dem er Ramsan Kadyrow, den «Vater der tschetschenischen Nation», verherrlichte, blieben seine Handlungen ohne Folgen. Dschambetow, der nicht nur im Internet damit prahlte, sondern tatsächlich russische Soldaten getötet hatte, wurde nicht nur verziehen, sondern er erhielt auch noch eine Beförderung.

Der Mangel an einer systematischen Repressionsstrategie wird durch die extreme Rücksichtslosigkeit aufgewogen, die das russische Strafvollzugssystem von seinen Vorgängermodellen geerbt hat. Die russische Praxis, politische Dissident*innen zu bestrafen, geht auf die zaristischen Strafcamps zurück (die sogenannten katorga), bestand während der Sowjetzeit mit den Arbeitslagern im Gulag-System fort und wird im modernen Russland in Form von Strafkolonien und Gefängnissen weitergeführt, die dem Föderalen Strafvollzugsystem (FSIN) unterstehen. Das russische System kehrt momentan zu seinen historischen Wurzeln zurück, indem es nicht nur als Mittel der Bestrafung dient, sondern auch der Einschüchterung all jener, die eine Gefahr für das System darstellen könnten. Verstärkte Aktivität entfaltet der russische Repressionsapparat auch aufgrund des Krieges und des Gefühls, sich im Belagerungszustand zu befinden. Diese Aktivität geht zunehmend mit einer Missachtung grundlegender Menschenrechte einher: Die Urteile fallen so extrem wie möglich aus, und politische Gefangene werden immer öfter der Folter unterzogen.

Aufschlussreich ist in diesem Kontext der sogenannte «Tjumen»-Fall, der sich besonders durch das große Ausmaß an Gewalt – gegen sechs junge Männer aus drei russischen Städten – sowie durch das Ausmaß an Rechtlosigkeit und unmenschlicher Folter auszeichnete. Damit spiegelte dieser Fall auch den berüchtigten «Netzwerk»-Fall wider, bei dem russische Beamt*innen unter Folter entstandene Aussagen nutzten, um die Existenz einer Terrororganisation von Anarchist*innen und Antifaschist*innen zu «beweisen». Auch die Antifaschisten im «Tjumen»-Fall unterschrieben durch Folter erwirkte Geständnisse, wonach sie Mitglieder der «terroristischen Vereinigung ‹Awangard Narodnoi Woli›» (Vorhut des Volkswillens) gewesen seien, die den Krieg in der Ukraine ablehnte und vorgehabt habe, Militäreinrichtungen, Polizeistationen und Bahnanlagen anzugreifen. Verwandte der Angeklagten starteten eine Kampagne. Aufgrund des anhaltenden Krieges erhielt der «Tjumen»-Fall keine derartige Aufmerksamkeit wie zuvor der «Netzwerk»-Fall. Allen Angeklagten im «Tjumen»-Fall drohen 15 bis 30 Jahre Haft, wobei der 29-jährige Nikita Oleinik als vorgeblicher Rädelsführer sogar eine lebenslängliche Haftstrafe bekommen könnte.

Unterdrückung, Spitzel und leere Symbolik

Der Rückgang der Standards bei den Strafverfolgungsbehörden sowie die abnehmende Rigorosität bei der Beweisaufnahme hatten zur Folge, dass Staatsanwaltschaften immer stärker von Informant*innen abhängig sind, was den juristischen Prozess insgesamt unterminiert. Folglich beruhen viele politische Verfahren auf Aussagen sogenannter «geheimer Zeug*innen» oder von Polizeispitzeln, die als agents provocateurs dienen. Gegen den Einsatz anonymer Zeug*innen, deren Identität unter dem Vorwand ihrer Sicherheit geheim gehalten wird, gibt es ernste ethische und rechtliche Bedenken. Schließlich verhindert diese Einstufung ihre angemessene Befragung durch Anwält*innen und die Prüfung der Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen. Damit unterminieren diese Praktiken nicht nur die Rechte der Angeklagten, sondern fügen auch der Integrität juristischer Verfahren grundlegenden Schaden zu.

Die Schwächung der Rechtsinstitutionen ist zu einem wichtigen Instrument der Unterdrückung politischen Dissenses geworden, da sie es dem Staat ermöglicht, auf Grundlage unzuverlässiger und nicht überprüfbarer Quellen falsche Anschuldigungen zu erheben. Gleichzeitig bestärkt diese Entwicklung ein Klima der Angst in der Bevölkerung und wirkt einem bürgerschaftlichen Engagement entgegen, da mögliche Akteur*innen befürchten müssen, dass ihre Taten als Beweise in politisch motivierten Prozessen gegen sie gewendet werden.

Das Verfahren gegen Mitglieder einer marxistischen Gruppe in Ufa beruht beispielsweise auf den Aussagen eines Mannes, der den Angaben der Verteidiger*innen zufolge ein agent provocateur ist. Sergei Saposchnikow, ein Busfahrer aus der Ukraine, kämpfte aufseiten der Volksrepublik Donezk und wurde 2017 auf Verlangen ukrainischer Behörden, die ihm Raubüberfälle und Autodiebstähle zur Last legten, in Russland verhaftet. Wie durch ein Wunder entkam er einer Verurteilung. Aktivist*innen sind davon überzeugt, dass er seine Freiheit wiedererlangte im Gegenzug für das Versprechen, als Spitzel zu arbeiten. Im Jahr 2019 trat er der marxistischen Gruppe bei und setzte alles dran, ihre Mitglieder davon zu überzeugen, Kampftrainings zu machen und militärische Ausrüstung zu besorgen. Dann informierte er den FSB, dass die Mitglieder der Gruppe «auf einen Moment der Instabilität warteten, um die Macht zu ergreifen und Polizisten sowie Politiker zu ermorden».

Indem die Gefängnisleitungen darauf aufmerksam gemacht werden, dass die politischen Gefangenen unter genauer Beobachtung von außen stehen, können deren Lebensbedingungen erheblich verbessert und Gewaltanwendungen womöglich verhindert werden.

Am 25. März 2022 eröffneten die Strafverfolgungsbehörden ein Verfahren gegen die Gruppe wegen des Versuchs, «die verfassungsmäßigen Grundfeste Russlands gewaltsam zu ändern». Fünf Mitgliedern drohen bis zu zwanzig Jahre Haft, dem vorgeblichen Anführer eine lebenslange Freiheitsstrafe. Die Ermittler*innen stuften den Marxismus-Leninismus als extremistische Ideologie ein und interpretierten den Aufruf der Mitglieder zur Gründung einer Arbeitergewerkschaft, um ihre Rechte zu schützen und die kapitalistische «Sklaverei» zu überwinden, als «Aufstachelung zur gewaltsamen Änderung der verfassungsmäßigen Ordnung der Russischen Föderation durch eine bewaffnete Machtergreifung».

Obgleich die Putin-Regierung die Sowjetära glorifiziert, werden paradoxerweise jene, die das Erbe dieser Zeit ernst nehmen, oft kriminalisiert. Diese Zwiespältigkeit illustriert den Ansatz des bürgerlichen Staates in Russland: die UdSSR als Symbol der Stärke hochzuhalten, gleichzeitig jedoch alle Ideologien zu unterdrücken, die ihr revolutionäres Erbe tatsächlich aufgreifen.

Widerstand gegen die Repression

Ungeachtet der internationalen Aufmerksamkeit für die Fälle Kagarlizki und Miftachow weigerten sich die Behörden, die beiden Männer freizulassen, da sie damit stillschweigend anerkannt hätten, dass ihnen keine Gerechtigkeit widerfahren war. Dennoch ist es von essenzieller Bedeutung, politische Gefangene weiter zu unterstützen und öffentliche Kampagnen zu organisieren, um Schikanen und Übergriffen im Strafvollzug entgegenzuwirken. Indem die Gefängnisleitungen darauf aufmerksam gemacht werden, dass die politischen Gefangenen unter genauer Beobachtung von außen stehen, können deren Lebensbedingungen erheblich verbessert und Gewaltanwendungen womöglich verhindert werden. Es muss allerdings an dieser Stelle ergänzt werden, dass im Fall von Alexei Nawalny selbst eine große Aufmerksamkeit nicht ausreichte, um sein Leben zu retten.

Trotz aller Verzweiflung, die sich in der russischen Linken breitmacht, gibt es dennoch manche, die versuchen, sich Putins Kriegsmaschinerie in den Weg zu stellen, so etwa der 18-jährige Antifaschist Juri Micheew. Er wurde am 10. November 2023 auf dem Gelände eines Militärstützpunkts in der Region Moskau festgenommen. Die Behörden werfen dem jungen Mann vor, einen Brandanschlag auf militärische Ausrüstung geplant zu haben. Jetzt drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft, doch er hat nicht einmal genügend Geld für eine anwaltliche Unterstützung.

Zahlreiche aufrichtige junge Leute, wie die 18-jährige Kommunistin Darja Kosyrewa, landeten einfach nur deswegen im Gefängnis, weil sie sich öffentlich gegen den Krieg aussprachen. Am 24. Februar 2024, dem zweiten Jahrestag der Invasion, legte Kosyrewa Blumen am Denkmal für den ukrainischen Künstler Taras Schewtschenko nieder und heftete am Sockel ein Plakat an mit einem Auszug aus dessen Gedicht «Vermächtnis». Daraufhin wurde sie verhaftet. Die Verse lauten:

«Ja, begrabt mich und erhebt euch,
Und zersprenget eure Ketten,
Und mit schlimmem Feindesblute

Möge sich die Freiheit röten!»

Übersetzung von Sebastian Landsberger & André Hansen für Gegensatz Translation Collective