Die Entwicklung des Abtreibungsrechts in Polen ist erschreckend. Nach der Wende waren 60 Prozent der polnischen Bevölkerung für ein Recht auf Abtreibung. Doch in den letzten Jahrzehnten wurden Abtreibungsgegner*innen immer lauter, der Druck und Einfluss der katholischen Kirche immer größer. Nationalkonservative Regierungen sorgten dafür, dass es in Polen inzwischen eines der strengsten Abtreibungsgesetze in Europa gibt. Wir haben mit der Aktivistin Aleksandra Magryta über ihr queer-feministisches Engagement und die jahrzehntelangen Kämpfe gegen Diskriminierung in einer christlich-konservativ dominierten Gesellschaft gesprochen.
Aleksandra Magryta ist Expertin für Frauen und LGBT-Rechte, arbeitet bei der polnischen Organisation FEDERA, die sich mit dem Zugang zu Verhütung, Abtreibung und Sexualbildung befasst. Sie ist zudem Wendo-Selbstverteidigungstrainerin. Sie wohnt in Warschau, hat früher aber auch in Deutschland gelebt.
Das Gespräch führten Clara Siegel und Nadine Kramer. Beide haben ein dreimonatiges Praktikum bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Zentrum für Gesellschaftsanalyse und politische Bildung absolviert.
Nadine und Clara: Seit fast 20 Jahren engagierst du dich für die Rechte von Frauen und queeren Menschen in Polen. In dieser Zeit war die Situation hinsichtlich reproduktiver Rechte immer angespannt, rechtskonservative und katholische Kräfte führten zu einem strengeren Abtreibungsverbot und lösten eine Protestbewegung aus. Wenn du heute auf die jahrzehntelangen Kämpfe in Polen zurückschaust, inwiefern hat sich die Lage verändert?
Aleksandra Magryta: Ja, das stimmt. Seitdem ich mich für die Rechte von Frauen engagiere, sehe ich, dass unsere Situation hierzulande im Großen und Ganzen keineswegs besser geworden ist. Ende 2024 ist Polen das einzige Land in Europa mit dem schlechtesten Zugang zu Verhütung – das sieht man sehr gut im Contraception Atlas. Aufgrund der so miserablen Lage in Polen wurde 2023 sogar eine dunklere Farbe eingeführt. So haben wir z.B. in Polen keinen einfachen Zugang zu der «Pille danach». Um die «Pille danach» zu besorgen, müssen sich Personen erst von einem Arzt oder einer Ärztin ein Rezept dafür verschreiben lassen, obwohl es europäischer Standard ist, die «Pille danach» rezeptfrei in der Apotheke kaufen zu können. Ein größeres Problem ist der Mangel an Gynäkolog*innen im Land. Laut Statistiken gibt es für die Gesamtbevölkerung von 38 Millionen Menschen ungefähr 7200 Ärzt*innen mit dieser Spezialisierung in Polen. Daraus resultiert, dass die Terminfindung bei einem*r der wenigen Ärzt*innen sehr schwierig ist, besonders, wenn jeder Tag zählt. Zu der Rezeptpflicht kommt erschwerend hinzu, dass sich viele Ärzt*innen aus religiösen Gründen weigern, Verhütungsmethoden (nicht nur die «Pille danach») zu verschreiben. Seit Mai 2024 läuft ein Pilotprojekt der Regierung, das ermöglicht, ein Rezept für die «Pille danach» direkt von der Apotheke ausstellen zu lassen. Jedoch ist dies für die Apotheken freiwillig, sodass nicht einmal 20 Prozent aller Apotheken mitmachen. Außerdem empfinden es viele Frauen als respektlos, dass sie im Rahmen des Programms die Pille vor Ort schlucken müssen.
Polen ist außerdem das queerfeindlichste Land in der EU. Wir als queere Community verfügen über keine Rechte, was unsere Orientierung bzw. Geschlechtlichkeit betrifft. Es gibt kein Recht auf zivile Partnerschaften abgesehen von Ehen. Transpersonen müssen mit ihren Eltern vor Gericht ziehen, um ihre Dokumente zu ändern. Hatespeech ist ein tägliches Brot der LGBT+-Menschen. Viele Politiker*innen (auch die bekanntesten) und Priester haben schreckliche Sachen über queere Menschen in den Medien gesagt (z.B. sprechen sie von «queerer Ideologie» oder dass man die Straßen nach CSDs desinfizieren lassen soll). Das hat unter anderem zur Folge, dass es in den letzten Jahren zu ein paar Selbstmordfällen von queeren jungen Menschen kam.
Das Recht auf Abtreibung ist das Thema, dass unsere Gesellschaft am meisten mobilisiert.
Abtreibung ist das nächste große Thema. Polen ist am Ende des europäischen Rankings bezüglich des Zugangs zu Abtreibung. Legale Abtreibung im Krankenhaus ist nur nach einer Vergewaltigung möglich oder wenn die Gesundheit oder das Leben der Schwangeren in Gefahr ist. Auch Beihilfe ist strafbar – es ist also verboten z.B. jemandem Tabletten für eine Abtreibung zu geben, um die Abtreibung zu Hause durchzuführen. Viele Frauen erleben schreckliche Angst, wenn sie erfahren, dass sie schwanger sind und die Schwangerschaft nicht austragen wollen. Das Recht auf Abtreibung ist das Thema, dass unsere Gesellschaft am meisten mobilisiert. Seit Jahren gehen wir auf die Straßen und erwarten von den Regierenden Veränderungen in diesen feindlichen Vorschriften.
2020 hatte das Verfassungsgericht unter der damaligen nationalkonservativen PiS-Regierung das ohnehin restriktive Abtreibungsrecht noch weiter verschärft. Seitdem gelten nur zwei Ausnahmeregelungen, bei Vergewaltigung und Lebensgefahr – ein fast vollständiges Abtreibungsverbot. Das Urteil löste massenhafte Proteste aus, bisher leider ohne Erfolg. Selbst die liberal-konservative Tusk-Regierung konnte vor ein paar Monaten keine Mehrheit für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts erreichen. Vor welchen Herausforderungen steht ihr jetzt in den feministischen Kämpfen?
Ja, im Oktober 2020 hat das Verfassungsgericht uns die damals geltende Voraussetzung, die uns erlaubte, eine Schwangerschaft aufgrund einer schweren Fehlbildung des Fötus zu beenden, weggenommen. Dies hat massenhafte Proteste ausgelöst und zwar nicht nur in vielen polnischen Städten, sondern auch in ganz Europa vor den Gebäuden der polnischen Botschaft. Wochenlange Proteste haben das Bewusstsein der Gesamtbevölkerung bezüglich dem Abtreibungsrecht in Polen vergrößert, aber die Rechtslage hat sich keineswegs verändert. Seit dem Urteil des Verfassungsgerichts gab es ein paar Todesfälle von Frauen in polnischen Krankenhäusern, die schwanger waren und dabei Krankheiten entwickelten (wie z.B. Sepsis). Da ihnen verweigert wurde, die Schwangerschaft zu beenden, starben die Frauen. In einem Land, wo es besonders schwierig ist, Abtreibungen zu legalisieren, haben wir mit der Organisation FEDERA angefangen, mithilfe von Ärzt*innen schwangere Personen im Rahmen des Rechtes zu unterstützen. Dadurch haben Frauen, die schwanger sind und wissen, dass der Fötus letale bzw. genetische Krankheiten hat, die Möglichkeit, uns anzurufen und in Kontakt mit Psychiater*innen zu kommen. Diese können dann aufgrund des Gespräches ein Dokument erstellen, das den Frauen erlaubt, die Schwangerschaft aufgrund einer Bedrohung der psychischen Gesundheit in einem polnischen Krankenhaus zu beenden.
Heutzutage gibt es in jeder Region Polens feministische Initiativen, die für Abtreibungsrechte und Gleichheit kämpfen.
Am 15. Oktober 2023 gab es neue Parlamentswahlen, bei denen wir große Veränderung erhofften. Deswegen haben wir uns als Frauen wirklich Mühe gegeben, um an den Wahlen teilzunehmen: letztendlich sind über 70 Prozent aller Frauen zur Wahl gegangen. Uns wurde viel versprochen – wie z.B. die Legalisierung von Abtreibung und zivile Partnerschaften. Dies sollte rasch von den gewonnenen Parteien umgesetzt werden. Heute, 13 Monate nach den Wahlen, hat sich kaum etwas verändert.
Ähnlich zur DDR galt im sozialistischen Polen noch ein liberales Abtreibungsrecht. Nach dem Zerfall des Ostblocks nahm der Einfluss der katholischen Kirche zu, weshalb Abtreibungen ab den 90er Jahren in Polen wieder stärker kriminalisiert wurden. Seitdem spitzt sich die Lage immer weiter zu. Wie hat sich die polnische Frauenrechtsbewegung seitdem entwickelt?
Die polnische Menschenrechtsbewegung hat keine lange Tradition. Erst nach dem Untergang des kommunistischen Systems hatten die Menschen letztendlich mehr Freiheit und Möglichkeiten, sich zusammen zu tun und Frauenrechte einzufordern. 1989 ist der erste Gesetzentwurf entstanden, der Abtreibung verbieten wollte. Hier muss ich hinzufügen, dass Abtreibung im kommunistischen System unter vier Voraussetzungen möglich war – ein Schwangerschaftsabbruch war nach einer Vergewaltigung, bei Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren, aufgrund einer schweren Schädigung des Fötus oder wegen einer schwierigen sozioökonomischen Lage der Frau erlaubt. Die letzte Voraussetzung sollte laut dem Gesetzesentwurf gestrichen werden. Die Frauen begannen zu protestieren. Als Reaktion auf die Gefahr Frauenrechte zu verlieren, entstand im Jahr 1991 die FEDERA (anfangs eine Föderation, nun eine Stiftung). 1993 gelang es den konservativen Abgeordneten leider, ihr Ziel zumindest teilweise zu erreichen und die Voraussetzung einer schwierigen sozioökonomischen Lage der Frau für einen legalen Schwangerschaftsabbruch aus dem Gesetz zu streichen. Ab diesem Zeitpunkt war eine Abtreibung im Rahmen der Legalität (die drei verbliebenen Voraussetzungen) in Krankenhäusern kaum noch möglich. Nun im Jahr 2024, ein Jahr nach den Wahlen, ist die Situation der Frauen gleichermaßen schlecht. Viele Politiker repräsentieren sexistische Ansichten und der Zugang zu Verhütung und Abtreibung ist weiterhin schlecht.
Die polnische Frauenbewegung hat sich also Schritt für Schritt nach dem Ende des Kommunismus entwickelt. In den 1990er Jahren sind die ersten feministischen Organisationen entstanden wie z.B. FEDERA, aber der Kampf um Frauenrechte war immer schwierig. Es gab keine staatliche Finanzierung für die feministische Arbeit, sondern nur Fördermittel zur Vorbeugung der Gewalt gegenüber Frauen. Es entwickelten sich ganz viele Stereotype gegenüber Feminismus. Es gab keinen deutlichen Wendepunkt im Kampf um Frauenrechte, jedoch gibt es heutzutage in jeder Region Polens feministische Initiativen, die für Abtreibungsrechte und Gleichheit kämpfen. Es gibt aber immer noch sehr viel zu tun, um die Frauenrealität zu verändern.