Vielerorts in Lateinamerika lauschen Gläubige den eindringlichen Worten evangelikaler Pastoren, die Individualismus, konservative Werte und eine wörtliche Auslegung der Bibel predigen. Bei Wahlen machen sehr viele von ihnen ihr Kreuz bei extrem rechten Parteien. Andere, weniger religiöse Anhänger*innen der Rechten begründen ihre politische Entscheidung mit dem Gefühl, dass früher alles besser gewesen sei. Und die Radikalen zeigen ungeniert faschistische Tendenzen, etwa indem sie argumentieren, die Gleichberechtigung von Indigenen, Schwarzen oder Homosexuellen führe zu einer Zersetzung der althergebrachten Gesellschaft.
Andreas Behn leitet das Regionalbüro Brasilien/Paraguay der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.
Fest steht: Der Rechtsextremismus hat inzwischen in allen Ländern des Subkontinents, trotz regionaler Unterschiede, eine breite soziale Basis erworben; in manchen Ländern konnte er gar die Regierung übernehmen. In den Analysen wird jedoch oft übersehen, dass der zeitgenössische Aufstieg der Rechten auch Wurzeln in der kolonialen Vergangenheit hat.
Die Kolonialzeit
Der Kolonialismus hat den globalen Süden wie auch die Zustände in den dominanten Staaten des Nordens nachhaltig geprägt. Europäische Kolonisatoren unterwarfen das heutige Lateinamerika vor gut 500 Jahren einer systematischen wirtschaftlichen Ausbeutung, die mit extremer Gewalt, Massakern an der indigenen Bevölkerung und der Etablierung rassistischer Gesellschaftsstrukturen einherging. In Brasilien und anderen Regionen an der Atlantikküste kam der millionenfache Einsatz versklavter Menschen aus Afrika, insbesondere in der Landwirtschaft, und die grenzenlose Ausbeutung ihrer Arbeitskraft hinzu.
Bekanntlich endete die Kolonialzeit auf dem lateinamerikanischen Festland zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit den erfolgreichen Unabhängigkeitskriegen; lediglich einige kleinere Ländern erlangten ihre Unabhängigkeit erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Für die Mehrheit der Bevölkerung war das Ende der Kolonialzeit jedoch eher von Kontinuität als von Aufbruch geprägt. Denn zum einen veränderten die neuen Herrscher die kolonialen Machtstrukturen nicht wirklich, was nicht zuletzt daran lag, dass sie – wirtschaftlich betrachtet – auch die alten Herrscher waren. Ökonomische Ausbeutung, Extraktivismus und die Vorherrschaft von Eliten, die weder an demokratischen Institutionen noch an sozialem Ausgleich interessiert waren, blieben an der Tagesordnung.
«Die Schwierigkeiten der Demokratie in Lateinamerika hängen eng mit dem kolonialen Erbe zusammen», argumentiert der peruanische Soziologe Nicolás Lynch Gamero. Er benennt die «Aufrechterhaltung der ökonomischen und sozialen Strukturen» aus der Kolonialzeit sowie die politischen Machtapparate, die es ermöglichten, die «indigenen Mehrheiten und auch Mehrheiten anderer Ethnien weiterhin auszugrenzen und auszubeuten». Gamero stellt – wie bereits Jahrzehnte vor ihm der bekannte marxistische Schriftsteller José Carlos Mariátegui – wirtschaftliche Ausbeutung, schwache demokratische Institutionen und rassistische Strukturen ins Zentrum des kolonialen Erbes – allesamt Aspekte, die als Nährboden für den derzeitigen Aufschwung rechtsextremer Einstellungen und Parteien gelten.
Auch auf der Diskursebene finden sich Aspekte der kolonialen Ideologie später wieder, bei den Faschisten der 1920er Jahre ebenso wie unter heutigen Rechtsextremen. So spricht der deutsche Historiker Jürgen Osterhammel in seiner Kolonialismus-Definition von einer «kulturell andersartigen und kaum anpassungswilligen Minderheit von Kolonialherren» und von «sendungsideologischen Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen». Solche Überlegenheitsfantasien äußerte Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro (2019 - 2022) regelmäßig in abfälligen Bemerkungen über «rückständige Indios» oder «fettleibige, arbeitsunwillige» Schwarze Menschen. Diese rassistischen Äußerungen treffen in Teilen der weißen Bevölkerung, also bei den Nachfahren der europäischen Kolonisatoren und Siedler, auf Zustimmung.
Eine Kombination von Schwert und Kreuz
Ein weiteres Element rechtsextremer Ideologie, dessen Wurzeln im Lateinamerika der Kolonialzeit liegen, ist Homophobie. Sie ist Bestandteil der oft gewalttätigen Ausgrenzung Anderer und bestärkt die Konstruktion konservativer Moralvorstellungen, die auf einem homogenen Begriff von Familie fußen. Der brasilianische Anthropologe und LGBTQ-Aktivist Luiz Mott hat nachgewiesen, dass die Verfolgung nichtbinärer Sexualbeziehungen erst mit den Kolonisatoren und deren missionarischer Religion an Land kam. «Die koloniale Ideologie implizierte Eroberung und führte zu einem Macho-Verhalten, das im spanischen und portugiesischen Amerika noch brutaler war als auf der Iberischen Halbinsel zur Zeit der Entdeckungen. Homophobie ist ein Ergebnis von Machismo und Sklaverei.»
Mott sieht hier einen unmittelbaren Zusammenhang mit der heutigen Kultur der Hassrede und zitiert Bolsonaro, der gesagt hat: «Mir wäre lieber, mein Sohn wäre tot, als dass er schwul wäre.» Dieser Satz sei seit Jahrhunderten in ganz Brasilien zu hören; aber nicht einmal die Heilige Inquisition habe in Brasilien Homosexuelle zum Tode verurteilt, erklärt Mott in einem Beitrag für die Online-Redaktion des Goethe-Instituts. Heute hingegen seien Morde an Menschen, die ihre Sexualität nicht verstecken, keine Seltenheit mehr.
In Lateinamerika, das weitgehend von den zutiefst katholisch geprägten Ländern Spanien und Portugal kolonisiert wurde, waren die Eroberung und Ermordung großer Teile der indigenen Bevölkerung eine Kombination von Schwert und Kreuz. Oft wurde die Gewalt mit der Notwendigkeit der religiösen Missionierung begründet. Gezielt wurden vorgefundene Religionen und Riten sowie deren Bauwerke zerstört. Die Glaubensauslegung diente dazu, Indigene als Untermenschen und Schwarze Versklavte als entmenschlichte Arbeitstiere zu behandeln. Trotz allen Leidens ist der Subkontinent bis heute katholisch geprägt, auch wenn in einigen Staaten wie Guatemala oder Brasilien die evangelikalen Pfingstkirchen immer mehr Einfluss gewinnen.
Letztere sind es auch, die ihre fundamentalistischen Moralvorstellungen zu einem politischen Programm umbauen und gezielt mit parlamentarischen Strategien daran arbeiten, ihre Visionen durchzusetzen. Damit sind sie einerseits zu einem wichtigen Koalitionspartner der extremen Rechten geworden. Andererseits verrichten die Evangelikalen in ihren Gemeinden oftmals erfolgreiche Basisarbeit, wodurch es ihnen gelingt, insbesondere verarmte und sozial benachteiligte Menschen an ein politisch strikt konservatives Umfeld zu binden. Spürbar war dies bei den jüngsten Wahlen in mehreren Ländern, bei denen sich Teile der einst mehrheitlich linken Wähler*innen der Armenviertel rechtsextremen Parteien zuwandten. Dass viele sich von der evangelikalen Theologie der «Prosperität» angezogen fühlen, die neben einem Alkoholverbot vor allem eine individuelle Unternehmerlogik propagiert, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Pastoren stets auch Ausgrenzung und Vorurteile predigen, wenn es um andere Religionen geht. Ihre rassistischen Diskurse führen beispielsweise in Brasilien zu gewalttätigen Übergriffen auf Anhänger*innen und Einrichtungen von afrobrasilianischen Religionen und stellen eine eigene Form der Kontinuität der kolonialen Missionierungstradition dar.
In Krisenzeiten erfahren viele Kirchen – ähnlich wie rechtsextreme Heilsversprechen oder Verschwörungserzählungen – besonderes viel Zulauf. Dabei bedienen sie sich der eingängigen Mär des «Früher war alles besser». Donald Trumps erfolgreicher Slogan «Make America Great Again» bietet dafür ein eindringliches Beispiel. Früher, so wird suggeriert, habe es keine Korruption und weniger Kriminalität gegeben, die Welt sei noch in Ordnung gewesen. Bei den Bolsonaristas in Brasilien, bei José Antonio Kast in Chile und beim neuen Shootingstar des lateinamerikanischen Rechtsextremismus, dem argentinischen Präsidenten Javier Milei, geht dies mit einer Glorifizierung der brutalen Militärdiktaturen der 1970er und 1980er Jahre einher. Militarismus, der Primat einer bestimmten «Ordnung» und das Recht auf individuellen Waffenbesitz sind Teil dieser Ideologie, die sich positiv auf Nationalismus und soldatische «Helden» in der eigenen Geschichte bezieht. Soziale oder demokratische Missstände existierten in dieser Vorstellung von Kontinuität schlicht nicht, denn «jeder ist seines Glückes Schmied».
Alter und neuer Faschismus
Passend dazu leugnet Spaniens extrem rechte Partei Vox die blutrünstige Kolonisierung Lateinamerikas inzwischen vollständig. In ihrem Wahlprogramm von 2023 ist die Rede vom kolonialen «Beitrag zu Zivilisation und Weltgeschichte» und davon, dass die spanische Monarchie die «präkolumbianischen Völker von Sklaverei und Kannibalismus befreit» habe. Schlussendlich bedeutet diese hanebüchene Geschichtsverdrehung, dass sich Teile des heutigen Rechtsextremismus mit den Verbrechen der europäischen Kolonisatoren identifizieren.
Der brasilianische Historiker Miguel Enrique Stedile erkennt viele Ähnlichkeiten zwischen altem und neuem Faschismus. «Beide werden angetrieben von einem Kult der Aktion und einer Ablehnung des Verstands – was der Negation des Denkens oder des Reflektierens gleichkommt», schreibt er. Damit dies niemandem auffalle, müssten simple, widerspruchsfreie Identitäten konstruiert werden. Oft seien dies Nationen oder Völker – und dazu passend Feindbilder derjenigen, die nicht dazugehören sollen.
Laut Stedile hat der Bolsonarismo in Brasilien die neue Identität des «Gutbürgers» (cidadão de bem) konstruiert, die in der Region als Blaupause dient: «der ‹Gutbürger›, der Steuern zahlt, doch vom Staat keine Gegenleistung bekommt; der arbeitet, während die ‹Parasiten› vom gleichen Staat aufgepäppelt werden; und der deswegen das Recht hat, seine Ideen und sein Eigentum auch bewaffnet zu verteidigen.» Dementsprechend habe die heutige extreme Rechte auch die militaristischen Diskurse geerbt, die sich in die altbekannten Werkzeuge verwandeln können: bewaffnete Milizen, Ablehnung der als elitär diffamierten Kultur, angeblicher Kampf gegen Korruption und strikter Antikommunismus.
Dies zeigt: Die Tradition des Kolonialismus lastet wie ein Alb auf dem Gehirne der Lebenden. Eine Bekämpfung des aktuellen Rechtsextremismus in Lateinamerika muss sich folglich, will sie erfolgreich sein, auch den kolonialen Wurzeln der Gesellschaften stellen.
Dieser Text erschien zuerst in «nd.aktuell» im Rahmen einer Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.