Interview | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Commons / Soziale Infrastruktur «Ohne Reform der Schuldenbremse wird keine Modernisierung gelingen»

Der Ökonom Achim Truger über die kriselnde Wirtschaft, spaltende Antworten aus der Politik und seine Arbeit im Gremium der «Wirtschaftsweisen»

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Achim Truger, Eva Völpel,

Die eingestürzte Carolabrücke wurde zu einem Sinnbild der bröckelnden Infrastruktur in Deutschland. Wie im Verkehrssektor besteht in vielen Bereichen ein enormer Modernisierungsbedarf, für den die derzeitigen öffentlichen Investitionen nicht ausreichen. Foto: IMAGO / Sven Ellger

Seit 1963 hat der «Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung» (auch Sachverständigenrat Wirtschaft, kurz SVR) die Aufgabe, Bundesregierung und Öffentlichkeit Prognosen über Lage und Entwicklung der gesamten Wirtschaft zur Verfügung zu stellen. Der fünfköpfige Rat plädiert seit einiger Zeit für eine – vorsichtige – Reform der Schuldenbremse und setzt sich im aktuellen Gutachten, das am 13. November 2024 der Öffentlichkeit vorgelegt wurde, vor allem mit dem Thema «versäumte Modernisierung» auseinander. Was das für die deutsche Politik bedeutet,erörtert Achim Truger im Gespräch mit Eva Völpel von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Die deutsche Wirtschaft wird auch in 2024 schrumpfen, zudem stecken wichtige Pfeiler des deutschen Exportmodells, Stichwort VW, in der Krise. Was sind die tieferliegenden, strukturellen Ursachen für die Rezession?

Achim Truger, Professor für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen, ist seit 2019 Mitglied des Sachverständigenrats Wirtschaft. Er wurde von der Bundesregierung auf Vorschlag der Gewerkschaften in das Gremium berufen.

Es ist immer schwer zu sagen, was in einer akuten Krise konjunkturell und was eher strukturell ist. Vielleicht sollte man statt «strukturell» besser «ungewöhnlich» sagen. Und ungewöhnlich ist die anhaltende Industrieschwäche, die wiederum damit zusammenhängt, dass die deutschen Exporte sich deutlich schwächer entwickeln, als man das bei der Entwicklung der Weltkonjunktur und der Konjunktur bei den wichtigsten Handelspartnern erwarten würde. Das wiederum hängt wohl mit einer geringeren preislichen Wettbewerbsfähigkeit zusammen, das heißt die deutschen Unternehmen haben nach den Energiepreisschocks mit stark gestiegenen Energiekosten, aber auch Arbeitskosten, zu kämpfen. Außerdem geraten die Exporte dadurch unter Druck, dass die chinesische Wirtschaft mittlerweile in Märkte vordringt, auf denen zuvor Deutschland besonders stark war, etwa im Fahrzeug- oder Maschinenbau. Das würde bedeuten, dass die deutsche Wirtschaft es versäumt hätte, ihre Produktpalette wettbewerbsfähig aufzustellen. Hohe Subventionen für chinesische Hersteller verschärfen das Problem.

Es ist offensichtlich, dass gerade die Verkehrsinfrastruktur arg in die Jahre gekommen ist. Riesige Zugverspätungen, einstürzende Brücken etc. sind eindeutige Indikatoren.

Der Sachverständigenrat Wirtschaft hat vor Kurzem sein neues Gutachten vorgestellt und sich auf versäumte Modernisierungen konzentriert. Deutschland hinkt etwa seit Jahren mit öffentlichen Investitionen hinterher – wie massiv ist das Problem im Vergleich zu anderen wirtschaftlich starken Ländern?

Die öffentlichen Investitionen in Relation zur Wirtschaftsleistung, also zum Bruttoinlandsprodukt, fallen hierzulande deutlich schwächer aus. Aber solche internationalen Vergleiche sind nur ein Anhaltspunkt. Es ist offensichtlich, dass gerade die Verkehrsinfrastruktur arg in die Jahre gekommen ist. Riesige Zugverspätungen, einstürzende Brücken etc. sind eindeutige Indikatoren. Das ist dann auch eine echte Produktivitäts- und Wachstumsbremse. Gleichzeitig liegt im Bildungsbereich vieles im Argen. Die viel beschworene Chancengleichheit existiert nicht, und deutsche Schüler*innen schneiden in internationalen Vergleichstests schlecht ab. Da gibt es große Versäumnisse und der Modernisierungsbedarf ist hoch.

Welche Rolle spielt in den versäumten Modernisierungen die Schuldenbremse?

Die Schuldenbremse spielte dabei meines Erachtens eine entscheidende Rolle. Die Sparsamkeitsdoktrin, die zur Einführung der Schuldenbremse und zur «Schwarzen Null» führte, ließ gar nicht zu, dass man die entscheidende Frage nach den öffentlichen Investitionsbedarfen überhaupt stellte, geschweige denn ernsthaft diskutierte. Die Politik gefiel sich in den guten Jahren 2014 bis 2019 darin, nach Kassenlage die öffentlichen Investitionen etwas zu erhöhen und auch den Kommunen durch Fördertöpfe unter die Arme zu greifen. Die tatsächlichen Versäumnisse und Bedarfe wurden geleugnet. Nach jahrelangem Haushaltsstreit und dem strengen Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist nun offensichtlich, dass es ohne Reform der Schuldenbremse keine Modernisierung gelingen wird.  

Wie sollte die Schuldenbremse reformiert werden – und wie viele Milliarden mehr an möglichen Schulden würde das zurzeit konkret ermöglichen?

Eine Reform muss zwei Ziele erreichen. Erstens braucht es deutlich größere Spielräume, um in Wirtschaftskrisen die Konjunktur zu stabilisieren. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dürfen Notlagenkredite immer nur für ein Jahr aufgenommen werden. Im Jahr nach einer Notlage muss die Schuldenbremse sofort wieder eingehalten werden. Die damit verbundene Konsolidierungspolitik kann die Erholung aber massiv gefährden. Deshalb ist es sinnvoll, nach einer Notlage schrittweise zur Schuldenbremse zurückzukehren, sodass es einen Übergangszeitraum gibt, in dem die Finanzpolitik die Erholung noch unterstützen kann. Genau dieses Element ist im gemeinsamen Vorschlag des Sachverständigenrates zur Reform der Schuldenbremse vom Januar dieses Jahres enthalten.

Zweitens braucht es dauerhaft massiv höhere Kreditspielräume für höhere öffentliche Investitionen. Der Sachverständigenrat hat dabei als Kompromiss zusätzliche Spielräume von 0,15 Prozent des BIP bis 0,65 Prozent des BIP, das sind 6,5 bis 30 Milliarden Euro pro Jahr vorgeschlagen, wobei wir offen ließen, wie sichergestellt würde, dass die zusätzlichen Spielräume auch wirklich in Investitionen flössen. Ich fand und finde das angesichts der Herausforderungen viel zu niedrig, aber es war ein Kompromiss – und das Signal, dass nun auch der Sachverständigenrat für eine Reform der Schuldenbremse eintritt, fand viel Beachtung. Mit einer solchen Regel hätte die Ampel an der Schuldenbremse definitiv nicht scheitern müssen.

Es gibt einige große gesellschaftliche Herausforderungen, und das soll bewältigt werden, indem man gesellschaftliche Ziele und Gruppen gegeneinander ausspielt? Irrwitzig.

Der Sachverständigenrat kritisiert auch, dass die Politik nicht langfristig und verlässlich investiert und macht Vorschläge für die Bereiche Verkehr, Bildung und Verteidigung. Im Verkehrsbereich ist das Stichwort ein Infrastrukturfonds, in den anderen Bereichen Mindestausgabequoten, in der Bildung etwa pro Schüler*in. Um welche Investitionssummen geht es da?

Wir nehmen hier die Argumentation der Befürworter*innen der Schuldenbremse ernst: Wenn die sich Sorgen machen, dass die Politik langfristige Interessen vernachlässigt und ohne Schuldenbremse zu hohe Schulden macht, dann muss man auch annehmen, dass die Politik zukunftsorientierte Ausgaben vernachlässigt – eine Erklärung für die Versäumnisse. Und es ist ein Riesenfortschritt, dass wir endlich die Existenz von großen Ausgabenbedarfen anerkennen und nicht wie früher nur Nebel produzieren, damit nur ja niemand auf die Idee kommt, deswegen die sakrosankte Schuldenbremse in Frage zu stellen. Natürlich lässt sich das nicht genau berechnen, aber wir gehen von dreistelligen Milliardenbeträgen innerhalb weniger Jahre aus.

Wie würde abgesichert, dass diese Investitionen langfristig fließen, wie sähen solche Konstruktionen also konkret aus?

Für die Verkehrsinfrastruktur schlagen wir einen Infrastrukturfonds vor, der verlässlich verkehrsbezogene Einnahmen (z.B. Maut, Mineralölsteuer, Kfz-Steuer) aus dem Kernhaushalt zugewiesen bekommt. Auf dieser Basis können dann langfristig planbar, stetig und zuverlässig Ausgaben für Erhalt, Instandsetzung und Ausbau von Bahn und Bundesautobahnen bzw. -straßen getätigt werden.

Warum schlägt der Rat keinen Fonds oder Mindestausgabequoten für langfristig und verlässliche Klimainvestitionen vor? Man sieht ja in der aktuellen Haushaltsdebatte, wie umkämpft der Klima- und Transformationsfonds ist.

Ja, das wäre auch eine Option gewesen, die ich persönlich sinnvoll gefunden hätte. Aber da hatten wir keinen Konsens.

Die Ampelkoalition ist gescheitert. Dieser Bruch wurde von Christian Lindner und der FDP bewusst mit einem 18-seitigen, sogenannten Wirtschaftswendepapier vorangetrieben. Ihr Kommentar zu diesem Papier?

Das ist ein Papier für den Wahlkampf, das sehr künstlich eine neoliberale so genannte Wirtschaftswende zur angeblichen Bedingung für den Aufschwung hochstilisiert. Viel besser für die Konjunktur wäre es gewesen, wenn die FDP nicht seit einem Jahr permanent den Haushalt blockiert und auf Kürzungskurs getrimmt hätte und wenn die Ampel ihre geplante Wachstumsinitiative umgesetzt hätte. Nach dem forcierten Koalitionsbruch wird die Konjunktur nun mindestens ein halbes Jahr lang spürbar belastet – unverantwortlich.

Auch Ihre Kollegin Veronika Grimm plädiert im neuen Gutachten des Sachverständigenrats in einem Minderheitenvotum sehr ähnlich wie die FDP dafür, dass es mehr Investitionen nur im Gegenzug gegen Kürzungen am Sozialstaat, etwa bei der Rente, geben darf. Ähnlich sehen das Unternehmerverbände, die wie FDP und Union zudem für eine Senkung der Unternehmenssteuern trommeln. Befürchten Sie nach der nächsten Bundestagswahl eine Wirtschaftswende von rechts?

Ich hoffe nicht. Wenn es zu massiven Kürzungen käme, würde sich die Wirtschaft wohl kaum erholen. Das wäre nicht nur sozial spaltend, sondern auch ökonomisch kontraproduktiv. Ich verstehe auch die politische und soziale Logik dahinter nicht. Es gibt offensichtlich gerade einige große gesellschaftliche Herausforderungen. Krieg in der Ukraine, deshalb viele Geflüchtete, weitere geopolitische Risiken, Energiekrise, Transformation – plus all die Versäumnisse der Vergangenheit. Und das soll bewältigt werden, indem man gesellschaftliche Ziele und Gruppen gegeneinander ausspielt? Irrwitzig. Das mag für eine kleine Klientelpartei wie die FDP sinnvoll sein, aber doch nicht für die Union mit dem Anspruch, eine Volkspartei zu sein und zu bleiben.

Und was halten Sie davon, die Unternehmensbesteuerung abzusenken?

Unternehmenssteuern können ein Standortfaktor sein. Wenn aber ihre Senkung aufgrund der damit verbundenen Steuerausfälle zu Kürzungspolitik, womöglich zulasten anderer Standortfaktoren wie Bildung und Infrastruktur führt, ist das kontraproduktiv. Ganz abgesehen davon, dass man darüber streiten kann, ob von der Senkung für sich genommen tatsächlich positive Wachstumseffekte ausgehen. Ich würde stattdessen auf befristete Investitionsprämien und Abschreibungserleichterungen setzen. Davon profitiert nur, wer tatsächlich investiert, und die öffentlichen Haushalte werden nicht dauerhaft belastet.

Es wäre unverantwortlich, die Regelungen zum Mieterschutz einfach zu kassieren, wie es jetzt wegen des Ampel-Endes droht. Klar ist aber auch: Mit Mietenregulierung allein baut man keine Wohnungen.

In den USA haben vor allem Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen Trump gewählt, weil sie immer noch unter der Teurungskrise leiden. Die Ökonomin Isabella Weber mahnt deswegen eine «antifaschistische Wirtschaftspolitik» an, die den Vielen ökonomisch rasche Erleichterung bringt, etwa durch einen Mietendeckel oder auch Nahrungsmittelpreisbremsen. Was braucht es für die Armen und die untere Mittelschicht in diesem Land, wenn es deutliche Zusammenhänge zwischen sozialer Lage bzw. Abstiegsängsten und Stimmenzuwächsen für rechtsextreme Parteien gibt?

Ich finde Isabella Webers Ideen als Krisenintervention sinnvoll. Insgesamt braucht es mittelfristig eine deutliche Verbesserung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Das ließe sich bei Wohnen, Energieversorgung und Verkehr übrigens wunderbar mit der Klimapolitik verbinden.

Stichwort Mieten. Der Sachverständigenrat plädiert für eine Ausweitung der Bautätigkeit, die Deregulierung von Bauvorschriften – aber auch dafür, die Kappungsgrenzen bei Bestandsmieten hoch zu setzen und die Mietpreisbremse nach 2028 nicht zu verlängern. So sollen mehr Anreize fürs Bauen und Umzüge entstehen, wenn beispielsweise Familien, deren Kinder aus dem Haus sind, in großen Wohnungen sitzen, die nun andere nötig hätten. Diese Vorschläge sind sozialer Sprengstoff und marktliberales Wunschdenken. Für noch mehr Menschen würden die Mieten steigen ohne dass es mehr Wohnungen gäbe.

Ich gebe zu, dass man das so lesen kann. Für mich ist entscheidend, dass das Wohnungsangebot ausgeweitet wird, und dazu machen wir viele Vorschläge. Außerdem sind wir aus meiner Sicht so ausgewogen wie nie zuvor, indem wir die Mietpreisbremse in ihrer aktuellen Form als nicht schädlich für den Wohnungsneubau einstufen und zugleich die wichtige Funktion des sozialen Wohnungsbaus anerkennen. Es wäre aber in der Tat unverantwortlich, die Regelungen zum Mieterschutz einfach zu kassieren, wie es jetzt wegen des Ampel-Endes droht. Klar ist aber auch: Mit Mietenregulierung allein baut man keine Wohnungen.

Sie sind der progressive Ökonom im fünfköpfigen Sachverständigenrat. Das aktuelle Minderheitenvotum Ihrer Kollegin Veronika Grimm steht für den Glauben an die reine Lehre des Marktes. Wie intensiv muss man sich Eure Debatten vorstellen, redet Ihr Euch über solche Fragen noch die Köpfe heiß?

Ach, das ist ganz unterschiedlich. Ich habe ja auch selbst in der Vergangenheit Minderheitsvoten geschrieben. Das wird von der Mehrheit nie gerne gesehen. Aber es ist ein gesetzlich verbrieftes Recht, vor dem man Respekt haben muss. Deshalb ist es mir auch wichtig, dass wir, auch wenn es einen klaren inhaltlichen Dissens gibt, respektvoll miteinander umgehen. Ich glaube, dass das in unserer jetzigen Fünferkonstellation auch besser klappt, als ich es beispielsweise 2019 oder 2020 in der alten Ratskonstellation noch erlebt habe, wo es doch ziemlich ruppig zuging. Ich finde es aber schon bemerkenswert, dass sich die Konstellation im Rat ziemlich gedreht hat. Das hohe Lied des Marktes wird nun nicht mehr im Mehrheitschor gesungen, sondern muss als einsames Minderheitsvotum trällern – ein Riesenfortschritt!

Hart gestritten wird auch über einen neuen Compliance-Kodex, den Ihr als Rat gegen die Stimme von Veronika Grimm verabschiedet habt. Sie will den Kodex gerichtlich kippen. Ausgangspunkt war ein Streit über ihr Aufsichtsratsmandat bei Siemens Energy. Weder das Mandat noch die Arbeit im Rat will Veronika Grimm niederlegen. Wo liegt die rote Linie für Interessenskonflikte?

Aus Rücksicht auf das laufende Verfahren möchte ich mich dazu nicht äußern.