Am frühen Sonntagmorgen erreichten mich zahlreiche Nachrichten mit Bildern und Videos aus der nordsyrischen Stadt Qamischli. Auf ihnen waren tanzende und singende Menschen zu sehen, die in der kurdisch dominierten Stadt soeben die überlebensgroße Statue von Hafiz al-Assad gestürzt hatten.
Der 8. Dezember markierte das Ende der Diktatur in Syrien. Mehr als fünfzig Jahre lang hatte die Assad-Familie die Bevölkerung auf brutale Weise unterdrückt. Baschar al-Assad floh nach Russland, das ihm aus «humanitären Gründen» Asyl gewährte. Er ist verantwortlich für zahlreiche Verbrechen, wie den Einsatz von Fassbomben und Chemiewaffen, ethnische Säuberungen, systematische Folter und staatlichen Mord.
Christopher Wimmer ist Soziologe und Autor. 2022 lebte er für mehrere Monate in Nord- und Ostsyrien. Sein Buch «Land der Utopie? Alltag in Rojava» erschien bei der Edition Nautilus.
Nach dem Sturz des Diktators feierten viele Menschen in Syrien, so auch im kurdischen Nordosten des Landes. Doch dort dauert der Krieg an. Islamisten greifen mit türkischer Unterstützung die Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien an, bekannt unter dem Namen Rojava. Zehntausende Menschen sind auf der Flucht, es droht eine humanitäre Katastrophe.
In der Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien organisieren die Menschen sich seit über zehn Jahren selbst – unabhängig vom syrischen Staat. Im Zuge des Bürgerkriegs hatten die kurdisch dominierten Regionen des Landes im Jahr 2012 ihre Unabhängigkeit vom Regime erklärt. 2014 wurden die drei ersten Kantone Cizire, Kobane und Afrin ausgerufen. Rojava wurde zu einem weltweiten Symbol für den Kampf gegen den «Islamischen Staat» (IS) und für den Aufbau basisdemokratischer Strukturen. Bis zum Sturz Assads weitete die Selbstverwaltung sich aus und umfasste schließlich rund ein Drittel Syriens. Sie war damit Heimat für schätzungsweise vier Millionen Menschen – unter ihnen Araber*innen, Kurd*innen, Jesid*innen und Christ*innen. Die gesamte Region wird von Räten und Komitees verwaltet, in denen die Bevölkerung direkt an der lokalen Politik teilhaben kann.
Türkische Interessen
Nun steht Rojava vor einer existenziellen Bedrohung durch Angriffe der islamistischen «Syrischen Nationalen Armee» (SNA), die von der Türkei unterstützt wird. Ankara nutzt den Staatszerfall, um seine seit Jahren verfolgten Ziele in Nordsyrien zu erreichen. Die türkische Regierung betrachtet Rojava lediglich als verlängerten Arm der in der Türkei verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat daher in den letzten Jahren immer wieder angekündigt, eine dreißig Kilometer breite Sicherheitszone entlang der südlichen Grenze in Syrien errichten zu wollen, die das Ende der Selbstverwaltung bedeuten würde. Die aktuellen Entwicklungen deuten darauf hin, dass er diesen Plan nun umsetzen will.
Nachdem die Türkei bereits mehrfach völkerrechtswidrig in Nordsyrien eingefallen ist – wie 2018 in Afrin und 2019 in Tel Abyad und Sere Kaniye, wo sie seitdem große Teile der Region besetzt hält –, eroberten SNA-Milizen jüngst die Stadt Tall Rifaat nördlich von Aleppo und rückten seit Wochenbeginn auf die Stadt Manbidsch westlich des Euphrats vor. Beide arabisch dominierten Gebiete gehörten seit der Befreiung vom IS zur Selbstverwaltung. Nach mehreren Tagen blutiger Kämpfe nahm die SNA am Morgen des 10. Dezember 2024 Manbidsch ein.
Unser Ziel ist ein Waffenstillstand in ganz Syrien und die Einleitung eines politischen Prozesses zur Zukunft des Landes.
Die «Demokratischen Kräfte Syriens» (SDF), das multiethnische Militärbündnis der Selbstverwaltung, hatten eigenen Angaben zufolge zuvor mehrere Angriffsversuche abwehren können. Am Mittwochmorgen erklärte schließlich der SDF-Generalkommandant Mazlum Abdi, einer unter US-Vermittlung ausgehandelten Waffenruhe zugestimmt zu haben. «Die Kämpfer des Militärrats von Manbidsch werden sich so bald wie möglich aus dem Gebiet zurückziehen», so Abdi. Das Abkommen sei geschlossen worden, um die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu gewährleisten. «Unser Ziel ist ein Waffenstillstand in ganz Syrien und die Einleitung eines politischen Prozesses zur Zukunft des Landes», so Abdi weiter.
Die Kämpfe halten weiter östlich jedoch an und konzentrieren sich aktuell an der Qara-Qozak-Brücke über den Euphrat. Parallel greift die Türkei mit Luftschlägen die nordsyrische Stadt Kobane an. Von der Brücke bis nach Kobane sind es lediglich dreißig Kilometer.
Die Stadt Kobane war 2015 zu einem Symbol des Kampfes gegen den IS geworden, nachdem kurdische Verteidigungseinheiten – mit Unterstützung der von den USA geführten internationalen Anti-IS-Koalition – die Radikalislamisten erstmals zurückdrängen konnten. Nun droht der Stadt eine erneute islamistische Belagerung. «Ein Rückfall Syriens in die blutigsten Tage des Bürgerkriegs muss verhindert werden. Nur wenn die Türkei ihre Eskalation stoppt, können wir die historische Chance für eine friedliche Lösung des Konflikts nutzen», erklärte Khaled Davrisch, der Repräsentant der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Deutschland. «So wie 2015 die ganze Welt um Kobane bangte, könnte sich nun erneut die Zukunft Syriens in Kobane entscheiden», so Davrisch weiter.
Flucht und Vertreibung
Bislang deutet jedoch wenig auf eine politische Lösung hin, auch wenn sie von der Selbstverwaltung und der SDF seit dem Sturz Assads immer wieder gefordert wird. Die humanitären Folgen der SNA-Angriffe hingegen sind verheerend. Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in London berichtet, dass es nach den Kämpfen um Manbidsch zu schweren Menschenrechtsverletzungen durch die einrückenden Truppen gekommen sei. SNA-Milizionäre sollen verwundete SDF-Kämpfer in einem Krankenhaus hingerichtet haben. Zudem soll es zu Plünderungen gegen die kurdische Bevölkerung in der multiethnischen Stadt gekommen sein.
Zudem mussten zahlreiche Menschen aus jenen Gebieten fliehen, die von den Islamisten besetzt wurden. Laut Angaben der Hilfsorganisationen medico international und des Kurdischen Roten Halbmonds wurden über 120.000 Menschen aus der Region um Aleppo und Tall Rifaat vertrieben. Die aus dem kurdischen Kanton Afrin Geflohenen hatten dort seit 2018 in informellen Siedlungen und Flüchtlingslagern gelebt. Nun müssen sie erneut fliehen, es gibt Berichte über Folter und Tötungen.
Die Versorgung der Vertriebenen in Rojava und anderen Teilen Syriens muss Priorität besitzen. Dazu gehört die Bereitstellung von Nahrung, Zelten und Medikamenten sowie die Schaffung sicherer Fluchtkorridore.
Inzwischen sind die Menschen auf dem Gebiet der Selbstverwaltung östlich des Euphrats angekommen; in den Städten Tabqa und Raqqa wurden erste Anlaufstellen errichtet. Die Bedingungen sind indes verheerend, es mangelt an allem: Medikamente, Nahrung, Zelte. Mehrere Kinder starben bereits an Unterkühlung. Auch die hygienischen Bedingungen sind schlecht, Krankheiten breiten sich aus.
Internationale Handlungsoptionen
Die wiederholten Vertreibungen verdeutlichen, wie ethnische und religiöse Minderheiten im syrischen Konflikt zur Zielscheibe geopolitischer Interessen werden. Die internationale Gemeinschaft hat die Eskalation der Gewalt in Nordsyrien bislang weitgehend ignoriert. Insbesondere die NATO-Mitgliedschaft der Türkei sowie der «Flüchtlingsdeal» der EU mit Ankara erschweren eine klare Verurteilung der türkischen Angriffe. Zudem hat der Fokus westlicher Länder auf den Ukraine-Krieg dazu geführt, dass die humanitäre Katastrophe in Syrien kaum Beachtung findet.
Dabei wäre es jetzt an der Zeit, klare Signale zu setzen: Die Versorgung der Vertriebenen in Rojava und anderen Teilen Syriens muss Priorität besitzen. Dazu gehört die Bereitstellung von Nahrung, Zelten und Medikamenten sowie die Schaffung sicherer Fluchtkorridore.
Die Türkei muss für ihre wiederholten Verletzungen des Völkerrechts und für die Kriegsverbrechen der von ihr unterstützten SNA-Milizen zur Verantwortung gezogen werden.
Die Autonome Selbstverwaltung hat bewiesen, dass sie ein stabilisierender Faktor in der Region sein kann. Ihre Anerkennung als politischer Akteur würde nicht nur ihre Position stärken, sondern auch den Druck auf die Türkei erhöhen, die Offensive zu beenden. Daher sollte auch der Aufruf der Selbstverwaltung zu einem von den Vereinten Nationen vermittelten Waffenstillstand unterstützt werden. Denn nur durch einen umfassenden Dialog können die Weichen für eine nachhaltige Friedensordnung in Syrien gestellt werden. Dazu gehört auch, dass die internationale Gemeinschaft die Türkei für ihre wiederholten Verletzungen des Völkerrechts und für die Kriegsverbrechen der SNA-Milizen, die mit dem Wissen und der Billigung Ankaras geschehen, zur Verantwortung zieht.
Die Zukunft Rojavas steht auf dem Spiel. Inmitten von geopolitischen Machtspielen und regionalen Interessen drohen die Errungenschaften der Selbstverwaltung zunichtegemacht zu werden. Ohne entschiedenes Handeln der internationalen Gemeinschaft wird die humanitäre Katastrophe in Syrien weiter eskalieren. Der Kampf um Rojava ist dabei nicht nur ein Kampf um die territoriale Kontrolle einzelner Gebiete, sondern auch um die Zukunft von Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung in Syrien und im gesamten Nahen Osten.