Hintergrund | Stadt / Kommune / Region - Mexiko / Mittelamerika / Kuba - Autoritarismus Sind Utopien von Oben möglich?

Staatliche Kulturzentren und soziale Transformation in Mexiko-Stadt

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Öffentlicher Raum für alle: Tanzende in einem kostenlosen Zumba-Kurs in der Utopía Meyehualco, Iztapalapa
Öffentlicher Raum für alle: Tanzende in einem kostenlosen Zumba-Kurs in der Utopía Meyehualco, Iztapalapa
  CC BY 2.0, Bild: Claudia Campos / Secretaría de Cultura de la CDMX

100 UTOPIAS in der Metropole Mexiko-Stadt hat sich die neue Oberbürgermeisterin Clara Brugada zum ambitionierten Ziel gesetzt. Die Kultur-, Freizeit- und Bildungseinrichtungen, die sie unter diesem Namen als Bürgermeisterin des Hauptstadtbezirks Iztapalapa in den vergangenen Jahren einweihte, gelten als erfolgreiches Experiment für soziale Transformation in den verarmten Randgebieten der Stadt. Nun müssen sie ihre Zukunftsfähigkeit beweisen.

Der Kontrast könnte kaum größer sein. Eine enorme Betonmauer umfasst das Ostgefängnis von Mexiko-Stadt im Bezirk Iztapalapa. Etwa 5500 männliche Häftlinge sind dort untergebracht. Entlang eines langen Teilstücks der Mauer, aber auf ihrer anderen Seite, befindet sich ein öffentliches Areal mit dem Namen UTOPIA Libertad – UTOPIE Freiheit. Das mag auf den ersten Blick zynisch wirken. Doch dahinter steckt ein Konzept, das das Leben der fast zwei Millionen Bewohner*innen des als gewalttätig und «sozialen Brennpunkt» wahrgenommenen Stadtbezirks grundlegend verändern soll.

Gerold Schmidt ist Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Mexiko-Stadt. Carla Vázquez Mendieta arbeitet im dortigen Team als Projektkoordinatorin.

Auf einer Fläche von sechs Hektar befinden sich unter anderem ein Gemüsegarten, ein Schwimmbecken mit 25-Meter-Bahn, ein Planetarium, mehrere Sportplätze und ein kleines Aquarium mit dem endemischen, nur in einigen Stadtgewässern vorkommenden Schwanzlurch Axolotl. Besucher*innen können einen kleinen Bauernhof besuchen, es gibt einen Gemeinschaftswaschsalon und viele Gebäude, in deren Raumen unterschiedlichste Kurse, Rechtsberatung und psychologische Unterstützung angeboten werden. Die Gebäude sind nach ökologischen Kriterien errichtet, zum Teil mit Bambusgerüsten und in Lehmbauweise.

Die zum Ostgefängnis gehörende Betonmauer ist mit Wandmalereien verziert. Unter anderem mit einem großen Wandbild, das die Revolutionärin Rosa Luxemburg zeigt. Daneben in die Luft gereckte Fäuste mit grünen Tüchern um die Handgelenke. Sie symbolisieren die Proteste der feministischen Bewegungen für das Recht, über ihren Körper entscheiden zu können. Eingeweiht wurde die Wandmalerei 2023. Damals gründeten aus lateinamerikanischen Ländern kommende politisch aktive Frauen auf dem Gelände der UTOPIA Libertad die Feministische Internationale.

Symbolik und bewusste Planung sind überall auf dem tagsüber frei zugänglichen Areal zu entdecken. Noch vor wenigen Jahren war hier ein vermülltes und überwuchertes Grundstück, eine Pufferzone zwischen Gefängnis und Wohnbebauung. Die meisten Anwohner*innen machten einen weiten Bogen um die als unsicher verschriene Brachfläche, die als Pufferzone zum Gefängnis dient.

Hinter der radikalen Umgestaltung stehen viele Personen, aber vor allem ein Name: Clara Brugada, von 2018 bis 2023 Bürgermeisterin des Stadtbezirks Iztapalapas «Wir wollen die jungen Leute nicht in den Knästen. Damit wir das erreichen, müssen sie Zugang zu den wesentlichen Rechten bekommen: Bildung, Gesundheit, würdige Beschäftigung, würdiger Lohn, eine Lebensalternative» erklärte Brugada, als sie die UTOPIA Libertad im Februar 2023 eröffnete. Die Einrichtung soll ihren Teil zu dieser Zielvorstellung beitragen.

Schafft zwei, drei, zwölf Utopien

UTOPIA(S) ist auf Spanisch die Abkürzung des sperrigen Namens «Transformations- und Organisationseinrichtungen für Inklusion und Soziale Harmonie». Die Angebote der UTOPIAS sind für die Bevölkerung weitgehend kostenlos. Für den Stadtbezirk Iztapalapa dagegen ist die Investition beträchtlich. Bis zu 100 Millionen mexikanische Pesos, etwa fünf Millionen Euro kosten Bau und Einrichtung einer einzigen Utopia. Dazu kommen jährlich knapp 8.5 Millionen Pesos (mehr als 400.000 Euro) für Instandhaltung und Personalkosten jedes der Zentren. Die konservative Opposition kritisiert, dieses Geld sollte besser in gute Infrastruktur und eine bessere Trinkwasserversorgung investiert werden. Brugadas Team argumentiert dagegen mit abnehmenden Delikten und einer sich sicherer fühlenden Bevölkerung aufgrund des innovativen sozialpolitischen Ansatzes im Stadtbezirk. Die Zustimmung an den Wahlurnen scheint das zu bestätigen: Die Utopias machten Brugada weit über die Grenzen Iztapalapas in Mexiko-Stadt bekannt und waren ein wichtiger Faktor, der sie in das Amt der Oberbürgermeisterin von Mexiko-Stadt katapultierte, das sie am 5. Oktober 2024 antrat.

Die erwähnte UTOPIA Libertad gehört zu inzwischen zwölf Arealen dieser Art im Stadtteil Iztapalapa. Die jeweiligen Standorte sind bewusst ausgesucht. Zwar spielte die Verfügbarkeit von geeigneten Grundstücken eine Rolle. Doch im Vordergrund stand und steht die Überlegung, die UTOPIAS dort zu platzieren, wo das Kultur-, Freizeit- und Bildungsangebot für die Bevölkerung besonders knapp ist und viele Menschen keine Arbeit haben. In der Regel handelt es sich gleichzeitig um Zonen mit einer relativ hohen Kriminalität. In Iztapalapa gelten 43 Prozent der Bewohner*innen als arm. Die Mehrheit ist nicht sozialversichert und hat kaum Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung und ausgewogener Ernährung. Die Menschen dort sind billige und leicht auszubeutende Arbeitsarbeitskräfte. Viele arbeiten im Dienstleistungssektor, oft in Haushalten in wohlhabenderen Stadtteilen mit ausgebauter Infrastruktur. Bei der Infrastruktur für die Menschen in Iztapalapa glänzte der Staat dagegen lange durch Abwesenheit.

Der Stadtbezirk teilt damit das Schicksal vieler Peripherien in jahrzehntelang von neoliberaler Politik geprägten Großstädten. Dort drängen sich auf engem Raum die Menschen, die aus ländlichen Gebieten zuwandern oder aus den teurer gewordenen Stadtteilen weichen mussten, in denen die Konsumgesellschaft keinen Platz mehr für sie hatte. Viele der Anwohner*innen leben vereinzelt und einsam. Nachbarschaftsnetze funktionieren oft nicht mehr. In den Straßen sind immer weniger spielende Kinder anzutreffen, dafür immer mehr Überwachungskameras. Die Menschen verstecken sich hinter Stacheldraht und Sicherheitsschlössern. Allerdings sind in Iztapalapa auch soziale urbane Bewegungen entstanden, die angesichts fehlender staatlicher Unterstützung schon lange auf selbstverwalteten Wohnungsbau und selbstorganisierte Strom- und Wasserversorgung setzen.

Mit den UTOPIAS hat sich das Image des Stadtteils geändert. Jede UTOPIA hat eine etwas andere thematische Ausrichtung, doch alle sind großzügig ausgestattet. Sie sollen die Idee vermitteln, einer Bevölkerung Gerechtigkeit zukommen zu lassen, auf die lange Zeit diskriminierend herabgeschaut wurde. Im April 2023 weihte die Stadtteilregierung die UTOPIA Barco (Schiff) ein. Ein Gebäude von mehr als 4000 Quadratmetern, in deren «Schiffsbauch» sich das größte interaktive digitale Aquarium Lateinamerikas sowie ein Museum über die Klimakrise befinden. Viele Workshops und Gesprächsangebote auf diesem Schiff richten sich an Heranwachsende und Frauen. Sie thematisieren die strukturelle Gewalt in Familien und gesellschaftlichen Strukturen, die aus sozialen und ökonomischen Ungleichheiten resultieren. Das Schiff steht für «die kollektive Seefahrt, die wir Menschen als Bewohner*innen dieses Planeten unternehmen», so heißt es in der digitalen Präsentation.

Auf dem Gelände von drei anderen UTOPIAS stehen umgebaute Boeing 737. Sie dienen als Bibliotheken und Spielflächen. Das Motto: «Wir fliegen zu den Utopien». Doch das Angebot beschränkt sich nicht darauf: In den Utopien gibt es neben Leseworkshops auch Boxkurse, Parkour-Routen und Laufpisten, Veranstaltungssäle für mehrere hundert Personen. Oder ein archäologisches Museum, mit dem die vorspanische Geschichte des Stadtbezirks in Erinnerung gerufen wird. Die UTOPIA Meyehualco lockt mit dem Jurassic Park Iztapasauria.

Viele UTOPIAS haben besondere Gesundheitsangebote für Frauen. Sie gehen auf das Thema Sorgearbeit und häusliche Gewalt ein. Die Beratung zielt auch auf die physische und mentale Gesundheit der Frauen. Sie bekommen in den UTOPIAS psychologische und rechtliche Begleitung, wenn Gewalt gegen sie ausgeübt wird. Das Thema Selbstsorge wird ebenfalls in einigen UTOPIAS aufgegriffen. Dazu gehört dann beispielsweise ein einstündiges «Wellness-Angebot» für die Frauen, um sich einmal selbst verwöhnen zu lassen.

Aneignung durch die Bevölkerung notwendig

«Mit den UTOPIEN haben wir erreicht, dass das Unmögliche sich in etwas Alltägliches verwandelt. Wir haben nicht nur Räume zurückgewonnen und sie in integrale Zentren für gemeindebasierte Entwicklung transformiert. Sondern wir setzen auf die Wiederherstellung des sozialen Zusammenhalts, die Kohäsion in den Vierteln und die Beteiligung der umliegenden Gemeinschaften. Wir wollen teilhabende Prozesse schaffen, bei denen sie in die Planung und die Entwicklung der Stadt einbezogen sind», sagt Clara Brugada.

Das mag noch ein Wunschtraum sein. Aber die UTOPIEN sind ein Beitrag für das Recht auf Stadt der marginalisierten Bevölkerung, ein Freizeit- und Bildungsangebot abseits der oft elitären Kulturzirkel. Inzwischen kommen täglich etwa 15000 Menschen in die UTOPIAS, an den Wochenenden sind es noch wesentlich mehr. In den ersten zwei Jahren ihres Bestehens verzeichneten die UTOPIAS mehr als acht Millionen Besucher*innen. Als Oberbürgermeisterin will Clara Brugada die UTOPIAS auf alle 16 Stadtbezirke von Mexiko-Stadt ausweiten, der Schwerpunkt bleiben vernachlässigte Peripherien. Der Ausbau auf 100 UTOPIAS in ihrer 2030 endenden Amtszeit ist das ambitionierte Ziel.

In einer von Millionen Tonnen Zement und Asphalt verstümmelten Stadt mit enormen sozialen Unterschieden sind die UTOPIAS ein Lichtblick. Die großzügig angelegten UTOPIEN sind ein neues Modell für die gesellschaftliche Nutzung der öffentlichen Räume und der Freizeit. Doch eine von Oben beaufsichtigte Utopie kann nicht auf Dauer Bestand haben, wenn keine Aneignung von Unten stattfindet. Die Bevölkerung muss die Dynamik diese Räume entscheidend kollektiv mitbestimmen und auf ihre Bedürfnisse vor Ort ausrichten. Nur so werden die UTOPIAS sich unabhängig von den jeweiligen Regierungen behaupten und nicht einfach von deren politischen Willen abhängen.

Der Artikel wurde erstveröffentlicht in der Ausgabe 210 des Südlink zu «Utopien».