
Der unerwartete Sturz des Regimes von Bashar al-Assad am 8. Dezember 2024 markierte einen monumentalen Wendepunkt in der modernen Geschichte Syriens. Die überraschend schnelle Militäroperation, angeführt von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS), stieß auf keinen nennenswerten Widerstand der syrischen Regierungstruppen. Sie beendete nicht nur Jahrzehnte autoritärer Herrschaft, sondern brachte auch eine Welle der Unsicherheit sowohl innerhalb Syriens als auch darüber hinaus mit sich. Während diese Entwicklungen von einigen als Chance für einen Neuanfang gefeiert werden, lösen sie gleichzeitig Debatten in Europa aus, insbesondere über syrische Geflüchtete.
Mohamad Blakah ist syrischer Researcher und lebt zwischen Brüssel, Beirut und Berlin.
Charlotte Tinawi ist Referentin für feministische Entwicklungspolitik in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Eine unmittelbare Folge war das Einfrieren von Asylanträgen in mehreren europäischen Ländern, darunter Deutschland, das die größte syrische Diaspora in Europa beherbergt. Politische Parteien haben innerhalb von wenigen Tagen die Frage aufgebracht, ob sich die Bedingungen in Syrien ausreichend verbessert haben, um eine Rückkehr zu rechtfertigen. Dieser Ansatz übersieht jedoch wichtige Aspekte, wie die Perspektive der syrischen Diaspora und die enormen Herausforderungen, die mit einer Rückkehr in ein durch mehr als ein Jahrzehnt Krieg verwüstetes Land verbunden sind.
Besonders für politisierte Syrer*innen fühlt sich Deutschland nicht mehr wie ein sicherer Zufluchtsort an. Die Entscheidung zu bleiben ist mehr und mehr geprägt durch den Mangel an tragfähigen Alternativen, anstatt durch ein echtes Gefühl von Sicherheit oder Akzeptanz.
Die Infrastruktur Syriens liegt in Trümmern; Städte wie Aleppo, Raqqa und Idlib sind weitgehend zerstört. Über 80 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, und essenzielle Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung sind nach wie vor schwer beeinträchtigt. Ohne einen umfassenden Wiederaufbauplan ist eine Rückkehr für viele keine realistische Option. Abgesehen von der physischen Zerstörung haben Millionen von Syrer*innen sich im Ausland, insbesondere in Deutschland, ein neues Leben aufgebaut. Sie haben Jobs gefunden, Unternehmen gegründet, und Kinder großgezogen, die sich inzwischen mit Deutschland als ihrem Zuhause identifizieren. Für diese Menschen würde eine Rückkehr nicht nur bedeuten, ihre Lebensgrundlage aufzugeben, sondern auch ihre Identität zu verlieren.
Wie nimmt die syrische Diaspora in Deutschland diese Entwicklungen wahr? Welche Hoffnungen und Ängste haben sie bezüglich der Zukunft Syriens? Was erwarten sie von der deutschen Politik angesichts der gegenwärtigen Unsicherheiten? Wenn die weiteren Debatten gelingen sollen, braucht es ein genaues Verständnis der Situation der syrischen Diaspora wie auch der Länder, in denen sie inzwischen ein Zuhause gefunden hat.
Nach dem Fall des Regimes
Die politische Situation in Syrien bleibt unsicher. Während der Sturz des Assad-Regimes eine bedeutende Entwicklung darstellt, bestehen weiterhin Fragen über die langfristige Stabilität des Landes unter der Kontrolle von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS). Das Fehlen eines klaren politischen Rahmens wie auch eines umfassenden Wiederaufbauplans birgt erhebliche Risiken für eine Rückkehr. Syrer*innen ohne deutsche Staatsbürgerschaft riskieren zusätzlich ihren rechtlichen Status, wenn sie Deutschland verlassen und die Rückkehr sich als unhaltbar erweist, wodurch sie der Staatenlosigkeit oder dem Verlust von Aufenthaltsrechten ausgesetzt wären.
Der Wiederaufbau der Infrastruktur erfordert eine massive internationale Finanzierung, doch bislang sind substanziellen Bemühungen um Wiederaufbauarbeiten übersichtlich. Für Millionen vertriebener Syrer*innen ist eine Rückkehr in ein Land, das nicht einmal die Grundbedürfnisse erfüllen kann, kein gangbarer Weg.
Ohne ein klares internationales Engagement für den Wiederaufbau Syriens und die Sicherung politischer Stabilität wäre jeder Druck zur groß angelegten Rückkehr nicht nur verfrüht, sondern könnte zu weiterer Vertreibung und Not für die Betroffenen führen.
Das plötzliche Einfrieren von Asylanträgen, gekoppelt mit populistischen und rassistischen Debatten über Abschiebestrategien, hat daher weit verbreitete Besorgnis und bei vielen große Ängste ausgelöst.
Die Komplexität der syrischen Repräsentation in Deutschland
In den letzten Jahren hat sich Deutschland, insbesondere Berlin, zu einem zentralen Lebensmittelpunkt für Syrer*innen im Exil entwickelt, die Zuflucht suchen und ihr Leben angesichts des anhaltenden Krieges und der Diktatur neu aufbauen mussten. Doch der Aufstieg der AfD und die Intensivierung anti-arabischer und rassistischer Rhetorik im öffentlichen Diskurs haben das Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit bei vielen verändert. Besonders für politisierte Syrer*innen fühlt sich Deutschland nicht mehr wie ein sicherer Zufluchtsort an. Die Entscheidung zu bleiben ist mehr und mehr geprägt durch den Mangel an tragfähigen Alternativen, anstatt durch ein echtes Gefühl von Sicherheit oder Akzeptanz.
Verstärkt wird diese Wahrnehmung durch die Ausgrenzung und Fehlrepräsentation syrischer Stimmen in den deutschen Medien und im öffentlichen Diskurs, insbesondere in Diskussionen über Syrien und die syrische Diaspora. Trotz der zahlenmäßig großen syrischen Bevölkerungsgruppe in Deutschland gibt es eine auffällige Abwesenheit syrischer Stimmen in den Mainstream-Medien, insbesondere in Nachrichten- und Talkshows. Selbst Syrer*innen, die sich professionell mit den politischen und humanitären Krisen in Syrien befassen, werden als periphere und nicht als zentrale Expert*innen behandelt.
Diskurse über Geflüchtete und Migration in Deutschland reduzieren Syrer*innen oft auf Objekte deutscher Interessen und negieren ihre eigenen Interessen und Einschätzungen. Deutsche Narrative über Syrien spiegeln oft nicht die komplexe Realität vor Ort wider, wie durch unwürdige Diskussionen über die «Rückkehr» von Syrern trotz anhaltender Instabilität in Syrien deutlich wird. Diese Kluft wird durch systematische Marginalisierung und bisher auch die Angst vor Repressalien durch das syrische Regime weiter vertieft.
Die Kombination aus systemischer Ausgrenzung und Angst hat es ermöglicht, syrische Erfahrungen und Realitäten jahrelang zu gaslighten und Falschinformationen zu verbreiten, während zynischerweise Syrer*innen innerhalb Syriens kaum Möglichkeiten hatten, diese zu widerlegen, ohne dafür ihr Leben aufs Spiel setzen. Die Zensur für diejenigen, die in Syrien unter der autoritären Herrschaft lebten, oder für diejenigen in der Diaspora, die Repressalien für Familienmitglieder zu Hause befürchten mussten, hat Syrer*innen lange die Möglichkeit genommen, ihre Perspektiven offen zu teilen. Diese Dynamik hat zu ihrer Marginalisierung in Diskussionen geführt, in denen ihre Perspektiven zentral sein sollten.
Deutlich wird dies unter anderem im Aufkommen der extrem irreführende Frage nach der Sicherheit von Minderheiten im Syrien nach Assad. Mit ihr wird das gefährliche Missverständnis fortgeführt, dass unter Assads Herrschaft gefährdete Gruppen wie kurdische und christliche Minderheiten sicherer waren als sie es jetzt sind.
Was nötig ist: Inklusion und Anerkennung syrischer Stimmen
Für viele Syrer*innen ist das Leben in Deutschland also verbunden mit Ambivalenzen, Zugeständnissen und Einschränkungen. Während Aspekte wie Gesundheitsversorgung, Bildung und etablierte Diaspora-Communities Stabilität bieten, werden diese Vorteile oft von der emotionalen und psychologischen Belastung überschattet, sich in einer zunehmend feindlichen Umgebung zurechtzufinden. Für politisierte Syrer*innen, deren Aktivismus sie zu sichtbaren Zielen macht, ist diese Realität noch drastischer.
In diesem komplexen Mix aus Emotionen taucht die radikal veränderte Situation in Syrien als Moment der Hoffnung auf. Nach Jahren der unaufhörlichen Zerstörung, Verzweiflung und humanitären Krisen hat der Sturz des Assad-Regimes eine tiefgreifende Bedeutung. Die sich verändernde Dynamik, obwohl von Unsicherheit und Herausforderungen geprägt, hat vorsichtigen Optimismus bei denen geweckt, die sich Frieden und Sicherheit in der Region wünschen. Diese neu gewonnene Hoffnung ist nicht ohne Widersprüche, da die tiefen Narben von Krieg und Trauma bleiben. Doch trotz der vorherrschenden Skepsis bieten die veränderten Umstände in Syrien einen Hoffnungsschimmer – eine Chance für Heilung, Wiederaufbau und vielleicht die lang ersehnte Aussicht auf eine bessere Zukunft.
Die derzeitige Situation erfordert eine kritische Reflexion darüber, welche Rolle Deutschland als Lebensmittelpunkt nicht nur für Geflüchtete, sondern für Menschen, die Akteure mit eigener Agency sind, spielt. Die Priorisierung syrischer Stimmen ist keine Frage von Goodwill, sondern entscheidend für fundierte und nuancierte Diskussionen über die Zukunft Syriens.