Analyse | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Rosalux International - UK / Irland Großbritannien: Das Schatzamt Seiner Majestät

Labour-Regierung rückt von fiskalischen Instrumenten der Sozialdemokratie ab

Information

Der britische Premierminister Keir Starmer und Schatzkanzlerin Rachel Reeves (Mitte) bei einem Gespräch in der Downing Street 10  mit dem CEO von BlackRock, Larry Fink, und Mitgliedern des Vorstands von BlackRock am 21. November 2024.
«Der einzige Weg zu wirtschaftlichem Wachstum heißt investieren, investieren und nochmals investieren» (Rachel Reeves)
Der Haushaltsplan der neuen Labour-Regierung bleibt jedoch dem Geist der Austerität verhaftet. Der britische Premierminister Keir Starmer und Schatzkanzlerin Rachel Reeves (Mitte) bei einem Gespräch in der Downing Street 10  mit dem CEO von BlackRock, Larry Fink, und Mitgliedern des Vorstands von BlackRock am 21. November 2024., Foto: icture alliance / via REUTERS | Frank Augstein

In Großbritannien ist die Geschichte der Bereitstellung öffentlicher Versorgungsleistungen zugleich eine Geschichte der Austerität. Von den ersten Experimenten mit «öffentlichen Arbeitshäusern» in den 1530er Jahren bis zum heutigen Ministerium für Arbeit und Rente – stets waren es soziale und ökonomische Krisen, die den Staat dazu zwangen, sich in die Versorgung von Bedürftigen einzuschalten. Diese Daseinsfürsorge sah sich jedoch immer wieder durch fehlende Haushaltsmittel beschränkt. Die Konsequenzen waren oftmals verheerend, ob es sich dabei um die Insass*innen des legendären Arbeitshauses von Andover handelt, die sich vor Hunger um Tierknochen prügelten, oder um Todesfälle behinderter Menschen im aktuellen Sozialhilfesystem.

Matteo Tiratelli lehrt Soziologie am University College London, Ali Helwith kooperiert mit «Sidecar», dem Blog der «New Left Review».

Gleichwohl gelang es der Austeritätspolitik in ihrer langen Geschichte nie, einmal entstandene Ansprüche wieder dauerhaft zurückzudrängen. Stattdessen entwickelten sich über die Jahrhunderte immer höhere Erwartungen an den Staat, wobei die Ausübung des «Gewaltmonopols» heute nur noch eine seiner Nebenaufgaben darstellt. Die britische Regierung steckt zwar nach wie vor jährlich 55 Milliarden Pfund in den Verteidigungsetat (1 britisches Pfund entspricht derzeit 1,20 Euro) und verwendet weitere 44 Milliarden Pfund für «Sicherheit» (Polizei, Gefängnisse, Gerichte, Abschiebezentren usw.). Doch diese Zahlen verblassen angesichts der Aufwendung von 320 Milliarden Pfund für Soziales, 210 Milliarden für Gesundheit sowie 105 Milliarden für Bildung. Die Realität des Staates entspricht der rechtslibertären Phantasie eines zurückhaltenden Nachtwächterstaats ebenso wenig wie dem linken Traum von einem sozialdemokratischen Leviathan.

Dem Geist der Austerität verhaftet

Dieses Spannungsverhältnis durchzieht auch den am 30. Oktober 2024 bekanntgegebenen Haushaltsplan der neuen Labour-Regierung. Zwar enthält dieser die umfangreichsten Maßnahmen zur Erhöhung der Staatseinnahmen seit 30 Jahren; dennoch wird er der tiefen sozialen Krise des Landes nicht gerecht. Als Schatzkanzlerin Rachel Reeves das Dokument Ende Oktober vorstellte, betonte sie nachdrücklich, «der einzige Weg zu wirtschaftlichem Wachstum heißt investieren, investieren und nochmals investieren». Die Regierung werde neue Haushaltsmittel für Infrastrukturprojekte und öffentliche Dienste bereitstellen, die nach 14 Jahren Vernachlässigung durch verschiedene Tory-Regierungen «aus dem letzten Loch pfeifen», 40 Milliarden Pfund zusätzlich aus Steuern generieren und haushaltspolitische Vorschriften anpassen, um eine höhere Schuldenaufnahme der öffentlichen Hand zuzulassen.

Abgesehen von diesen aufsehenerregenden Maßnahmen bleibt Reeves' Plan jedoch eindeutig dem Geist der Austerität verhaftet. Die jährliche Anhebung der Gesundheitsausgaben um 3,6 Prozent liegt, trotz alternder Bevölkerung und Rekordwartezeiten im britischen Gesundheitssystem, niedriger als alle Vergleichszahlen der New-Labour-Ära von 1997 bis 2010. Die in diesem Bereich für Investitionen vorgesehenen 3,1 Milliarden Pfund stehen einem Bedarf in Höhe von 13,8 Milliarden gegenüber, der sich über die Jahre angestaut hat. Auch im Erziehungswesen bleiben die angekündigten 2,2 Milliarden für Investitionen in den Gebäudebestand weit hinter dem realen Reparaturbedarf von 11 Milliarden Pfund zurück. In den Bereichen Verkehr, Wohnungsbau und Justiz bleibt das Budget de facto unverändert, während das Ministerium für Kultur, Medien und Sport sowie das Cabinet Office weiteren Kürzungen ausgesetzt sind.

Obendrein sind «regelmäßig wiederkehrende» Ausgaben von Reeves' Richtlinienänderung ausgenommen. Der Ökonom Sahil Dutta wies darauf hin, dass durch diese Entscheidung nicht nur die Mittel für Gesundheit und Bildung, sondern auch für die beiden akut krisengeschüttelten Bereiche der Kinderbetreuung und der Sozialarbeit gedeckelt werden. Wo der Staat freigiebiger ist, werden zusätzliche Mittel wahrscheinlich darauf verwandt werden, weitere private Investitionen anzulocken: eine Einladung an skrupellose Vermögensverwaltungen, sich noch größere Teile des öffentlichen Wohlstands anzueignen, etwa in den Bereichen des Wohnungsbaus, der Versorgungswirtschaft oder der erneuerbaren Energieinfrastruktur. Während solche «Public-Private-Partnerships» die Macht der Investorenklasse ausweiten und soziale Ungleichheit zementieren dürften, werden die zusätzlichen Steuereinnahmen in Höhe von 40 Milliarden Pfund gerade einmal dazu ausreichen, die Bereitstellung öffentlicher Versorgungsleistungen auf ihrem derzeit unterirdischen Niveau zu stabilisieren. Laut einer Vorhersage des Office for Budget Responsibility, dem Amt für Wirtschaftsprognosen und die Kontrolle der Haushaltsdisziplin, wird die Staatsquote (der Anteil öffentlicher Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt) unter der neuen Regierung niedriger ausfallen als im Zeitraum vor 2010.

Die Macht des Schatzamts

Wer den Haushalt verstehen will, muss sich mit der Institution befassen, die ihn erstellt hat. Das britische Finanz- und Wirtschaftsministerium, bekannt als His Majesty’s Treasury oder Schatzamt Seiner Majestät, ist die mächtigste Behörde in einer der am stärksten zentralisierten Bürokratien der westlichen Welt. In seiner Doppelfunktion als Geldgeber und Rechnungshof der Regierung beschützt das Schatzamt dem eigenen Selbstverständnis nach das «Geld des Steuerzahlers» und fungiert als Gegengewicht zu idealistischen Politiker*innen und nach eigenem Gutdünken handelnden Verwaltungsangestellten; gleichzeitig begreift es sich als Wachstumsmotor der Wirtschaft.

Während die gewöhnlichen Haushaltspläne sich mit Steuern und Einnahmen befassen, stellen die alle drei bis fünf Jahre stattfindenden umfassenden Haushaltsanalysen (Spending Reviews) das entscheidende Verfahren für die Mittelzuteilung an verschiedene staatliche Stellen dar, bei dem alle geplanten Regierungsausgaben dargelegt werden. Das Schatzamt initiiert diesen weitläufigen, verworrenen Prozess durch die Festlegung von Zielvorgaben und messbaren Evaluationskriterien für die einzelnen Ministerien und beschließt ihn mit der endgültigen Allokation der Regierungsmittel. Die Politik nimmt zwar insofern auf das Verfahren Einfluss, als dass Regierungsbeschlüsse für die Zielvorgaben des Schatzamtes bindend sind – im Prozess selbst ist für das Parlament indes lediglich eine Zuschauerrolle vorgesehen. Der Hansard Society zufolge gehört das britische Modell «im Vergleich mit anderen Industriestaaten zu den Systemen mit der geringsten parlamentarischen Kontrolle der und Einflussnahme auf die öffentlichen Ausgaben».

Das Schatzamt bestimmt jedoch nicht nur über die Mittelzuteilung, sondern übt auch mächtigen ideologischen Einfluss auf andere staatliche Bereiche aus. Seit Thatchers Politisierung des öffentlichen Dienstes in den 1980er Jahren hat das Schatzamt mit seiner gebetsmühlenartigen Betonung von «Effizienz und Rechenschaftsplicht» im gesamten Staatsgefüge eine Kultur von Kennzahlen und «Performance-Indikatoren» etabliert. Mittlerweile stellt eine kurze Dienstzeit im Schatzamt eine obligatorische Station im Lebenslauf karriereorientierter Staatsdiener*innen sämtlicher Ressorts dar. So wird sichergestellt, dass auch das zukünftige Führungspersonal mit dem Katechismus der orthodoxen Fiskalpolitik wohlvertraut ist. Und wird einmal eine festere Hand benötigt – wie etwa während des Sparkurses der 2010er Jahre –, so werden Mitarbeiter*innen des Schatzamtes direkt in andere Ministerien abgeordnet.

Das Schatzamt verschafft seiner Autorität darüber hinaus Geltung, indem es die Umsetzung von Regierungsvorhaben kontrolliert. Dies geschieht teilweise auf ordentlichem Wege: Vermittels des Office for Value for Money, einer kürzlich ins Leben gerufenen Behörde, wird das Schatzamt staatliche Vorhaben künftig auf etwaige «Verschwendung» und «Ineffizienz» hin überprüfen und umfassend umstrukturieren können.

Teilweise macht sich der Einfluss des Ministeriums aber auch eher indirekt geltend: Im Zuge der Schulschließungen während der Covid-19-Pandemie beispielsweise drängte das Schatzamt auf die Vergabe lukrativer Aufträge an private Bildungsdienstleister, obwohl eindeutige Anzeichen vorlagen, dass sich die Lage unterprivilegierter Schüler*innen dadurch kaum verbessern würde. Tatsächlich spricht sich das Schatzamt in fast allen Situationen für das Outsourcing von Dienstleistungen aus, weshalb das «öffentliche Auftragswesen» insgesamt mittlerweile den größten öffentlichen Ausgabeposten darstellt. Die Realität sieht oftmals so aus, dass Aufträge an Unternehmen vergeben werden, die sich beinahe ausschließlich auf den Gewinn öffentlicher Ausschreibungen spezialisiert haben und die Aufträge anschließend gewinnbringend an Subunternehmen weitergeben, die sie wiederum gegen eine Provision an das nächste Glied in der Vergabekette weiterreichen – wodurch die Gesamtkosten massiv aufgeblasen werden.

Das Schatzamt bevorzugt außerdem kurzfristige Haushaltsziele, die sich leicht bis auf den Penny genau darstellen lassen – eine Präferenz, die maßgeblich beeinflusst, für welche Vorhaben in den Ministerien Mittel aufgewandt werden. So ist es beispielsweise im Bildungswesen so, dass jährliche Zuwendungen an Schulen leicht prognostiziert und angepasst werden können, wobei alle Ausgaben ab einer bestimmten Schwelle an entsprechende Bedingungen geknüpft werden. Größere Investitionen in Schulgebäude und Sportanlagen gelten hingegen als riskanter, da der Nutzen schwerer zu quantifizieren ist und sich oftmals erst zu einem Zeitpunkt einstellen wird, der von der jeweiligen Haushaltsanalyse nicht mehr abgedeckt wird (oder der nach dem Ablauf der Amtsperiode des zuständigen Finanzministers liegt). Dies erklärt, warum bestimmte Ziele den Vorzug vor anderen erhalten, und damit auch, warum sich britische Schulen in einem derart maroden Zustand befinden.

Für die Weitergabe der Sparideologie spielt die soziale Zusammensetzung des Ministeriums eine wichtige Rolle. Zunächst einmal waren bis heute ausnahmslos alle leitenden Staatssekretäre des Amtes weiße Männer; im Zeitraum vom Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart waren diese Beamten zur einen Hälfte Privatschulabsolventen, während beinahe die gesamte andere Hälfte eine der wenigen exklusiven öffentlichen Grammar Schools besucht hat. Etwa 70 Prozent der leitenden Staatssekretäre haben außerdem Abschlüsse aus Oxford oder Cambridge: Dieses Maß an demographischer Einförmigkeit sticht selbst in einer Beamtenschaft heraus, die nicht dafür bekannt ist, die britische Gesellschaft repräsentativ abzubilden. Weiterhin zeichnet sich diese Einrichtung durch beachtliche intellektuelle Stromlinienförmigkeit aus: Mit einer Ausnahme haben alle Staatssekretäre seit den 1980er Jahren ihren ersten Studienabschluss in den Wirtschaftswissenschaften gemacht und blicken mit überwiegender Mehrheit auf lange interne Laufbahnen zurück. Diese «Treasury Men» hegen ganz besondere Ansichten über das Verhältnis von Staat und Markt, die sich ganz auf traditionelle liberale Glaubenssätze stützen.

Eine Abfolge aus Mittelaufstockungen und -kürzungen

Trotz seines Fiskalkonservatismus konnte das Schatzamt sich nur schwer jenen Kräften widersetzen, die in die entgegengesetzte Richtung drängten. Im Laufe des letzten Jahrhunderts haben die öffentlichen Ausgaben im Bildungswesen enorm zugenommen. Einerseits ging es dabei darum, die qualifizierten Arbeitskräfte von morgen heranzuziehen; andererseits reagierte man damit jedoch auch auf Forderungen der Arbeiter*innen nach besseren Chancen für ihre Kinder. Folgen waren ein höheres Schulaustrittsalter und die Hochschulexpansion. Aufgrund der Sparlogik hielt die Bildungsfinanzierung jedoch mit diesen Prozessen nicht Schritt. Tatsächlich entwickelten sich die öffentlichen Bildungsausgaben pro Schüler*in annähernd zyklisch: Sie nahmen in den 1980er Jahren ab und in den 2000er Jahren zu, nur um nach 2010 erneut zu sinken und seit fünf Jahren wieder deutlich anzusteigen.

Eine ähnliche Abfolge aus Mittelaufstockungen und -kürzungen lässt sich im Bereich der öffentlichen Sozialfürsorge erkennen. Das Ministerium für Arbeit und Rente orientiert seine Leistungen an der Nachfrage, sodass die Budgets vorab nicht definitiv, sondern provisorisch anhand von behördeneigenen Bedarfsschätzungen festgelegt werden. In gewissem Sinne eröffnet dies politische Gestaltungsspielräume. Eine Regierung kann die Leistungsansprüche neu festlegen und ihre Entscheidung binnen Monaten umsetzen (so etwa als Premierminister Keir Starmer auf Druck des Schatzamts hin die winterlichen Heizkostenzuschüsse strich). Doch auf lange Sicht hängen die öffentlichen Sozialausgaben – Unterstützungsleistungen sowie Ausgaben im Gesundheits- und Fürsorgewesen – entscheidend von strukturellen und demographischen Faktoren ab. Inzwischen fließt etwa die Hälfte des Etats des Ministeriums für Arbeit und Rente an Rentner*innen, auf die in einer alternden Gesellschaft auch zukünftig ein großer Teil entfallen wird. Die Arbeitslosenunterstützung schlägt mit einem knappen Drittel des Sozialhaushalts zu Buche: Diese Zahl steigt und fällt mit den zyklischen Auf- und Abschwüngen der Konjunktur. Erwerbsunfähigkeitsleistungen machen den zweitgrößten Posten aus, der sich – nach einem steilen Anstieg über die letzten 40 Jahre – mittlerweile auf elf Prozent des Sozialhaushalts beläuft. Damit haben diese Ausgaben längst die Kinderzulagen hinter sich gelassen, die inzwischen nur noch vier Prozent des Sozialhaushalts ausmachen. Auch wenn politische Richtungsentscheidungen wichtig sind, spiegeln sich in diesen öffentlichen Ausgaben letztlich die objektiven Anforderungen einer alternden und kränkelnden Bevölkerung wider.

Die Tory-Regierungen der 2010er Jahre versuchten den Widerspruch zwischen steigendem Versorgungsbedarf und fiskalischer Sparpolitik zuzuspitzen. Da beide Seiten letztlich nicht zu versöhnen seien, müsse der Staat sich einiger sozialer Fürsorgepflichten entledigen und die entsprechenden Bereiche privaten Unternehmen und karitativen Initiativen überlassen. Mit dieser Haltung konnten sie sich bei der Arbeitslosenunterstützung weitgehend durchsetzen und kamen ihrem Ziel auch im Gesundheitswesen nah: Sie drehten dem staatlichen Gesundheitsdienst NHS den Geldhahn zu und spekulierten darauf, dass eine Privatisierung auf diesem Wege schließlich stillschweigend geduldet werden würde.

Angesichts des schwindenden Vertrauens in Qualität und Verfügbarkeit öffentlicher Dienstleistungen begeben sich Leute mit dem entsprechenden Geldbeutel auf die Suche nach Alternativen. Am deutlichsten wird dies im Gesundheitssektor, wo private Zusatzleistungen in den vergangenen drei Jahren einen Zuwachs von über zehn Prozent verzeichneten und sich mehr und mehr Menschen privat versichern. Der Einbruch im sozialen Wohnungsbau sowie die Ausweitung der privat finanzierten Altersvorsorge und Hochschulbildung weisen in eine ähnliche Richtung.

Doch es gibt auch gegenläufige Tendenzen. Auf kurze Sicht braucht Labour die Stimmen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die deutlich ihre Bereitschaft gezeigt haben, die öffentlichen Versorgungsleistungen in Arbeitskämpfen zu verteidigen. Vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft werden Rufe nach einer Neugestaltung des Gesundheitswesens, der Sozialfürsorge, der Altersversorgung und ähnlicher Bereiche lauter; und in einer zunehmend immateriellen Wirtschaft wächst der Bedarf nach Investitionen in die Bildung. Trotz wiederkehrender Angriffe auf die Lohnabhängigen haben sich demokratische Bemühungen um öffentliche Versorgungsleistungen bemerkenswerterweise nicht unterkriegen lassen.

Das Kapital in die Schranken weisen

Letztlich kann der Staat das Muster der gleichzeitigen Ausweitung und Kürzung öffentlicher Ausgaben nur durchbrechen, wenn er das Kapital künftig in viel größerem Maße seiner Kontrolle unterwirft. Gelingt ihm das nicht, wird er immer von den benötigten Geldmitteln abgeschnitten und den Finanzmärkten ausgeliefert bleiben. Die zentrale Herausforderung für die Linke des 21. Jahrhunderts lautet somit nicht nur, eine breite Bewegung für die öffentliche Daseinsvorsorge und den Sozialstaat aufzubauen, sondern vor allem, den Staat soweit zu ermächtigen, dass er das Kapital in die Schranken weisen und sich die notwendigen Ressourcen verschaffen kann.

Die Reaktionen auf den Haushaltsplan der Labour-Regierung veranschaulichen, wie steinig der Weg dahin sein wird. Die von Reeves angekündigten öffentlichen Investitionen können nur als moderat bezeichnet werden: Sie reichen hinten und vorne nicht aus, um das Wahlkampfversprechen einzulösen, «Großbritannien wiederaufzubauen». Statt das soziale Gefälle im Land zu beseitigen, werden sie es eher weiter verschärfen. Dennoch sahen sich Akteure auf den Anleihemärkten und Ratingagenturen durch sie veranlasst, in die Offensive zu gehen. Wenige Stunden nach Bekanntgabe des Haushaltsplans erreichten die Renditen auf britische Staatsanleihen ein Jahreshoch, was die Kreditkosten des Staates, dessen drittgrößter Ausgabenposten bereits heute der Schuldendienst ist, weiter in die Höhe trieb. Tags darauf unkte die Ratingagentur Moody’s, der Haushaltsplan bedeute eine «zusätzliche Herausforderung» für das alles überragende Ziel der Haushaltskonsolidierung. Noch am selben Wochenende versuchte Starmer in der Financial Times die Märkte zu besänftigen, indem er «harte Reformen» im öffentlichen Sektor und ein entschiedenes Vorgehen gegen «übertriebene Vorschriften» in Aussicht stellte.

Die Investorenklasse sieht in Großbritannien heute ein Land der mittleren Einkommensgruppe, das die Anspruchshaltung eines Hocheinkommenslandes an den Tag legt und lernen muss, nicht länger über seine Verhältnisse zu leben. Anstatt die Staatsmacht gegen diese Doktrin aufzubieten, hat die Labour-Regierung sich diese vollständig zu eigen gemacht. Ohne Rückgriff auf die bewährten Instrumente der Sozialdemokratie – eine umverteilende Steuerpolitik, öffentliches Eigentum und antizyklische Konjunkturprogramme – kann sie den Dauerkonflikt zwischen Versorgung und Austerität nicht auflösen. Auch wenn ihre Investitionspläne in den kommenden Jahren möglicherweise mit einem zarten Wirtschaftswachstum und geringfügigen Produktivitätssteigerungen belohnt werden, scheint eine Rückkehr zur Dynamik des keynesianischen Zeitalters nahezu ausgeschlossen, und die Finanzmärkte können gegen jede Haushaltsentscheidung trommeln, die vom Pfad der fiskalpolitischen Vorsicht abweicht. Der Staat ist somit auf Gedeih und Verderb den globalen Marktkräften ausgeliefert. Das Kapital setzt seine Herrschaft unangefochten fort – und das Schatzamt ist dabei sein willfähriger Diener.
 

Deutsche Erstveröffentlichung des Textes «Sinking Ship», der zuerst von der «New Left Review» publiziert wurde. Die Zwischenüberschriften wurden redaktionell eingefügt. Übersetzung aus dem Englischen von Maximilian Hauer und Sebastian Landsberger für Gegensatz Translation Collective.