Interview | Parteien / Wahlanalysen - Rosalux International - Europa - Westeuropa - Europa solidarisch - Europa2024 «Europa braucht eine handlungsorientierte Linke»

Interview mit der Co-Vorsitzenden der Fraktion «Die Linke» im Europaparlament, Manon Aubry

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Manon Aubry (La France Insoumise) spricht in ein Mikrofon während einem Protest der Landwirt*innen gegen das Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Mercosur, Brüssel, 13.11.2024
«Die französische Gesellschaft ist in vier Gruppen gespalten: Linke, Liberale, extreme Rechte und Nicht-Wähler*innen. Und je mehr Letztere zur Wahl gehen, desto besser ergeht es der Linken.» Manon Aubry während einem Protest der Landwirt*innen gegen das Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Mercosur, Brüssel, 13.11.2024, Foto: IMAGO/Didier Lebrun

Der Vormarsch extrem rechter Kräfte in Europa setzte sich auch im Superwahljahr 2024 fort. Dass ihre Vertreter*innen nun auch Schlüsselpositionen in der Europäischen Kommission innehaben – ein Novum in der Geschichte des Kontinents –, ist ein schwerer Schlag für die traditionelle Koalition aus Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien. Unterdessen dürfte die Wahl von Donald Trump den Rechtsruck auf beiden Seiten des Atlantik weiter befördern.

Düsterer sieht hingegen die Lage der europäischen Linken aus, wenngleich ein genauer Blick ein nuancierteres Bild zutage fördert. Bei den Europawahlen konnten linke Parteien in einigen Ländern, etwa in Skandinavien, klare Zugewinne verbuchen, während sie in anderen, wie beispielsweise Deutschland, schlechte Ergebnisse einfuhren. Bereits vorhandene Spannungen brachen sich Bahn, als mehrere Parteien wenige Wochen nach den Wahlen die 2004 gegründete Partei der Europäischen Linken (EL) verließen, um die «Europäische Linksallianz für die Menschen und den Planeten» (ELA) zu gründen. Beide Zusammenschlüsse sind aber weiterhin Teil der gemeinsamen Fraktion «Die Linke» (The Left).

Manon Aubry ist Mitglied des Europäischen Parlaments für La France Insoumise und Co-Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament.

Angesichts dieser unwegsamen politischen Landschaft stellt sich die Frage, wie die sozialistisch gesinnten Kräfte sich jetzt neu aufstellen können. Was können sie von den vorangegangenen Wahlen lernen, auf welche Themen und Forderungen sollten sie in den kommenden Jahren setzen? Um mehr darüber zu erfahren, sprach Nessim Achouche vom Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Manon Aubry, der Co-Vorsitzenden der Linksfraktion im Europäischen Parlament. Konkret ging es um Aubrys Wahrnehmung der linken Mobilisierung in Europa und um die Entwicklung ihrer eigenen Partei, La France Insoumise («Unbeugsames Frankreich»).

 
Nessim Achouche: Die Ergebnisse der Linken bei den Europawahlen waren ziemlich durchwachsen. Großen Zugewinnen in manchen Ländern standen hohe Verluste anderswo gegenüber. Wie würdest du den Stand der Linken im Europäischen Parlament und in Europa insgesamt bewerten?

Manon Aubry: Was die allgemeine Stellung der Fraktion Die Linke im Europaparlament betrifft, so konnten wir unsere Sitzzahl von 38 auf 46 erhöhen. Die Fraktion ist also gewachsen – und das, obwohl das (im weiteren Sinne) linke Lager insgesamt schlecht abgeschnitten hat. Die Wahlergebnisse der Grünen sind in der gesamten EU eingebrochen, während die sozialdemokratischen Parteien ihren Anteil in etwa halten konnten. In gewisser Weise lässt sich also sagen, dass wir als einziger Teil der Linken Zugewinne verzeichnen konnten, obwohl die Prognosen vor den Wahlen sehr pessimistisch ausgesehen hatten. Beispielsweise schnitten wir in Frankreich, Finnland und Schweden hervorragend ab. Und natürlich freuen wir uns ganz besonders über die Rückkehr der italienischen Linken ins Europäische Parlament, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der extrem rechten Regierung dort.

Es liegt auf der Hand, dass die Linke in anderen Ländern eine schwierige Zeit durchmacht. Und das bringt uns gleich zur übergeordneten Frage, wie wir die Rolle der Linken vor dem Hintergrund des Rechtsrucks sehen. Ähnliche Fragen stellten sich auch anlässlich der US-Wahlen und der Wiederwahl Donald Trumps. In Sachen Strategie muss sich die Linke entscheiden: Will sie der Mitte nacheifern oder will sie ihre Radikalität beibehalten, ohne von unseren starken sozialen und ökologischen Ambitionen abzurücken, nur um potenzielle Bündnisse mit Mitte- oder Mitte-Rechts-Parteien eingehen zu können? Denn das ist es, was Kamala Harris gemacht hat. Sie versuchte, sich an den sogenannten moderaten Flügel der Republikaner anzubiedern, und verlor dabei Unterstützung in jenen Gruppen, bei denen die Demokraten eigentlich stark abschneiden sollten, etwa bei den Latinos.

Selbstverständlich gibt es große Unterschiede zwischen den USA und der EU. Dennoch sollte uns diese Erfahrung zu denken geben, vor allem angesichts der Stärke der extremen Rechten im Europäischen Parlament und der neu entstandenen Allianz zwischen der traditionellen Rechten und den extrem rechten Kräften. Unterdessen folgen die sozialdemokratischen Parteien unbeirrt ihrem alten Handlungsmuster, Bündnisse mit den Mitte-Rechts-Parteien schmieden zu wollen. Damit schwächen sie sich jedoch nur selbst, da wir bereits sehen konnten, dass die Europäische Volkspartei (EVP) sich lieber mit der extremen Rechten gegen die Mitte-Links-Kräfte verbündet. So war es bei den Haushaltsberatungen, so war es bei der Venezuela-Resolution, und so erlebten wir es bei den Debatten über die Regeln gegen Entwaldung, die jetzt für ein weiteres Jahr aufgeschoben wurden.

Die sozialdemokratischen Parteien müssen sich entscheiden: Wollen Sie ein Bündnis mit der EVP und der Rechten, wo sie in ihrer eigenen Koalition gefangen wären, oder wollen sie mit uns eine geeinte Front aufbauen?

Du hast darauf hingewiesen, dass die Europafraktion Die Linke bei den letzten Wahlen sogar gewachsen ist. Allerdings gab es auch starke Spannungen, die dazu führten, dass sieben Parteien, darunter auch La France insoumise, sich entschieden, die Europäische Linke (EL) zu verlassen und ein neues Bündnis zu schmieden: die Europäische Linksallianz für die Menschen und den Planeten (ELA). Warum war dieser Schritt aus deiner Sicht erforderlich, und wo wird sich die ELA von der EL unterscheiden?

Der eben erwähnte Kontext erfordert eine neue linke Dynamik – eine, die an die Fragen von heute andockt und die Jugend mit einem Ansatz abholt, der soziale und ökologische Fragen in einer gemeinsamen Strategie zusammenführt. Darüber hinaus brauchen wir eine Partei, die agiler und dynamischer ist und die neuen linken Bewegungen in der EU besser abbildet. Die Partei der Europäischen Linken ist im Europäischen Parlament nicht mehr so stark vertreten, zumal sie nicht die neuen linken Bewegungen, wie etwa La France insoumise, repräsentiert, die Feminismus, Antirassismus und das Zusammenwirken von ökologischen und sozialen Fragen in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen.

Wir möchten nicht in Konkurrenz zur EL auftreten oder diese gar spalten, sondern einen Neustart anbieten, der für alle offen ist. Bei unserer Analyse kamen wir zum Ergebnis, dass es einfacher sein würde, unsere politischen und strategischen Ziele mit komplett neuen Strukturen zu verfolgen.

Diese Ziele sind klar. Politisch möchten wir die einzige linke Partei außerhalb der Koalition von Ursula von der Leyen sein, zu der auch viele sozialdemokratische und grüne MEPs gehören. Wir stehen für klare Werte und den Willen zu regieren. Darüber hinaus möchten wir Sozialdemokrat*innen dafür gewinnen, eine starke linke Alternative voranzubringen, wie es in Frankreich möglich war, wo wir die politische Linke anhand klarer Ziele neu ausgerichtet haben. Dabei geht es nicht um Kompromisse, sondern um eine klare Vision, die sich in Regierungsverantwortung direkt umsetzen lässt. Auch das konnten wir mit unserer Arbeit zum französischen Staatshaushalt zeigen.

Des Weiteren möchten wir eine Alternative bieten zum Rechtsruck und zu neoliberalen Maßnahmen, die die Ungleichheit und die Zerstörung der Umwelt vorantreiben. Wir möchten eine Linke, die neue Ideen zu den elf Schwerpunktthemen hervorbringt, die wir in unserer politischen Plattform zusammengefasst haben und mit der wir von den Erfahrungen in verschiedenen Ländern lernen können. In Frankreich gelang uns beinahe der Einzug in die Regierung, und wir konnten so beweisen, welches Potenzial eine vereinte Linke mit einer radikalen Basis haben kann.

Und nicht zuletzt möchten wir eine handlungsorientierte Linke, die eng mit den Gewerkschaften, den NGOs und den sozialen Bewegungen verknüpft ist, statt einen rein technokratischen Zirkel, der sich in einem schicken Büro über abstrakte Fragestellungen austauscht. Konkret heißt das, dass wir Kampagnen zum Thema Wohnen brauchen, Steuererhöhungen für die Reichen, Maßnahmen zum Schutz der Umwelt, ein Ende des Krieges in Gaza und eine Antwort auf den erstarkenden Einfluss der Rechten. Eine Idee, die ich dazu habe, ist die Errichtung einer Beobachtungsstelle, die dokumentiert, wie die extreme Rechte im Europäischen Parlament und in den Ländern vorgeht, in denen sie regiert, um auf diese Weise ihre antifeministischen, antisozialen und rassistischen Positionen klar aufzeigen zu können.

Innerhalb der Europäischen Linksallianz gibt es dennoch politische Differenzen, insbesondere rund um die Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine. Setzen sich damit Debatten aus der Europäischen Linken in der ELA einfach fort?

Unsere politische Plattform hat einen ganz klaren Standpunkt zur Ukraine: Wie verurteilen den russischen Angriff, wir verteidigen die territoriale Integrität der Ukraine und wir befürworten finanzielle und humanitäre Unterstützung. Es mag kleine Meinungsverschiedenheiten zur Frage der militärischen Unterstützung geben, aber das ist kein großes Problem. Wir stimmen darin überein, Russland zu verurteilen und zu sanktionieren, die Ukraine zu unterstützen und Druck auszuüben mit Blick auf einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Diese drei Elemente stehen für unseren gemeinsamen Standpunkt und sie sollten, meiner Meinung nach, auch für die Linke der Weg in Richtung Frieden sein. Selbst Wolodymyr Selenskyj ruft zu Verhandlungen auf, weshalb der Krieg letzten Endes auch mittels Diplomatie beendet werden sollte.

Du hast die Erfahrung von La France insoumise als Beispiel dafür genannt, wie es auch in anderen Ländern klappen könnte. Und in der Tat haben sich viele europäische Linke vom Erfolg der Neuen Volksfront (NFP) bei den französischen Parlamentswahlen im letzten Juni inspirieren lassen. Doch obwohl die NFP die meisten Stimmen holte, blieb sie von der Regierung unter Präsident Emmanuel Macron ausgeschlossen, der lieber mit den Rechten zusammenarbeitet. Welche Rückschlüsse ziehst du daraus für den Zustand der Demokratie in Frankreich und mit Blick auf den Rechtsruck in Europa, einschließlich der Europäischen Kommission?

Der Vorgang zeigt, dass Liberale häufig die extreme Rechte einer Volksfront vorziehen, was uns leider einer Wiederholung der Entwicklung in den 1930er Jahren näherzubringen droht. Die extreme Rechte schützt die Interessen der Eliten; das ließ sich insbesondere bei den Haushaltsberatungen beobachten, als sie sich mit Macron zusammentat, um das Eigentum und den Wohlstand der Reichen zu schützen.

Die aktuelle französische Regierung steht für eine Koalition von Reichtum und Rassismus, der sich die Linke klar entgegenstellen muss. Mit seiner Politik begünstigt Macron die extreme Rechte und zieht dabei die Demokratie in Mitleidenschaft, indem er die Wahlergebnisse missachtet. Die Tatsache, dass er einen Ministerpräsidenten aus jener Partei ernannte, die aus den Wahlen als klare Verliererin hervorging, belegt sein unzureichendes Demokratieverständnis.

Unsere größte Herausforderung besteht darin, das Engagement der Wähler*innen hochzuhalten. Macrons Strategie scheint hingegen darauf abzuzielen, in der Bevölkerung Resignation sowie das Gefühl zu befördern, dass Wahlen nichts ändern. Für eine Linke, deren Erfolg von einer großen Mobilisierung abhängt, ist das gefährlich. Die jüngsten Entwicklungen in den USA zeigen, dass eine niedrigere Wahlbeteiligung unserer Seite stärker schadet. Um beim nächsten Mal eine klare Mehrheit erringen zu können, brauchen wir die höchste Wahlbeteiligung aller Zeiten. Macron will uns demoralisieren, doch wir müssen dagegenhalten und Widerstand leisten.

Denkst du, dass die NFP als politisches Bündnis jenseits der Wahlen Bestand haben kann?

Meiner Meinung nach sollte die Linke bei allen kommenden Wahlen vereint als Neue Volksfront antreten und einer Verwässerung ihres Programms vorbeugen. Manche in der französischen Sozialistischen Partei möchten diese Einheit schwächen und unsere Ambitionen schmälern. Wir hingegen möchten den vierten Block mobilisieren: die Nichtwähler*innen.

Die französische Gesellschaft ist in vier Gruppen gespalten: Linke, Liberale, extreme Rechte und Nicht-Wähler*innen. Und je mehr Letztere zur Wahl gehen, desto besser ergeht es der Linken. Untersuchungen zeigen, dass die Rechte keineswegs so dominant ist, wie es den Anschein haben mag. Es gibt einen breiten Rückhalt für linke Forderungen wie die Rente mit 60, einen höheren Mindestlohn und eine stärkere Besteuerung der Reichen. Daher gibt es auch eine reale Chance, dass wir zusätzliche Menschen mobilisieren können, die bislang nicht zur Wahl gegangen sind. La France insoumise ist eine Mobilisierung dieser Menschen durchaus gelungen. Deren höhere Beteiligung am Urnengang war schließlich der Schlüssel zu unserem Wahlerfolg.

Du hast die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus erwähnt. Welche Auswirkungen wird eine zweite Trump-Präsidentschaft auf die EU haben, und was kann Europa – oder genauer gesagt: die europäische Linke – tun, um der Gefahr zu begegnen, die von ihm ausgeht?

Donald Trumps Wahlsieg ist ganz offensichtlich eine Katastrophe, insbesondere für jene, die am stärksten unter seiner Politik zu leiden haben werden: Migrant*innen, Frauen und die LGBTQ-Community. Aber das ist keine Überraschung. Denn die US-amerikanische Gesellschaft war in den letzten Jahren davon geprägt, dass arbeitende Menschen sich mit einer sehr hohen Inflation und extremen Preissteigerungen konfrontiert sahen, und die Wahrheit ist, dass die Demokraten nicht genug dagegen unternommen haben. Damit verloren sie die Unterstützung der Arbeiterklasse, während Trump den verzweifelten Wähler*innen einfache Antworten lieferte. Ich denke, es war naiv zu glauben, dass die Demokraten unter solchen Umständen die Chance auf einen Wahlsieg besaßen.

Ein weiterer Faktor, der zur Niederlage der Demokraten beitrug, war deren Weigerung, für Frieden in Palästina einzustehen und sich damit deutlich von Trump abzusetzen. Trump wird Netanjahu weiter bedingungslos unterstützen, weshalb Europa die Aufgabe zukommt, die Stimme des Friedens zu sein und sich nicht weiter an Israels Verbrechen zu beteiligen. Zu einer solchen Politik würde es gehören, Sanktionen zu erlassen, ein Waffenembargo in Kraft zu setzen und das EU-Israel-Assoziationsabkommen zu beenden.

Ich würde gerne glauben, dass Trumps Sieg zu einer Art Weckruf für die EU wird. In Wahrheit werden die Eliten sich ausgiebig darüber austauschen, nach dem Motto: «Wir müssen aufhören, naiv zu sein, wir können uns nicht länger auf die USA verlassen», usw. Am Ende werden sie jedoch eine europäische Verteidigungsstrategie aus dem Hut zaubern, die vollständig an der NATO ausgerichtet ist, und weiterhin Freihandelsabkommen mit den USA und anderen Ländern unterzeichnen, die unsere Souveränität untergraben.

Gerade jetzt steht die EU kurz vor der Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens mit dem Mercosur, in deren Folge landwirtschaftliche Produkte vom anderen Ende der Welt Zugang zu unserem Markt erhalten werden, die nach deutlich weniger strikten gesundheitlichen und ökologischen Kriterien hergestellt wurden. Und während die Vereinigten Staaten Einfuhrzölle von 100 Prozent auf Autos erheben, geht die EU das Thema mit 30 Prozent zögerlicher an. Das ist einfach lächerlich. Die EU ist nicht in der Lage, diese Branche hinreichend zu schützen – und das zu einer Zeit, in der Audi, Volkswagen und so viele andere Unternehmen Stellen abbauen. Aus dieser Warte betrachtet sieht es keinesfalls so aus, als ob die EU irgendwelche Lehren aus dem Wahlsieg von Trump gezogen hätte.
 

Übersetzung von Sebastian Landsberger und Charlotte Thießen für Gegensatz Translation Collective.