
Die erste Ausgabe des Buches des austromarxistischen Theoretikers und Politikers Otto Bauer erschien bereits 1925, es stellt einen wichtigen Beitrag zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte dar. Bauer (1881-1938) beschreibt die Durchsetzung des Kapitalismus in Österreich durch die Einhegung der Bauernrechte aus marxistischer Perspektive durch «ursprüngliche Akkumulation». Zudem war es Bauer ein Anliegen, diese Geschichte nicht als eine der Habsburger, sondern als eine Geschichte des Volkes zu erzählen. Verlag und Herausgeberin haben dieses Werk aus der Versenkung geholt und in einen aktuellen Kontext gestellt.
Sozialistische Agrarpolitik
Nachdem man erkannt hatte, dass die Revolution zur Durchsetzung des Sozialismus nicht mit dem städtischen Proletariat alleine möglich war, galt es für die österreichische Sozialdemokratie die Stimmen der ländlichen Bevölkerung zu gewinnen. Zu diesem Ziel gründete der Parteitag 1924 eine agrarpolitische Kommission, um eine sozialdemokratische Agrarpolitik zu entwickeln. Die Publikation Otto Bauers sollte die Basis dafür sein. Der Großteil seines Buches besteht in einer detaillierten Aufarbeitung der historischen Entwicklung der «Nutzungs- und Rechteverhältnisse an Grund und Boden» im Gebiet des heutigen Österreich seit Beginn der deutschsprachigen Besiedlung. Dieser Teil liest sich spannend wie ein Kriminalroman – nur dass niemand von den für das «Bauernlegen» Verantwortlichen am Ende zur Rechenschaft gezogen wird.
Der Autor schildert differenziert und detailreich die Veränderungen von Nutzungsrechten verschiedener Gruppen im Laufe der Zeit und welche Veränderungen im ländlichen Sozialgefüge daraus hervor gingen. Dabei bezieht er sich auf Zugangsrechte zu Wald und Ackerland und auf Jagdrechte, und differenziert sehr genau zwischen verschiedenen Regionen Österreichs. Er beginnt damit etwa im 9. Jahrhundert, als die Region noch sehr dünn besiedelt war und der Wald «herrenlos», jeder konnte ihn nach Belieben nutzen. Als die Siedlungen sich verdichteten, wurde es notwendig Wald und Weiden den einzelnen Gemeinden zuzuteilen, die diese als Gemeinbesitz nutzten. So entstand die «Gmein» oder «Gemein», der österreichische Ausdruck für die Allmende. Der Begriff des Eigentums an Grund und Boden war dem alten deutschen Recht fremd, allerdings gab es neben dem Volksrecht zur Nutzung von Wald und Weide noch das Königsrecht, das dem König das Recht zusprach, den Wald zur Jagd zu nutzen und nach Belieben an Grundherren zu verteilen. Aus diesem Konflikt zwischen Volks- und Königsrecht ging «der tausendjährige Kampf um Wald und Weide» hervor.
Klassenkämpfe
Die Fronten in diesem Kampf verliefen einerseits zwischen den Grundherren und den Bauern, andererseits zwischen den Bauern und dem Adel, der der Jagd frönen wollte. Die Bauern und Bäuerinnen litten unter dem Landraub durch die Grundherren und dem Waldraub durch den Adel und mussten beiden verschiedene Arbeitsdienste und Abgaben leisten. Eine immer weitere Ausdehnung der Jagdrechte brachte sie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Mit dem Aufkommen des Liberalismus und dem Erstarken einer nicht-adeligen Besitzerklasse differenzierte sich die Landbevölkerung immer weiter aus. Bereits lange vor dem Kapitalismus seien, so Bauer, im ländlichen Raum Klassen mit unterschiedlichen Interessenslagen entstanden. Aus den daraus resultierenden Klassenkämpfen ergaben sich immer wieder Veränderungen der Nutzungsrechte an der Gmein, was zur Entstehung eines landlosen «Dorfproletariats» führte. Auch die Bauernkriege beschreibt Bauer als Klassenkriege.
Nach der blutigen Niederschlagung der Bauernaufstände steigerten sich die von den Bauern geforderten Arbeits- und Abgabenleistungen noch. Erst in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden Besitz und Arbeitskraft der Bauern von den Habsburgern vor dem Zugriff der Grundherren geschützt, weniger aus Menschenfreundlichkeit, sondern weil sie sowohl die Geldabgaben der Bauern als auch ausreichend Nahrungsmittel für den Aufbau eines großen Heeres brauchten. Dieser «Fortschritt» hatte aus Sicht der Bauern auch eine Kehrseite. Mit der Zuteilung von Grund und Boden ging auch ein großer Teil der Nutzungsrechte an der Gmein verloren. Der aufgeklärte Absolutismus hat dem besitzlosen Dorfproletariat zwar die Freiheit gegeben, sich in Industriearbeiter zu verwandeln. Er hat aber auch die Auflösung des Gemeinbesitzes vorangetrieben, war also Wegbereiter des Kapitalismus.
Das sozialistische Agrarprogramm
In der kurzen Zeit der Demokratie nach der Revolution von 1848 kam es zum Ende der Untertanenverfassung und damit zur Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern, der Bauer wurde nun zum Bürger. Nach 1867 gelang es der «Großbourgeoisie» die bürgerliche Eigentumsordnung auf dem Land restlos umzusetzen, was die Ausgangslage für das geplante sozialdemokratische Agrarprogramm darstellte, das jedoch mangels Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten nie angewendet werden sollte.
In den letzten drei Kapiteln schließlich entwickelt Bauer ein Dreipunkteprogramm, wie in der Forst- und Landwirtschaft der Sozialismus in Österreich umgesetzt werden könnte. Er tut dies mit bemerkenswerter Sachkenntnis, sowohl in Bezug auf land- und forstwirtschaftliches Wissen als auch auf die Lebenssituation der Menschen am Land, und führt den kaum widerlegbaren Beweis, dass ein Ausgleich zwischen Forstwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion bei Erhalt der dazu notwendigen natürlichen Ressourcen im Kapitalismus nicht möglich ist. Sein Programm umfasst die Sozialisierung der Forstwirtschaft, die Wiederherstellung ausgedehnten Gemeindebesitzes in der Landwirtschaft und die Verstaatlichung des landwirtschaftlichen Großbesitzes.
Interessant in diesem Teil des Buches ist seine Vermittlung zwischen zwei verschiedenen in der sozialistischen Theorie damals vertretenen Sichtweisen in Bezug auf die Landwirtschaft. Die strittige Frage war, ob es auch in der Landwirtschaft zwangsweise zur Umstellung auf industrielle Großproduktion kommen musste, oder ob die Zukunft eher in bäuerlichen Kleinbetrieben liegen sollte. Bauer analysiert streng nach den Prämissen liberaler Ökonomie unter welchen Bedingungen sich welche Art der Bewirtschaftung durchsetzen würde. Obwohl auch er eher in Richtung Großbetriebe tendiert, sieht er gerade auch in der kleinräumigen Struktur in den Alpen einen Vorteil für bäuerliche Betriebe, spricht sich daher auch für eine Rückbesinnung auf die alten Nutzungsrechte aus.
Aktuelle Bezüge
Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen zu Commons und Vergesellschaftung, der Situation von Kleinbäuer*innen und Landlosen in den Ländern des globalen Südens, liest sich diese Erörterung erstaunlich aktuell. An vielen Stellen tauchen – ohne die gleichen Begriffe zu verwenden – Parallelen zur Forschung von Elinor Ostrom zu den Prinzipen funktionierender Commons auf. Die Herausgeberin Lisa Francesca Rail stellt in ihrem ausführlichen Vorwort Bauers historische Arbeit in genau jenen Kontext aktueller Diskussionen in der Agrar-, Ernährungs- und Bodenpolitik, benennt aber auch die – aus heutiger Sicht – blinden Flecken. Da ist zum einen die vollkommene Abwesenheit von Frauen, es wäre ein weiteres interessantes Forschungsthema, was die beschriebenen Prozesse jeweils für die Bäuerinnen bedeutet haben. Zum anderen finden wir bei Bauer auch, trotz seines fachlichen Wissens, wie Wald und fruchtbarer Boden erhalten werden können, ein rein instrumentelles Naturverhältnis. Auch sein Fortschritts- und Wissenschaftsoptimismus ist nicht mehr zeitgemäß. Trotzdem ist dasBuch eine lohnende Lektüre für alle, die sich mit Fragen eines Systemwandels beschäftigen.
Otto Bauer: Der Kampf um Wald und Weide. Studien zur österreichischen Agrargeschichte und Agrarpolitik. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Lisa Francesca Rail; Mandelbaum Verlag, Wien/Berlin 2024, 372 Seiten., 23 Euro