Der politische Linksruck in Lateinamerika, der 1998 mit dem Wahlsieg von Hugo Chávez in Venezuela begann, ist weltweit als Marea Rosa («rosarote Welle») bekanntgeworden. Mit dem brasilianischen Politikwissenschaftler und ehemaligen Vorsitzenden der linken Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) Juliano Medeiros sprachen wir darüber, wie Lateinamerikas Linke 25 Jahre später auf die rosarote Welle blickt und welche Lehren sich aus ihren Siegen und Niederlagen ziehen lassen.
Mitte der 2010er Jahre war viel vom »Ende des progressiven Zyklus» in Lateinamerika die Rede. Seitdem haben wir breite soziale Bewegungen und linke Wahlsiege in Ländern wie Kolumbien, Chile, Mexiko und nun zuletzt in Uruguay erlebt; in Brasilien ist Lula nach einem rechtsextremen Intermezzo zurückgekehrt. Haben wir es mit einer zweiten progressiven Welle zu tun?
Juliano Madeiros: Ich glaube nicht, dass man sagen kann, dass wir jetzt eine neue Welle erleben, denn es fehlt der gemeinsame strategische Horizont, der die erste Welle ausmachte.
Damals, im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, erlebten Südamerika und ein Teil Zentralamerikas eine Welle der Demokratisierung, bei der linke sowie links der Mitte zu verortende Parteien und Bewegungen Wahlsiege erzielten. Es ging ihnen nicht nur um die Konsolidierung der demokratischen Systeme ihrer Länder, sondern auch um die Verringerung der Ungleichheit, die Wiedererlangung der Kontrolle über strategische Ressourcen und eine souveräne Zusammenarbeit zwischen den Ländern der Region.
Innerhalb dieser Welle gab es jedoch zwei Tendenzen. Die eine bestand aus den Regierungen von Venezuela, Ecuador und Bolivien, die ein Programm der staatlichen Neugründung verfolgten. Bei der anderen Tendenz handelt es sich um politische Projekte zur Eindämmung des Neoliberalismus, vertreten durch die Regierungen von Lula in Brasilien, Bachelet in Chile, Kirchner in Argentinien und der Frente Amplio in Uruguay.
Juliano Medeiros ist ein brasilianischer Historiker und promovierter Politikwissenschaftler. 2015 bis 2017 war er Geschäftsführer der Lauro Campos-Marielle Franco Stiftung und von 2018 bis 2023 Vorsitzender der sozialistischen Partei Partido Socialismo e Liberdade (PSOL). Derzeit lehrt er als Gastdozent an der Fundação Escola de Sociologia e Política de São Paulo (FESPSP). Zu seinen Forschungsinteressen gehören (neue) soziale Bewegungen, politische Parteien, demokratische Institutionen und die Folgen und Ausprägungen der neoliberalen Wirtschaftsordnung in Lateinamerika.
Wenn wir vom Ende der progressiven Welle sprechen, meinen wir damit das Ende des Zyklus der fortschrittlichen Regierungen dieser zweiten Gruppe, deren soziale Reformen von der erfolgreichen Integration in die Dynamik des Finanzmarktkapitalismus abhingen, der von der 2008 einsetzenden Krise schwer getroffen wurde.
Die Linksregierungen der frühen 2000er-Jahre konnten ihre Sozialprogramme dank des Anstiegs der Rohstoffpreise finanzieren. Heute, angesichts der ökologischen Krise, scheint dieses von fossilen Brennstoffen getragene Wachstumsmodell nicht mehr erstrebenswert. Wie gut sind die derzeitigen linken Regierungen für eine Wirtschaft ohne fossile Brennstoffe vorbereitet?
Bemerkenswerterweise hält sich in der lateinamerikanischen Linken eine entwicklungspolitische Sichtweise hartnäckig, die in der Ausbeutung von Bodenschätzen wie fossilen Brennstoffen einen Weg zur autonomen Entwicklung sieht. Diese Sichtweise ist, gelinde gesagt, naiv. Erstens, weil es so etwas wie eine autonome Entwicklung in der gegenwärtigen internationalen Arbeitsteilung nicht gibt; zweitens, weil sie die Mittel ignoriert, mit denen jede Entwicklung, die nicht den Interessen des Nordens untergeordnet ist, unterbunden werden kann - politische, wirtschaftliche oder sogar militärische Mittel; und drittens, weil sie die tragischen ökologischen Folgen ignoriert, die dieses Modell mit sich bringt. Leider ist dieses Denken in der Linken in Ländern wie Brasilien, Venezuela, Bolivien und Argentinien immer noch vorherrschend. Glücklicherweise gewinnen Initiativen, die sich dieser Logik widersetzen, allmählich an Schwung, angetrieben von den Regierungen Kolumbiens und Chiles sowie von Widerstandsbewegungen in Ecuador und Peru.
Die Marea Rosa zeichnete sich sowohl durch charismatische Führungspersonen als auch durch eine starke Verbindung zu Basisbewegungen und Kollektiven aus. Die venezolanische Erfahrung lehrt uns, dass diese Beziehung auch einseitig werden und in Richtung eines autoritären Caudillismus kippen kann. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Lehren daraus, was das Verhältnis von linken Regierungen und sozialen Bewegungen angeht?
Prozesse eines grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandels können sich nicht ohne breite Unterstützung der Bevölkerung entwickeln. Nicht umsonst waren die Länder, die die tiefgreifendsten Veränderungen erlebten, genau jene, in denen der Widerstand und der Organisationsgrad der Bevölkerung gegen den Neoliberalismus am stärksten waren, also in Venezuela, Bolivien und Ecuador. Wir haben jedoch zwei Phänomene beobachtet: erstens die Eingliederung vieler Bewegungen in den Staat, was auf Kosten des kritischen Dialogs mit sozialen Gruppen außerhalb des Staatsapparats ging, und zweitens die Isolation, die den Bewegungen auferlegt wurde, die nicht vollständig mit dem Projekt der Regierung übereinstimmten. Eine der wichtigsten Lehren ist meines Erachtens daher die Notwendigkeit, einen ständigen Dialog mit den sozialen Bewegungen aufrechtzuerhalten, indem überstaatliche institutionelle Räume geschaffen werden, in denen Konflikte und Meinungsverschiedenheiten ausgetragen und geklärt werden können.
In den letzten Jahren haben eine Vielzahl neue sozialen Bewegungen die politische Bühne in Lateinamerika betreten: Etwa die feministische «Grüne Welle» in zahlreichen Ländern, die Sozialrevolten in Chile 2019 und Kolumbien 2021, der Widerstand gegen die extrem rechte Bolsonaro-Regierung, der stark von afrobrasilianischen, indigenen und queeren Menschen getragen wurde. Das alles sind Bewegungen, deren Aktivist*innen oft nicht in den traditionellen linken Parteien und Organisationen verankert sind. Hat die Linke eine Antwort auf die Anliegen dieser Bewegungen? Welche Herausforderungen gibt es im Verhältnis zu ihnen?
Diese Bewegungen - die ich in meinem Buch «A nova esquerda da América Latina» als die neue Linke bezeichne - sind Ausdruck der Veränderungen in der Arbeitswelt, des Fehlens einer Klassenidentität und neuer Konflikte, die mit dem Neoliberalismus entstanden sind. Das sind keine postkapitalistischen Kämpfe, wie manche behaupten, sondern sie gehen über den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit hinaus, obwohl sie eine Folge davon sind. Daher ist es ein Fehler, sie zu leugnen, oder sie in abwertender Weise als identitär zu bezeichnen, wie es einige in der traditionellen Linken tun. Es ist vielmehr notwendig, diese Kämpfe als Ausdruck der Veränderungen unserer Zeit zu verstehen. Wir sollten dazu beitragen, in unseren Kämpfen ihre gesamtgesellschaftliche Bedeutung hervorzuheben, die über individuelle und partikularistische Forderungen hinausgeht und breite Bündnisse schaffen, die um gesellschaftliche Hegemonie und strukturelle Veränderungen kämpfen können.
Nicht nur in Brasilien, sondern in vielen Ländern Lateinamerikas gibt es das wachsende Problem, dass traditionelle linke Wähler*innen plötzlich rechts wählen. Welche Strategien hat die Linke, um diese Entwicklung aufzuhalten?
Lange Zeit ging die traditionelle Linke davon aus, dass sich die armen Wähler*innen auf die Seite ihrer Regierungen schlagen würden, solange die wirtschaftlichen Bedingungen günstig sind. Die Realität hat jedoch gezeigt, dass die Garantie von Lohnzuwächsen allein nicht ausreicht, um sich die Loyalität eines Teils der Wählerschaft zu sichern. Hier kommt der Wertedisput ins Spiel - oder wie manche lieber sagen, der ideologische Disput. Es hat keinen Sinn, wenn eine fortschrittliche Regierung eine Sozialleistung gewährt, wie zum Beispiel das Familienbeihilfeprogramm Bolsa Família in Brasilien, wenn diese Politik nicht von Initiativen begleitet wird, die die Organisation der Bevölkerung, die Solidarität und den Gemeinschaftssinn fördern. Der große Triumph des Neoliberalismus ist nicht wirtschaftlicher Natur - denn das Niveau der Akkumulation ist nie wieder auf den Stand vor der Ölkrise 1973 zurückgekehrt -, sondern politischer und kultureller Natur: Der Neoliberalismus hat sich die politischen Institutionen unter den Nagel gerissen, die Arbeitsschutzsysteme flexibilisiert und gleichzeitig die Formen der sozialen Zusammenarbeit ausgehöhlt, indem er alternative Werte wie individuellen Wohlstand und individuelle Leistungsorientierung einführte. Um dieser Logik entgegenzuwirken, sollte die Linke ihr Ziel des Abbaus von Ungleichheiten mit Strategien der Selbstorganisation verbinden und die Rolle der Vormundschaft ablehnen, die sie oft über autonome soziale Prozesse auszuüben versucht.