Auf dem «Festival der Vielfalt» in Solingen wurden am 23. August 2024 drei Menschen mit Messerstichen ermordet und weitere verletzt. Die Terrororganisation Daesh (IS) reklamierte den Anschlag für sich. Anschließend wurde der Migrationsdiskurs in Politik und Medien von einer Notstandsstimmung bestimmt. Diese diente als Begründung für Grenzkontrollen im Innern des Schengen-Raums und Polizeikontrollen, die zu Racial Profiling führen, sowie einem Sicherheitspaket, durch das «Schutzsuchenden» unter bestimmten Bedingungen «keine Sozialleistungen mehr erhalten» sollen. Außerdem für Forderungen nach mehr Abschiebungen und das GEAS. Doch das Attentat war nicht die Ursache der Notstandsstimmung, sondern diese wurde im mediopolitischen Diskurs über Monate herbeigeredet. Daran hatte die im Folgenden dargestellte Kampagne der Bild zur Ethnisierung von Kriminalität einen Anteil. Hinzu kamen Effekte aus einer Diskursverschränkung des Migrationsdiskurses mit dem Sozialstaatsdiskurs.
Der mediopolitische (mediale und politische) Migrationsdiskurs ist seit langem von einer Abfolge immer neuer «Notstände» bestimmt. Die Diskursstrategie besteht dabei darin, dass durch denormalisierende Berichte ein Notstand herbeigeredet wird. Mit diesem werden restriktive Maßnahmen zur Renormalisierung begründet. Später beruhigt sich der Diskurs wieder. Die Notstandsmaßnahmen bleiben im neuen «Normal» aber meist bestehen.
Der Begriff Diskursstrategie soll dabei darauf verweisen, dass nicht der einzelnen Sprecher*in unterstellt werden soll, diese Strategie zu verfolgen, sondern dass die Strategie – ob gewollt oder ungewollt – im Endergebnis im Diskurs wirksam ist. So kritisiert beispielsweise Benno Schirrmeister in der taz vom 13.11.2024 Abschiebungen heftig, indem er auf einen katastrophalen Fachkräftemangel im Pflegebereich hinweist. Diese Argumentation kann aber – vielleicht ungewollt – der Durchsetzung von Abschiebungen von Geflüchteten dienen, die als nicht nützlich abgewertet werden.
Benno Nothardt ist ehrenamtlicher Mitarbeiter im Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung. Er ist aktiv in den Arbeitskreisen Migration, DISS-Journal, Edition DISS und Diskurswerkstatt und Mitautor der Neuauflage des Buches «Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung».
Im Folgenden wird die Bild genauer betrachtet[*], die sich anders als beispielsweise die taz oder die FAZ nicht durch ein plurales Sagbarkeitsfeld auszeichnet, sondern durch einseitige Kampagnen. Offensichtliche Ziele der Bild waren 2024 das Durchsetzen einer restriktiven Migrationspolitik, eine Rücknahme des Bürgergeldes und ein vorzeitiges Ende der Ampelregierung. Durch den Blick auf die Bild können wirksame Diskursstrategien besonders klar erkannt werden. Diese wären aber nicht erfolgreich, wenn sie nicht in einem ständigen Austausch mit anderen, stärker pluralistischen Medien und Akteur*innen stünden.
Ethnisierung von Kriminalität
Als nach dem Sommer der Flucht 2015 die Willkommenskultur in eine Notstandsstimmung kippte, war das Feindbild junger muslimischer Mann eine Ursache. Besonders deutlich wurde das bei der mediopolitischen Debatte über sexualisierte Übergriffe in der Silvesternacht von 2015 auf 2016 in Köln sowie den folgenden Debatten über sexualisierte Gewalt muslimischer Täter. Mit Margarete Jäger können wir hier von Ethnisierung von Sexismus, sprechen. Gemeint ist, dass patriarchales Verhalten oder sexualisierte Gewalt als ethnisches Merkmal oder typisch muslimisches Verhalten erklärt wird. Dadurch können patriarchale Strukturen der restlichen Gesellschaft unsichtbar gemacht werden oder zumindest aus dem Fokus geraten.
In den zurückliegenden Jahren gewinnt eine Ethnisierung von Kriminalität im mediopolitischen Diskurs stark an Bedeutung. Diese Vorstellung wird schon durch die Themenwahl der Bild erzeugt. Themen im Migrationsdiskurs sind neben Fragen von Belastungen des Sozialstaats, Einwanderungszahlen, Einbürgerungen und Abschiebung hauptsächlich stark dramatisierende Darstellungen von Gewalt durch Migrant*innen, fundamentalistischem Islamismus und Antisemitismus, welcher in der Bild nahezu ausschließlich als muslimisch oder links dargestellt wird. Schon durch diese Einschränkung des Sagbarkeitsfeldes entsteht der Eindruck, Migration sei untrennbar mit Gewalt und Kriminalität verbunden und stelle damit eine direkte Bedrohung für die Leser*in dar. Beispielsweise kommentiert Bild-Chefreporter Frank Schneider stark dramatisierend: «Ja, es scheint normal geworden zu sein, wenn immer mehr Menschen bei uns abends und nachts […] gar nicht mehr vor die Tür gehen […]. Wir sprechen mit den Einsatzkräften, die damit konfrontiert sind: immer wieder Messer-Gewalt, neuerdings ‹Drive-by-Shootings›, Clan-Schlägereien, Vergewaltigungen. […] In Essen musste sogar die Hundertschaft ausrücken, weil 60 Libanesen auf einem Fußballplatz aufeinander einprügelten. Ein Messer wurde eingesetzt, sogar Schüsse fielen. […] In Bochum stachen zwei türkisch sprechende Männer einen Partygast nieder, ohne jede Vorwarnung.» (Bild 15.5.2024, S. 3).
Ohne Kollektivsymbole geht es nicht
Der Literaturwissenschaftler und Diskursforscher Jürgen Link konnte zeigen, dass Kollektivsymbole eine wichtige Funktion für die Wirkung solcher Bedrohungsszenarien haben. Seit den 1990ern ist die Flüchtlingswelle das bekannteste davon. Geflüchtete werden durch dieses Bild nicht als einzelne Individuen mit Subjektstatus dargestellt, sondern als amorphe, nicht menschliche und bedrohliche Masse. Auch 2024 stellt die Bild Geflüchtete oft ohne Subjektstatus dar. So werden häufig Symbolbilder verwendet, die Geflüchtete bei Abschiebungen von hinten zeigen, sodass deren Gesichter nicht erkennbar sind.
In den letzten Jahren wird häufig das Kollektivsymbol Messer verwendet.
In den letzten Jahren wird häufig das Kollektivsymbol Messer verwendet. Interessant dabei ist, dass tatsächliche Messerangriffe mit einer über die eigentliche Tat hinausgehenden symbolischen Bedeutung aufgeladen werden: Angriffe mit Messern oder Macheten werden in der Bild und allgemein im mediopolitischen Diskurs mit Gewalt von jungen, männlichen Migranten assoziiert und unterstellen zugleich deren besondere Brutalität und Rückschrittlichkeit. In der Diskursanalyse sprechen wir von Pragmasymbolen, wenn Realitäten mit einer darüberhinausgehenden symbolischen Bedeutung aufgeladen werden. Solche rassistisch aufgeladenen Symbole sind im Migrationsdiskurs der Mitte der Gesellschaft weit verbreitet und werden von der extremen Rechten gerne weiter zugespitzt. So etwa in den hetzerischen Formulierung «Burkas, Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und andere Taugenichtse» (Alice Weidel, Mai 2018) und «Messermigration» (Markus Frohnmaier, August 2018).
Migration als vermeintliche Ursache für extreme Rechte
Dass die Bild der AfD Steilvorlagen für deren Hetze liefert, bedeutet nicht, dass sie mit der AfD sympathisiert. Seit dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke durch den extrem Rechten Stephan Ernst 2019 grenzen sich konservative Medien wie FAZ und Bild zunehmend gegen die AfD ab und bewerten diese als extrem rechte Bedrohung. Zugleich aber spielen sie diesen immer wieder in die Hände, indem sie die Aussage bedienen, Migration wäre eine Ursache für das Erstarken der extremen Rechten.
Die fatalen Folgen dieser Logik zeigten sich schon bei dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Im August 1992 griffen Rassist*innen unter dem Beifall von Anwohner*innen und Zugereisten mehrere Tage lang das sogenannte Sonnenblumenhaus an, in dem ein Asylbewerberheim und eine Unterkunft vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen untergebracht war. Wie durch ein Wunder überlebten damals ca. 150 Bewohner*innen einen Brandanschlag durch Neonazis. Die DISS-Studie «SchlagZeilen» zeigte damals, dass diese Eskalation eine Folge rassistischer Diskurse der Mitte und einer von der CDU ausgehenden Kampagne war.
Die Aussage, Migration sei eine Ursache für die Zunahme von Rechtsextremismus hält sich hartnäckig.
Statt antirassistische Interventionen zu fordern, interpretierten Teile von Politik und Medien die Pogrome jedoch als eine Reaktion auf eine zu liberale Migrationspolitik. Daraus folgerten sie die Notwendigkeit einer restriktiveren Asylpolitik, womit sie sich ein Ziel der Pogrome zu eigen machten. Nur vier Wochen später unterzeichnete der damalige Innenminister Rudolf Seiters (CDU) ein «Abkommen zur Erleichterung der Rückkehr ausreisepflichtiger Ausländer» mit Rumänien, auf dessen Grundlage die Roma, die zur Zeit des Pogroms im Sonnenblumenhaus gelebt hatten, größtenteils kurze Zeit später abgeschoben wurden. Außerdem vereinbarten CDU/CSU und SPD eine Einschränkung des Grundrechts auf Asyl im Paragrafen 16 des Grundgesetzes. Der Effekt dieser Maßnahmen war keineswegs die erhoffte Befriedung extrem rechter Stimmungen: Drei Tage nach deren Beschluss im Bundestag legten Rechtsextreme am 29. Mai 1993 einen Brand im Haus der Familie Genç in Solingen und ermordeten so Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç.
Die Aussage, Migration sei eine Ursache für die Zunahme von Rechtsextremismus hält sich hartnäckig, obwohl zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass Rassismus gerade dort stark ist, wo kaum Migration stattfindet. Auch für das Umkippen von der Willkommenskultur zur Notstandsstimmung nach dem Sommer der Flucht 2015 spielte die Annahme, Rassismus wäre eine kausale Folge von Flucht, eine wichtige Rolle.
Zurück ins Jahr 2024: Am 10. Januar veröffentlichte das Redaktionsnetzwerk Correctiv Recherchen über ein extrem rechtes Treffen in Potsdam, an dem auch Politiker aus AfD und Werteunion teilgenommen haben. Darauf folgte eine Welle großer antifaschistischer Demonstrationen. In deren Kommentierung verortet auch die Bild die AfD als extrem rechts. Zugleich wird diese jedoch kollektivsymbolisch als «Fieberthermometer Deutschlands» (Bild 19.1.2024, S. 2) bezeichnet und ihr Erfolg unter anderem auf illegale Migration beziehungsweise eine zu wenig restriktive Migrationspolitik zurückgeführt. So wird Rassismus als Waffe im Kampf gegen den Faschismus propagiert und der antirassistische Gehalt der Demonstrationen in ihr Gegenteil verkehrt. Im April 2024 berichtet die Bild dann über ein TV-Duell von Björn Höcke (AfD) und Mario Voigt (CDU) am 11.4.2024. Voigts Versuch, die AfD in Sachen Abschiebpolitik von rechts zu überholen, wird von der Bild als Beispiel gedeutet, wie richtig mit der AfD umgegangen werden sollte.
Die Logik, linke Politik als Ursache für das Erstarken der extremen Rechten verantwortlich zu machen, wird auch in Bezug auf Sozialpolitik und ökologische Politik ausgeweitet. So kommentiert Hans-Jörg Vehlewald: «Wenn gemäßigte Parteien […] den Ärger über Bürgergeld oder Verbrenner-Aus übergehen und Kritiker als unwissend oder verbohrt diffamieren, dann setzen die Wähler am Ende auf die extremen Parteien von Links oder Rechts, um sich Gehör zu verschaffen.» (Bild 8.7.2024, S. 2).
Verschränkungen des Migrationsdiskurses mit dem Sozialstaatsdiskurs
Neben der Ethnisierung von Kriminalität ergeben sich aus Verschränkungen mit dem Sozialstaatsdiskurs wichtige Diskursstrategien zur Begründung restriktiver Forderungen im Migrationsdiskurs.
Im Sozialstaatsdiskurs ist in der Bild 2024 eine vielseitige Kampagne erkennbar, die eine Stärkung des Sozialstaats verhindern und stattdessen Kürzungen und Sanktionen einführen will. Die Kampagne richtet sich insbesondere gegen das Bürgergeld, aber auch gegen Rentenerhöhungen und hohe Sozialabgaben, Steuern und einen höheren Mindestlohn. Außerdem richtet sie sich gegen Arbeitszeitverkürzung, Vier-Tage-Woche und eine Absenkung des Rentenalters beziehungsweise für eine Verlängerung desselben.
Sozialausgaben werden meist als Belastung beschrieben: Als negativer Effekt werden stark steigende Kosten für die Wirtschaft angesprochen, vor allem aber steigende Abgaben für Arbeitnehmer*innen, denen beispielsweise verkündet wird: «So viel weniger haben Sie bald vom Lohn!» (Bild 17.5.2024, S. 1). Dass der Sozialstaat Arbeitnehmer*innen nützt und Sicherheit gibt, wird nur sehr selten erwähnt. Im Gegenteil: Transferleistungen werden in Bezug auf das Bürgergeld sogar als schädlich bewertet durch die häufig auftretende Aussage, dass die Differenz zwischen Lohn und Sozialleistung zu klein sei und dadurch Leistungsbereitschaft verhindert werde. Das wird auch von einem höheren Mindestlohn befürchtet. Dass Sozialleistungen nur als Belastung wahrgenommen werden, wird auch deutlich, wenn dramatisch über große Mängel bei der Altenpflege berichtet wird: Als Ursache wird Fachkräftemangel in der Pflege angeführt. Diesem durch höhere staatliche Ausgaben im Pflegebereich zu begegnen, wird nicht in Betracht gezogen, stattdessen werden mehr private Vorsorge und höhere Geburtenraten vorgeschlagen.
Verschränkungen des Sozialstaatsdiskurses mit dem Migrationsdiskurs ergeben sich vor allem bei den im Folgenden dargestellten Themen.
Bezahlkarte mit magischen Kräften
Bild setzt sich von Januar bis April 2024 kampagnenartig für die bundesweite Einführung einer Bezahlkarte für Asylantragsteller*innen ein. Dazu nutzt sie eine normalistische Diskursstrategie, indem behauptet wird, dass eine große Mehrheit der Parteien, Bundesländer und Bürger*innen die Bezahlkarte wollten, während sich eine Minderheit aus Teilen der Grünen dagegenstellen würden. In einer normalistischen Gesellschaft ist klar, dass eine so deutliche Mehrheit recht haben muss. Dennoch wird in einem Artikel auch das Gegenargument angeführt, dass viele Grüne «die Bezahlkarte für diskriminierend» hielten (Bild 17.2.2024, S. 2). Ansonsten wird die Ablehnung der Grünen aber als sture Blockadepolitik abgewertet. Damit wird restriktive Migrationspolitik als Notwendigkeit gesetzt, die nicht hinterfragt wird, sondern bei der es nur noch um die Frage der Umsetzung geht.
Restriktive Migrationspolitik wird als Notwendigkeit gesetzt, die nicht hinterfragt wird, sondern bei der es nur noch um die Frage der Umsetzung geht.
Die Bezahlkarte erscheint als eine Art Zauberkarte mit fast magischen Kräften zur Migrationskontrolle und zur Verhinderung von Leistungsmissbrauch: Sie soll «[i]rreguläre Migration eindämmen, Binnen-Migration stoppen, Schleuserkriminalität austrocknen, Verwaltung vereinfachen.» (Bild 31.1.2024) sowie verhindern, dass Flüchtlinge «Geld an Schlepper» zahlen (Bild 27.4.2024, S. 2) oder Überweisungen in Heimatländer vornehmen und somit eine «Reduzierung der Anreize» für Zuwanderung bringen (Bild 4.2.2024, S. 3). Außerdem soll sie Flüchtlinge in Arbeit bringen (Bild 18.4.2024) sowie den Kauf von Alkohol, illegalen Drogen, Glücksspiel und Online-Shopping verhindern (Bild 3.2.2024, S. 2). Damit wird auch impliziert, dass nicht nur der unrechtmäßige Erwerb von Sozialleistungen als Missbrauch betrachtet wird, sondern auch jede Form der unerwünschten Nutzung des Geldes.
Es wird aber auch vermittelt, dass die Mehrzahl der Asylantragsteller*innen keine als Missbrauch bewerteten Pläne haben würden. Entsprechend wird von einer «hohen Akzeptanz der Karten bei den meisten» Betroffenen berichtet (Bild 22.01.2024, S. 2). Zugleich wird die große Gesamtzahl an Migrant*innen, die Sozialleistungen erhalten, problematisiert. Dazu werden große Zahlen präsentiert: «492 390 Ausländer», die eigentlich nicht in Deutschland sein sollten, sowie «193 972» nur geduldete bekämen Sozialleistungen (Bild 15.3.2024, S. 1). Dass die betreffenden Menschen «eigentlich nicht in Deutschland sein sollten» (ebd.), kann als impliziter Missbrauchsvorwurf verstanden werden, allzumal an anderer Stelle davon gesprochen wird, dass das «Asylrecht […] viel zu oft missbraucht» werde (Bild 30.3.2024, S. 2).
Am 18. April wird unter der Überschrift «BEZAHLKARTE DA! Viel weniger Flüchtlinge» das Beispiel des Landkreises Eichsfeld vorgestellt und impliziert, dass von 400 Geflüchteten durch Einführung der Bezahlkarte 56 weggezogen seien, «vermutlich nach Georgien oder in den Westbalkan» (Bild 18.4.2024, S. 2), sowie 43 Arbeit angenommen hätten. War von Januar bis März meist von Einzelfällen des Betrugs die Rede, implizieren diese Zahlen hier, dass eine große Zahl von Geflüchteten des Missbrauchs verdächtig werden.
Die Einschätzung der Anzahl von Missbrauchsfällen unter Geflüchteten wechselt also zwischen einer kleinen Minderheit und einem großen Anteil. Dieses paradoxe Changieren kann den Effekt erzeugen, dass einerseits die diskriminierende Wirkung negiert wird, weil ja scheinbar nur eine kleine Gruppe betroffen ist, andererseits die Notwendigkeit restriktiven Vorgehens wegen der scheinbar großen Gruppe plausibel wird.
Sozialstaat als Ursache für Migration
Die Sorge darüber, Sozialleistungen könnten an Fluchthelfer*innen oder Verwandte im Herkunftsland überwiesen werden, verweist auch auf die Aussage, der deutsche Sozialstaat wäre eine wichtige Ursache für Migration. Migration wird dadurch weniger als Flucht vor Kriegen, Diktaturen, Hunger, Klimawandel oder Perspektivlosigkeit betrachtet, sondern mehr als Entscheidung für mehr Wohlstand: «Das niedrigschwellige Bürgergeld lockt Menschen aus dem Ausland.» (Bild 9.8.2024, S. 2)
Am 13. April werden radikalere Maßnahmen vorgestellt: Sozialleistungen für «illegale Flüchtlinge» (Bild 13.4.2024, S. 3) zu begrenzen wird als mögliche Maßnahme vorgestellt, um Sekundärmigration zu verhindern. Wie weit das gehen könnte, zeigt folgendes Zitat:
«‹Niemand soll verhungern oder obdachlos werden›, so CDU-Innenexperte Christoph de Vries (49) deutlich. ‹Aber darüber hinaus muss Schluss sein mit der Spendiermentalität.›» (ebd.)
Das würde bedeuten, die Grundrechte auf das nackte Recht zum Überleben einzuschränken und alle weiteren Menschenrechte zu ignorieren.
Dass ein solcher Grundrechteabbau auch auf andere Bevölkerungsgruppen ausgeweitet werden könnte, deutet sich an, wenn Bild den Bundestagsabgeordneten Maximilian Mörseburg (CDU) mit der Forderung zitiert, über eine «Ausweitung der Bezahlkarte auf Bürgergeld-Empfänger zu diskutieren» (Bild 29.2.2024, S. 1).
Im Bürgergeld vereint
Das Bürgergeld ist das wichtigste Thema im Sozialstaatsdiskurs in der Bild und Forderungen nach Kürzungen und härteren Sanktionen bei Missbrauch werden immer wieder vorgebracht. Dabei werden Missbraucher*innen mit einer Häufung von abwertenden Kollektivsymbolen belegt: «Faule Arbeitslose», «faule Bürgergeld-Kassierer», «Bürgergeld-Betrüger», «Arbeitsverweigerer», «Dauer-Faulenzer», «faule Stützen-Bezieher», «faule Stützen-Empfänger», «Faulenzer», «NULL Bock auf Arbeit», «Arbeitsunwillige», «Totalverweigerer», «renitente Arbeitsverweigerer», «Job-Verweigerer», Menschen, die «lieber die Hand aufhalten, statt mit anzupacken» (Bild 2.1.2024, S. 2: 5.2.2024, S. 1; 6.1.2024, S. 1; 9.1.2024, S. 1; 20.1.2024, S. 2; 16.3.2024, S. 2; 17.3.2024, S. 3; 13.2.2024., S. 8; 19.3.2024, S. 1; 23.3.2024, S. 2; 15.6.2024, S. 2; 21.7.2024, S. 3; 28.7.2024, S. 3, 1.8.2024, S. 2).
Im Frühjahr 2024 ist der Ton in den Artikeln der Bild zum Thema Bürgergeld, in denen sich Sozialstaatsdiskurs und Migrationsdiskurs verschränken, verhältnismäßig ruhig. Dramatisierungen und Abwertungen bleiben noch weitgehend aus. Es werden aber statistische Daten angeführt. So erfährt man unter der Überschrift «Migrantenanteil beim Bürgergeld steigt», dass der «Anteil an den Leistungsbeziehern» seit 2013 von 43 Prozent auf 63 Prozent gestiegen sei (Bild 21.5.2024, S. 1).
In Bezug auf Geflüchtete aus der Ukraine wird deren niedrige Arbeitsquote problematisiert, die Schuld aber ausdrücklich nicht bei ihnen gesucht, sondern als Ursachen fehlende Sprachkurse und eine zu niedrige Differenz zwischen Lohn und Sozialleistungen angeführt. In dieser Logik schadet das Bürgergeld den Empfänger*innen. Passend dazu wird die Forderung des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) wiedergegeben, neu ankommenden Ukrainer*innen «kein Bürgergeld […], sondern nur Asylleistungen» (Bild 3.3.2024, S. 3) zuzugestehen. Kürzungen von Sozialleistungen werden so zu einem Mittel aktivierender Arbeitsmarkpolitik umgedeutet.
Migration und Bürgergeld erscheinen teils assoziativ, teils explizit als zusammengehörige Probleme.
Eindeutig negativ bewertet werden hingegen männliche Ukrainer, die sich dem ukrainischen Militär entziehen und in Deutschland Bürgergeld beziehen (Bild 2.1.2024, S. 2) sowie ukrainisch-ungarische Doppelstaatler, die ihre «ungarische Staatsbürgerschaft […] verschweigen» (Bild 16.2.2024, S. 2), um Bürgergeld zu erhalten. Ukrainische Flüchtlinge werden also teils als Opfer des Bürgergelds, teils auch als Betrüger*innen dargestellt. Durch die Bild werden dabei keine rassistischen Deutungen vorgenommen, im Falle der Betrüger*innen aber implizit hervorgerufen. Ähnliches gilt auch für eine Reihe weiterer Artikel, in denen Wünsche nach weniger Migration und Kritik am Bürgergeld ohne direkte Verbindung nebeneinandergestellt werden. Migration und Bürgergeld erscheinen also teils assoziativ, teils explizit als zusammengehörige Probleme, was den Effekt haben kann, dass Wünsche nach restriktiver Sozialpolitik und restriktiver Migrationspolitik als zusammengehörig erscheinen und sich gegenseitig stützen können.
Im Sommer werden diese Wünsche dann häufiger explizit formuliert und von einer zunehmend dramatischen Berichterstattung gestützt. Es werden jetzt häufiger Statistiken angeführt, die einen steigenden Anteil von nicht deutschen Staatsbürger*innen am Bürgergeld zeigen. Zugleich wird Denormalisierung produziert durch das häufige Auftreten des Kollektivsymbols Explosion, hier als Kostenexplosion. Im Juni werden Vorstöße aus FDP und CSU verhandelt, ukrainischen Geflüchteten Bürgergeld zu entziehen und sie in das Asylsystem zu zwingen, also die Massenzustromrichtlinie außer Kraft zu setzen. Das wird in der Bild skeptisch bewertet, stattdessen wird gefordert, das Bürgergeld für alle restriktiver zu gestalten. Ukrainische Geflüchtete werden dabei gegen solche aus West- und Zentralasien ausgespielt: «Dass Abschiebungen für schwerkriminelle Afghanen und Syrer diskutiert werden, ist das eine, das Richtige. Aber in dieser Härte auf Tausende nicht kriminelle Ukraine-Flüchtlinge einzuprügeln, ist das andere: das Falsche.» (Bild 26.4.2024, S. 2).
Im Juli titelt die Bild dann: «Das Bürgergeld wird immer mehr zur Stütze für Ausländer. Schon mehr als 700 000 Syrer und Afghanen kassieren Bürgergeld.» (30.7.2024, S. 1). Entsprechend radikalisieren sich jetzt die Maßnahmen, die gegen alle Bürgergeldempfänger*innen gerichtet werden sollen. «Wer Jobs verweigert, soll kein Geld mehr bekommen, nur noch Sachleistungen (z.B. Lebensmittel)» (Bild 31.7.2024, S. 2). Von Peter Tiede werden in einem Kommentar die verschiedenen diskursiv erzeugten Notstände zusammengedacht: «Das Bürgergeld ist nur eines der Symptome: Fast die Hälfte der Stütze-Empfänger hat keinen deutschen Pass. Unser Bildungssystem ist – auch – an der nicht mehr leistbaren Integration gescheitert. Ganze Stadtteile sind Sozial- und Integrations-Notstandsgebiete» (Bild 30.7.2024, S. 2). Der so herbeigeschriebene Gesamtnotstand wird in Bild letztlich als Folge von Migration bewertet.
Der Fall Sylt
Als Ende Mai 2024 ein Video in sozialen Medien veröffentlicht wird, in dem junge Erwachsene auf einer Party auf Sylt ausländerfeindliche Parolen singen und rechtsextreme Gesten zeigen, räumt Bild diesem Vorfall viel Raum ein und veröffentlicht vom 25. bis 27. Mai vier Berichte und zwei Kommentare. Die Täter werden als «Sylt-Schnösel» tituliert. Diese Bezeichnung verortet ihr Handeln einerseits unter Reichen, andererseits kann sie den Effekt haben, ihr Verhalten als schlechte Angewohnheit verwöhnter Wohlstandskinder zu verharmlosen.
Der Rassismus wird als extrem rechts verortet, was die Gefahr birgt, Rassismus als Phänomen der Mitte unsichtbar zu machen. Andererseits wird Rassismus so aber als politische Tat ernst genommen und als inakzeptabel bewertet. Die Gesänge und mit ihnen Rassismus und extreme Rechte werden wieder relativiert, indem sie als weniger bedrohlich als migrantische Gewalt dargestellt werden, die als der «wahre Elefant im Raum» beschrieben wird. Diese wird viel stärker dramatisiert als «beinahe schon alltägliche[r] Horror auf unseren Straßen! Messerattacken, Vergewaltigungen, gern auch in der Gruppe, Massenschlägereien oder Gewaltakte von solcher Brutalität, dass einem die Worte fehlen.» (Nickel, Bild 25.5.2024, S. 2). An anderer Stelle werden den Taten «antisemitische Parolen linksradikaler Studenten und […] Messerattacken junger Migranten» (Bild 27.5.2024, S. 3) gegenübergestellt.
Rassismus wird als extrem rechts verortet, was die Gefahr birgt, Rassismus als Phänomen der Mitte unsichtbar zu machen.
Die Verschränkung zwischen dem Migrationsdiskurs, dem Diskurs über die extreme Rechte und dem Sozialstaatsdiskurs wird in einem Kommentar von Celal Çakar aber auch auf andere Weise entfaltet: «Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte rackern sich täglich ab, in der Hoffnung, eines Tages sozialen Aufstieg zu schaffen. Menschen wie ich. Die oft wegen ihres Namens oder ihres Aussehens für die Wohnung oder den Job gar nicht in Betracht gezogen werden. Weil uns vermeintlichen ‹Ausländern› von wohlsituierten Chefs Barrieren in den Weg gestellt werden. Chefs, die auf der nächsten Party vielleicht auch ‹Deutschland den Deutschen› mitsingen. […] Auch wenn wir intelligenter und fleißiger sind, rennen wir gegen unsichtbare Wände.» (Çakar, Bild 26.5.2024, S. 2).
Anders als in den anderen fünf Texten wird Rassismus hier als gesamtgesellschaftliches Problem verortet, was in der Bild sehr selten passiert. Çakar setzt dabei das «Wir» einer großen Zahl «fleißiger Migrant*innen» einer rassistischen, reichen und verwöhnten Elite entgegen. Zugehörigkeit zum «Wir» wird über Arbeit, Fleiß und Intelligenz definiert.
Dazugehörigkeit durch Arbeit
Dass Migrant*innen von Çakar in der Bild positiv dargestellt werden, ist kein Einzelfall. Zwischen den vielen Artikeln, in denen Migrant*innen als kriminell oder faul dargestellt werden, finden sich von Zeit zu Zeit auch solche Texte, in denen «vorbildliche» Migrant*innen dargestellt werden. Begleitet werden die Texte teilweise mit Fotos, in denen diese freundlich in die Kamera lächeln. Das steht in Kontrast zu den Fotos, auf denen ausschließlich männliche Migranten gesichtslos von hinten bei der Abschiebung oder mit hasserfüllten Fratzen bei Messerangriffen fotografiert werden – also ohne Subjektstatus.
Zugehörigkeit wird in der Bild in aller Regel durch Arbeit beziehungsweise Fleiß erworben.
Interessant ist, welche Eigenschaften Migrant*innen haben müssen, um freundlich präsentiert zu werden: Zugehörigkeit wird in der Bild in aller Regel durch Arbeit beziehungsweise Fleiß erworben. Hinzukommen sollen gute Sprachkenntnisse und Bescheidenheit sowie die Abgrenzung gegen andere Migrant*innen, denen Missbrauch des Sozialstaats oder Islamismus unterstellt wird. So zeigt ein Foto Anas Alhariri beim Rasenmähen, dieser wird mit den Worten zitiert: «80 Cent Stundenlohn sind als Einstieg in den Arbeitsmarkt ok.» (Bild, 26.4.2024, S. 2). Der Asylantragsteller Mahmoud aus Syrien lobt in Bild die Bezahlkarte mit den Worten: «Einige kaufen von dem Geld sonst nur Alkohol oder illegal Drogen» (Bild 3.2.2024, S. 2).
Verblendete Ampelregierung
Sowohl im Migrationsdiskurs als auch im Sozialstaatsdiskurs wird der Ampelregierung – insbesondere SPD und Grünen – vorgeworfen, als notwendig bewertete harte Maßnahmen gegen Migrant*innen und Sozialleistungsempfänger*innen zu verhindern, was auf Unfähigkeit und ideologische Verblendung zurückgeführt wird. Der dritte Koalitionspartner FDP wird hingegen oft für seine Sparwünsche gelobt, wenn er autoritäre oder unsoziale Lösungen unterstützt. Dies ist Teil einer kontinuierlichen Kampagne mit dem offensichtlichen Ziel, die Ampelregierung zu einem vorzeitigen Ende zu zwingen, was mit dem Bruch der Koalition am 6.11.2024 dann auch passiert ist. Beispielsweise erscheinen schon im Februar innerhalb einer Woche folgende Formulierungen in Überschriften:
«Führt Lindners ‹Wirtschaftswende› zum Ampel-Ende?» (Bild 12.2.2024, S. 2). «DIESER Scheidungsbrief ist die Vorlage für das AMPEL-AUS» (Bild 14.2.2024, S. 2). «Mega-Zoff in der Ampel» (Bild 17.2.2024, S. 2). «Zerbricht die Ampel an der Bezahlkarte?» (Bild 19.2.2024, S. 2).
Im Juli wird dann von Überläufer*innen von der Ampel zur CDU berichtet (z.B. Bild 7.7.2024, S. 8-9) und im Juli kommentiert Peter Tiede: «Die Ampel hat Totalschaden. Schaltet ab das Ding!» (Bild 9.8.2024, S. 2).
Man muss der Ampel keine Träne nachweinen. Man kann aber aus ihrem Scheitern lernen: Die Ampel hat sich von rechten Kräften einschließlich der Bild Schritt für Schritt dazu treiben lassen, immer restriktivere Migrations- und Sozialpolitik zu betreiben. Und als Lohn dafür, dass sie die Schmutzarbeit erledigt hat, ist sie jetzt am Ende.
Was tun?
Die Notstandsstimmung nach dem Attentat von Solingen am 23. August wurde über Monate im mediopolitischen Diskurs herbeigeredet und diente als Begründung für restriktive Maßnahmen. Dieser Hintergrund hat einige gefährliche Diskursstrategien am Beispiel der Bild aufgezeigt. Sie zu kennen kann helfen, ihnen zu widersprechen. Einige gute Gegenargumente liefert Massimo Perinelli im Hintergrund «Messer, Merz und Migration» vom 18.10.2024.
Michel Foucault sagte 1977 in einem Interview, dass «es niemals das Aufzeigen eines Widerspruchs ist, der einen theoretischen Diskurs zum Schweigen bringt, sondern seine Vergessenheit. Ihn vergessen zu machen, indem man etwas anders macht» (kultuRRevolution Nr. 83 vom November 2022, S. 55). Wenn wir also der fatalen Logik eines fortschreitenden Sozialabbaus und immer brutalerer Migrationsabwehr begegnen wollen, so genügt es nicht, deren Argumenten zu widersprechen und diese zu widerlegen. Wir müssen ihr andere Diskurse entgegensetzen, um sie vergessen zu machen, und beispielsweise die zerstörerische Wirkung von Militarismus, Kapitalismus und ökologischer Zerstörung ansprechen, anstatt Geflüchtete und Arbeitslose für ihre Armut selbst verantwortlich zu machen. Dass zeitgleich mit den hier geschilderten Diskursen Racial Profiling oder häusliche Gewalt im mediopolitischen Diskurs der Mitte zunehmend kritisch angesprochen werden, zeigt, dass dies möglich ist.
[*] Für diesen Text wurden der Migrationsdiskurs und der Sozialstaatsdiskurs der Bild im Jahr 2024 bis zum Anschlag in Solingen am 23.8.2024 analysiert. Der Text wurde begleitend geschrieben zu der noch unveröffentlichten Studie «Die Grenzen des Sozialstaats» von Max Kroppenberg und Christian Sydow im Auftrag des Deutschen Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS). In der Studie werden Teile des Textes als Bausteine übernommen.