Hintergrund | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Parteien / Wahlanalysen Wirtschaftswahlkampf: Bewährungsprobe für die Linke

Mit der «Wirtschaftswende» von CDU und FDP droht ein neoliberaler Roll-Back

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Samuel Decker,

Kampagne «SOS - Die deutsche Wirtschaft ist in Gefahr» der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, einer neoliberalen Lobbyorganisation. @insmberlin via threads

Wie in den USA nach dem Scheitern der «Bidenomics» droht auch hier die Rückkehr eines aggressiven Neoliberalismus, der durch Einsparungen beim Sozialstaat Steuersenkungen und Subventionen für Unternehmen finanziert. Der Ökonom Samuel Decker analysiert den erneuten marktradikalen Paradigmenwechsel und fragt nach den Möglichkeiten einer Wirtschaftswende von links. Im anstehenden Wahlkampf müssten alle verfügbaren Kräfte auf die wirtschaftspolitische Debatte gelenkt werden, um wenigstens das Schlimmste zu verhindern, so seine Schlussfolgerung.

Samuel Decker ist kritischer Ökonom und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Netzwerk Plurale Ökonomik e.V.

«SOS – die deutsche Wirtschaft ist in Gefahr»: mit dieser Kampagne läutete das neoliberale Institut Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) wenige Tage nach dem Ampel-Aus den Wirtschaftswahlkampf ein. Finanziert und unterstützt wird die Kampagne unter anderem vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall, dem Außenhandelsverband BGA, dem Einzelhandelsverband HDE, dem Baugewerbeverband ZDB sowie dem Zentralverband der Werbewirtschaft ZAW. Gefordert wird der «Erhalt der Schuldenbremse sowie Absenkungen von Steuern und Abgaben und zur Gegenfinanzierung Einsparungen beim Bürgergeld». Die Forderungen lesen sich offensichtlich identisch mit dem Wirtschaftswende-Papier von Christian Lindner, das Anfang November angeblich unfreiwillig das Licht der Öffentlichkeit erblickte und den von der FDP schon lange vorbereiteten Bruch der Ampel-Koalition eingeleitet hatte. In dem Papier werden unter anderem eine Senkung der Unternehmenssteuern auf 25 Prozent und Einsparungen beim Bürgergeld gefordert.

Der radikale Angriff auf den Koalitionsvertrag ist Vorbote einer größeren Verschiebung im wirtschaftspolitischen Diskurs. Denn die «Wirtschaftswende» ist kein Hirngespinst einiger marktradikaler Think-Tanks und einer aus der Zeit gefallenen Klientel-Partei. Sie ist Teil eines sich neuformierenden wirtschaftspolitischen Mainstreams. Die CDU/CSU-Fraktion brachte bereits im April 2024 den Antrag «Für eine echte Wirtschaftswende» in den Bundestag ein. Zentrale Forderungen auch hier: Die Senkung der Unternehmenssteuern auf 25 Prozent und Einsparungen beim Bürgergeld.

Mit den bestehenden Kräfteverhältnissen und der extrem komprimierten Wahlkampfzeit, die sich vor allem für weniger ressourcenstarke Akteure als fatal erweist, wird die Programmatik der «Wirtschaftswende», je nachdem wie stark CDU und FDP und wie schwach SPD, Grüne und Linke abschneiden werden, auch die kommende Bundesregierung stark beeinflussen. Damit könnte die erste Senkung von Unternehmenssteuern seit 16 Jahren ins Haus stehen. Während der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder ab 1998 wurden die Unternehmenssteuern brachial von knapp 60 auf 38 Prozent gesenkt, unter der großen Koalition sanken die Steuern weiter auf ihr heutiges Niveau von unter 30 Prozent. Eine konservative Reform der Schuldenbremse, die Investitionen in die Bundeswehr und Rüstungsindustrie sowie Infrastrukturausbau dort erlaubt, wo es Unternehmen nutzt, verträgt sich damit und ist in dem Sinne keine progressive Forderung. Sie würde die Senkung von Unternehmenssteuern und weitere Geschenke an das Kapital, die die Einnahmen des Staates schmälern würden, sogar erleichtern.

Millionen Haushalten geht es schlechter

Wenn wir etwas grundlegender einordnen wollen, welche wirtschaftspolitischen Verschiebungen und Auseinandersetzungen sich derzeit ereignen, lohnt es sich, zunächst einen Blick auf die USA zu werfen, in denen sich am Tag des Ampel-Kollaps mit der Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten eine historische Zäsur ereignete. Die Wiederwahl Trumps kann als Scheitern des «progressiven Staatsinterventionismus» interpretiert werden, der im Jahr 2020 mit der Build-Back-Better-Initiative der Biden-Administration in den USA seinen Anfang nahm und der auf die erste Präsidentschaft Trumps reagieren sollte. Die ambitionierte Build-Back-Better-Initiative, die auch umfangreiche soziale Umverteilung und Verbesserungen für die unteren sozialen Schichten vorsah, scheiterte bereits am Widerstand der Unternehmenslobby und der unter deren Einfluss stehenden Abgeordneten im US-Kongress.

«Bidenomics» wurde fortan an zu einer geopolitisch motivierten Subventionspolitik für bestimmte Industriezweige, die jedoch nicht die Interessen von «Arbeit» grundlegend über die von «Kapital» stellte und keine weitreichenden materiellen Verbesserungen für die Lohnabhängigen bewirkte. Lange vor dem Wahlkampf der Demokraten in den USA stellte der Ökonom James Galbraith in einem Artikel für The Nation fest, dass es Millionen von amerikanischen Haushalten heute ökonomisch schlechter gehe als vor der Biden-Administration. Die grundlegenden Lebenshaltungskosten wie Benzin, Versorgungsleistungen, Lebensmittel und Wohnraum, seien stärker gestiegen als die Einkommen. Anstatt sich, wie beispielsweise Paul Krugman in der New York Times, darüber zu wundern, weshalb sich viele Menschen trotz der positiven ökonomischen Entwicklung nicht dankbarer in ihrem Wahlverhalten zeigen, empfahl Galbraith damals, die Unzufriedenheit der Menschen ernst zu nehmen.

‹Deutschland wieder vom ökonomischen Schlusslicht zur Weltspitze holen›, was als deutsche Version des MAGA-Slogans gelten kann, wird zum Leitgedanken für eine Wirtschaftswende, die Unternehmen entlasten und Arbeitnehmer*innen disziplinieren soll.

Die umfassenden industriepolitischen Initiativen unter der Biden-Administration hatten keine durchschlagende Wirkung. Obwohl die Investitionen des Inflation Reduction Act (IRA) in grüne Technologien historisch beispiellos sind, scheinen sie nicht auszureichen, um eine schnelle Dekarbonisierung voranzutreiben und bleiben deutlich hinter dem Ziel einer 40-prozentigen Reduzierung der Treibhausgasemissionen bis 2030 zurück. Die Rendite privater Investitionen reicht weiterhin nicht aus, um die rapide Transformation des Energiesektors zu bewerkstelligen. Der IRA besteht im Wesentlichen aus Steuergeschenken für ausgewählte Sektoren und Unternehmen, die jedoch keine tiefgreifende und langfristige Veränderung der privaten Investitionsstrukturen zur Folge haben, und die obendrein nicht automatisch die Situation der Lohnabhängigen verbessern. Alles in allem zeigt sich, dass «Bidenomics» sich mit den grundlegenden Kräfteverhältnissen in den USA arrangiert hatte. In Ermangelung einer mächtigen Gewerkschaftsbewegung und linker Organisationen, die eine aggressivere Umverteilung oder eine ernsthafte Industriepolitik in Richtung einer öffentlichen Wirtschaftsplanung durchsetzen könnten, bewegten sich die Versuche der Biden-Regierung, die Wirtschaft zu lenken, innerhalb der immer engeren Grenzen dessen, was für das Kapital akzeptabel ist. Die Ökonomin Isabella Weber forderte daher nach Trumps Wahlsieg auch eine ernsthafte Debatte um «antifaschistische Wirtschaftspolitik», um auf die Unzulänglichkeit der Wirtschaftspolitik unter Biden hinzuweisen.[1]

Ein wenig Subventionspolitik: ja; soziale Umverteilung und öffentliche Investitionslenkung: nein – diese Position hat sich auch in Deutschland durchgesetzt. Hierzulande scheiterte der industriepolitische Paradigmenwechsel, der im Rahmen der Ampel-Koalition ohnehin von Anfang an zaghafter und ohne soziale Umverteilungskomponente an den Start ging, bereits am Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 15. November 2023, das die Sondervermögen der Bundesregierung für nichtig erklärte. Wichtige industriepolitische Vorhaben der Bundesregierung kamen damit zum Erliegen. Doch bereits mit dem Streit um die Kindergrundsicherung, die bis zuletzt nicht umgesetzt wurde, nahm etwas seinen Anfang, was Christoph Butterwegge als «sozialpolitische Zeitenwende» der Ampel-Koalition bezeichnete. Nachdem der Bürgergeldbonus nur wenige Monate nach seiner Einführung gestrichen wurde, wurden die Hartz IV-Sanktionen durch die Hintertür wieder ins Bürgergeld hinein verhandelt. Für Geflüchtete wurden umfassende Sozialkürzungen auf den Weg gebracht und Bezahlkarten eingeführt, was als Schritt in Richtung eines «autoritären Sozialstaats» (Claudius Vogt) begriffen werden kann.

Der rechte Vorstoß für eine «Wirtschaftswende» setzt am Scheitern des «Progressiven Staatsinterventionismus» an und geht noch einen Schritt weiter, indem sie anstatt einer Ausweitung von öffentlichen Subventions- und Förderprogrammen für Unternehmen oder sogar Privathaushalte eine Senkung von Unternehmenssteuern und Sozialtransfers ins Spiel bringt. Eine gewisse Form der öffentlichen Subventions- und Infrastrukturpolitik, die im Einklang mit Kapitalinteressen ist, wird auch in den USA unter Trump oder unter der neuen Bundesregierung in Deutschland nicht eingestampft werden. Doch es verändern sich die Vorzeichen bzw. das ökonomische Paradigma, in das diese Politik eingebettet ist. Anstatt einer Transformationspolitik, die ökologisch motiviert und sozial abgefedert werden soll und die Schnittmengen mit Unternehmen sucht, geht es um eine aggressive Standortpolitik im einseitigen Kapitalinteresse. Während die Care-Krise oder der Klimakollaps erkennbar voranschreiten, geraten ökologische und soziale Anliegen weiter in die Defensive. «Deutschland wieder vom ökonomischen Schlusslicht zur Weltspitze holen», was als deutsche Version des MAGA-Slogans gelten kann, wird zum Leitgedanken für eine Wirtschaftswende, die Unternehmen entlasten und Arbeitnehmer*innen disziplinieren soll. Eine konservative Reform der Schuldenbremse muss einem Wirtschaftsparadigma, das Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit vor ökologische und soziale Ziele stellt, nicht wiedersprechen. Eine Politik der «inneren Abwertung», die Subventionen für Unternehmen mit Sparpolitik für die Mehrheit kombiniert, ist damit kompatibel und zeichnet sich bereits ab.

Die neuen Wirtschaftskriege

Der wirtschaftspolitische Roll-Back ereignet sich vor dem Hintergrund massiver ökonomischer Verschiebungen innerhalb des globalen Kapitalismus. Der ökonomische Aufstieg Chinas, der bereits seit Jahrzehnten voranschreitet, ist nun an einem kritischen Punkt angelangt. Der «Kipppunkt», an dem Chinas ökonomische Macht diejenige der USA und anderer westlicher Länder überschreitet, liegt schon hinter uns. Unter den 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt waren im Jahr 2020 124 chinesische Unternehmen, 121 aus den USA und 96 aus der EU – zur Jahrtausendwende waren es lediglich elf chinesische Unternehmen, und 2010 waren es 61 gewesen. Bereits 2019 hat China die USA als größte Exportnation überholt und ist zum weltweit zweitgrößten Investor aufgestiegen. 2018 hat China die USA und die EU auch beim Welt-Bruttoinlandsprodukt überholt. Der jeweilige Anteil Chinas lag 2021 bei etwa 20 Prozent, derjenige der EU und der USA bei jeweils bei etwa 14 Prozent.

Der Wirtschaftskrieg mit China, den Trump in seiner ersten Amtszeit bereits eingeläutet hatte und den die Biden-Administration intensiviert hat, zielt darauf ab, die ökonomische Entwicklung Chinas zu verlangsamen und die chinesische Ökonomie gezielt von technologischen Entwicklungen abzukoppeln. Trump hat im Wahlkampf umfangreiche Importzölle in Aussicht gestellt – doch bereits Biden hat im Sommer 2024 Strafzölle gegen chinesische Elektroautos in Höhe von 100 Prozent eingeführt.

Der internationale Wettstreit um ökonomische Vorherrschaft ist für die unterschiedlichen Kapitalfraktionen und die geographischen Räume, in denen sie primär verankert sind, zentral um zukünftiges Wachstum (also Staatseinnahmen genauso wie private Kapitalgewinne) abzusichern. Wer ökonomisch stärker ist, kann langfristig die Spielregeln des Welthandels- und Finanzsystems bestimmen und daraus ökonomische Vorteile schlagen. So profitieren die USA nach wie vor von der Rolle des Dollars als Weltwährung, in der sie sich, unter anderem zur Aufrechterhaltung ihrer militärischen Hegemonie, unbegrenzt verschulden können. In der auf den Weltmarkt ausgerichteten deutschen Ökonomie zeigt sich die Intensivierung der imperialistischen Rivalität in Form eines neuen Verteilungskampfs zwischen «Arbeit» und «Kapital», für den das Wirtschaftswende-Papier von Christian Lindner sinnbildlich steht.

Die neue innerkapitalistische und geopolitische Konkurrenz spielt sich vor dem Hintergrund einer insgesamt schwächer werdenden globalen Wachstumsdynamik ab. Auch in China verlangsamt sich das Wachstum und der Staat muss immer wieder mit Konjunkturpaketen für neuen Dynamik sorgen, um eine größere Krise zu verhindern. Das Zeitalter billiger Energie und Rohstoffe und immer neuer Akkumulationsfelder ist an sein Ende gekommen. Viel Kapital fließt nach wie vor in die Finanzmärkte, ohne unmittelbar neue Investitionen anzustoßen, weil profitable Investitionsmöglichkeiten insgesamt weniger werden. Auch wenn es in Bezug auf die konkrete Form der Krise in linken Debatten unterschiedliche Analysen gibt, klar ist: Der globalisierte, finanzdominierte Kapitalismus ist in eine strukturelle Krise geraten, aus der es keine schnellen Auswege gibt. Die rechte Wirtschaftswende ist Ausdruck einer Radikalisierung des Neoliberalismus, der in den gedämpften Wachstumsaussichten alle Register zieht und den Klassenkompromiss weiter aushöhlen will.

Ist eine progressive Wirtschaftswende möglich?

Um progressive ökonomische Stimmen ist es derweil denkbar schlecht bestellt. SPD und Grüne stehen für die unprofessionelle Ampel-Politik, die auf fatale Weise ökologische von sozialer Politik abgespalten hat. Es gibt eine Wechselstimmung, die jetzt den Apologeten der Wirtschaftswende in die Hände spielt. In der Linkspartei, die bis Anfang dieses Jahres vom Wagenknecht-Projekt in der strategischen Sackgasse festgehalten wurde, in der sie etwa seit 2015 festhängt, kam die Erneuerung rund um eine konsequente Sozialpolitik, mit der die Partei sich wieder einen Stellenwert für Lohnabhängige erarbeiten will, möglicherweise zu spät. Dennoch ist die Linkspartei, sofern sie im Wahlkampf mutige soziale und wirtschaftspolitische Akzente setzt, ein zentraler verbliebener Akteur, der eine progressive Antwort auf die rechte Wirtschaftswende sichtbar machen kann. Gleichzeitig wird sie – auch von den Medien – marginalisiert. In wichtigen Talkshows oder in Wahlprognosen taucht sie oft nicht mal mehr auf.

Insgesamt ist das Ökosystem für progressive Wirtschaftspolitik, in dem die verschiedenen Akteursgruppen produktiv zusammenarbeiten und eine gemeinsame Schubkraft entfalten, noch unterentwickelt.

Wer in der medialen Debatte durchaus auftaucht, sind «öffentliche Ökonomen*innen», die ihre Sprechposition entweder aus dem «Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung» (den sogenannten «Wirtschaftsweisen») oder den ebenfalls staatlich organisierten Forschungsinstituten der Leibniz-Gesellschaft beziehen. Doch hier dominieren gemäßigte bis rechte wirtschaftspolitische Vorstellungen.

Ifo-Chef Clemens Fuest etwa sprang bereitwillig zur Seite, um Lindners ultra-neoliberales Wirtschaftswendepapier mit seiner Expertenmeinung zu untermauern. Das marktliberale Ifo-Institut organisierte bereits im Sommer eine Veranstaltung für eine «Wirtschaftswende in Deutschland». DIW-Chef Marcel Fratzscher sprach sich in der «Hart aber Fair»-Sendung vom 11.11.2024 zwar für eine Reform der Schuldenbremse aus, jedoch auch für die Senkung von Unternehmenssteuern. Zwar gibt es aus der Wirtschaftswissenschaft immer wieder kritische Stimmen. Schon vor dessen Ernennung warnten etwa der Ökonom Adam Tooze sowie der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stieglitz öffentlichkeitswirksam vor Christian Lindner als Finanzminister (auch damals sprang ihm Clemens Fuest zur Seite). Aktuell sind kritische Ökonom*innen im öffentlichen Diskurs jedoch nicht sonderlich wahrnehmbar. Dass Lindners Chefökonom Lars Feld noch heute in Nachrichtensendungen unhinterfragt neoliberale Märchen erzählen darf, zeigt auch, wie wenig Meter die wirtschaftswissenschaftliche Gegenbewegung zum Neoliberalismus seit der Finanzkrise vor über 15 Jahren gemacht hat.

Eine offene Frage ist, inwieweit die anstehenden Tarifauseinandersetzungen eine Rolle im «Wirtschaftswahlkampf» spielen könnten. Die Gewerkschaften schrecken in der Regel davor zurück, die konkreten Tarifauseinandersetzungen mit mutigen wirtschafts- und sozialpolitischen Positionierungen zu verbinden und einen «politischen Streik» zu riskieren – ein Schritt, der auch von der Gewerkschaftsbasis bzw. den Arbeiter*innen selber vorangetrieben werden müsste. In der progressiven Zivilgesellschaft lässt sich in den letzten ein bis zwei Jahren eine vorsichtige Öffnung für Wirtschaftsthemen feststellen. So gab es regelmäßig Apelle von Sozialverbänden und NGOs gegen die Sparpolitik der Ampel, für mutige Zukunftsinvestitionen und für eine Reform der Schuldenbremse. Auch eine Initiative für eine Milliardärssteuer hat sich herausgebildet. Diese Initiativen sind jedoch ebenfalls nicht mächtig genug, um im Diskurs wirklich durchzudringen. Während die gewerkschaftlichen Kämpfe noch nicht mit den größeren wirtschaftspolitischen Fragen verbunden sind, fehlt den NGO-Kampagnen die soziale Basis um echte Gegenmacht zu entfalten. Insgesamt ist das Ökosystem für progressive Wirtschaftspolitik, in dem die verschiedenen Akteursgruppen – Arbeiter*innenbewegung und Gewerkschaften, NGOs und Think-Tanks, soziale Bewegungen und Kampagnenorganisationen, kritische Wirtschaftswissenschaft, Forschungsinstitute und parlamentarische Akteure – produktiv zusammenarbeiten und eine gemeinsame Schubkraft entfalten, noch unterentwickelt.

Die Französische Linke als Vorbild?

Der anstehende Wirtschaftswahlkampf ist damit eine Bewährungsprobe für dieses noch unterentwickelte Ökosystem für eine progressive Wirtschaftswende, um die größtmögliche Gegenwehr gegen die neoliberalen Vorschläge aus der Mottenkiste zu leisten und linke Alternativen ins Gespräch zu bringen. Es geht also um einen nach vorne gerichteten Abwehrkampf, der einen erneuerten Schub neoliberaler Politik verhindern und die Grundlage dafür bilden soll, sich unter einer CDU-Regierung neu zu sammeln und effektive klima- und sozialpolitische Strategien zu entwickeln. Um das bestmöglichen Patt zwischen progressiven und neoliberalen wirtschaftspolitischen Vorstellungen nach der Bundestagswahl herauszuholen, geht es nun darum, alle verfügbaren Kräfte auf die wirtschaftspolitische Debatte zu lenken. Vor allem Forderungen nach einer Millionärssteuer und massiven Zukunftsinvestitionen unter Beiseitedrängen der Schuldenbremse haben – sofern der unmittelbare Mehrwert dieser Maßnahmen für viele Menschen sichtbar wird – das Potenzial, den Fokus der gesellschaftlichen Debatte weg von Migrations- und Aufrüstungs- und hin zu Wirtschaftsthemen zu lenken, die gesellschaftlich polarisieren und progressiven Kräften Aufwind verleihen können. Das könnte dazu beitragen, die politisch verhängnisvolle Polarisierung zwischen der AfD und allen anderen Parteien aufzubrechen und eine neue Polarisierung entlang der Achse progressive vs. neoliberale Wirtschaftspolitik zu erzeugen. Damit würde der AfD ihre Rolle als einzig wahrnehmbare oppositionelle Stimme im politischen «Weiter-So» abhandenkommen. Stattdessen müsste sie sich für ihre extrem arbeitnehmerfeindlichen Politikvorstellungen rechtfertigen.

Nicht nur die Reform bzw. faktische Abschaffung der Schuldenbremse, sondern auch eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer und andere weitreichende Umverteilungsmaßnahmen zur Finanzierung wichtiger Investitionen in die Zukunft und zur spürbaren Verbesserung der Lebenssituation breiter Bevölkerungsschichten müsste dafür auf dem Programm stehen. Auch Preiskontrollen, allen voran ein Mietendeckel, aber auch ein Deckel auf Lebensmittelpreise, stellen Forderungen dar, bei dem der materielle Nutzen für die Mehrheit der Menschen und die Kampfansage an Konzerne sofort ersichtlich wird. Das Programm des Nouveau Front Populaire (NFP) in Frankreich kann dabei als Vorbild dienen.

Das Beispiel des NFP zeigt zugleich das Dilemma, in dem progressive Politik in Deutschland steckt. Mit der extrem geschwächten Linkspartei und dem nach rechts abgewanderten BSW gibt es keine progressive Machtoption und allgemein keine linke gesellschaftliche offensive Kraft. Ein umfassendes progressives Projekt, das unter Hegemonie eines Mitte-Links-Bündnisses dem fortschreitenden Rechtsruck mit progressiver Wirtschaftspolitik den Kampf ansagt, ist daher nicht in Aussicht. Umso wichtiger wäre es, erste Schritte zur Herausbildung eines solchen Projekts zu gehen. Dass die Ampel-Koalition an der Schuldenbremse zerbrochen ist, könnte eine Chance für die gesellschaftliche Linke sein, sich wirtschafts- und sozialpolitisch neu aufzustellen und in den anstehenden Verteilungskämpfen, die auch nach der Bundestagswahl noch viel stärker als bisher auf uns zukommen werden, einen progressiven Pol herauszubilden.


[1] S. dazu auch der Überblicksartikel zur Debatte um Antifaschistische Ökonomik von Fred Heussner auf «Exploring Economics».