
Die Sozialpolitik vieler Länder hat sich in den letzten Jahrzehnten schrittweise von der sozialen Absicherung der Leistungsempfänger*innen abgewandt und strebt zunehmend deren «Aktivierung» an, um sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Damit verwandelt sich das traditionelle System der sozialen Sicherheit hin zu einem sogenannten «Workfare»-System. Mit der Einführung strenger Anspruchsvoraussetzungen machen Workfare-Maßnahmen den Erhalt staatlicher Transferleistungen selektiv und abhängig von der Teilnahme an bezahlter Arbeit, Arbeitssuche, Weiterbildung oder Unternehmensgründung. Workfare-Maßnahmen sind ein wesentlicher Bestandteil eines «aktiven» Sozialstaates. Sie stellen Eigenverantwortung, Selbstmanagement und unternehmerisches Engagement von Leistungsempfänger*innen in den Vordergrund.
Eugenia Pesci ist Doktorandin und Marie-Curie-Stipendiatin am Aleksanteri-Institut der Universität Helsinki.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion machte man ihr universelles, die Bürger*innen «von der Wiege bis zur Bahre» begleitendes Sozialsystem dafür verantwortlich, in der Bevölkerung eine «Abhängigkeitsmentalität» gefördert zu haben, die sie zu stark an einen paternalistischen Sozialstaat gebunden habe und sie nun unfähig mache, Herausforderungen selbstständig zu bewältigen. Die vermeintlichen Schwierigkeiten bei der Anpassung an die neue Marktlogik gingen jedoch auf grundlegenden ideologische Differenzen im Verständnis des Gesellschaftsvertrags zwischen Staat und Bürger*innen zurück. Das sowjetische Verständnis von sozialen Rechten basierte auf der Idee einer kollektiven sozialen Absicherung und sah im sozialistischen Staat den ultimativen Garanten für soziale Gerechtigkeit. Die neuen Aktivierungsmaßnahmen hingegen förderten auch einen neuen Gesellschaftsvertrag, der auf gegenseitigen Verpflichtungen zwischen Staat und Bürger*innen basierte, die Bürger*innen für ihr eigenes Wohlergehen verantwortlich machte und sie im Falle von Bedürftigkeit dazu verpflichtete, ihre Unterstützungswürdigkeit unter Beweis zu stellen.
Zwischen 1991 und der Mitte der 2000er Jahre wandten sich die meisten Länder, die vom Staatssozialismus zum Marktkapitalismus übergingen, zunehmend von dem auf kategorischen Ansprüchen basierenden Wohlfahrtsmodell der Sowjetära ab und hin zu einer Politik der zielgerichteten Bedürftigkeitsprüfung. Die Leistungen für als erwerbsfähig eingestufte Personen waren nun nicht mehr nur von ihrer finanziellen Situation abhängig, sondern auch von ihrer aktiven Teilnahme an Umschulungsprogrammen, bezahlter öffentlicher Arbeit oder anderen arbeitsbezogenen Tätigkeiten. Damit wurde staatliche Unterstützung nach Kriterien des Verhaltens und der Moral gewährt. Im offiziellen Diskurs betonte man zunehmend die Notwendigkeit, die Menschen von Transferleistungen zu emanzipieren und ihr Verhalten in Bezug auf ihre wirtschaftliche, soziale und berufliche Lage zu verändern, was eine entscheidende Abkehr von den Grundsätzen der Solidarität und der universellen sozialen Unterstützung der Sowjetzeit darstellte.
Der Übergang zur Marktwirtschaft war in den postsowjetischen Staaten mit hohen sozialen Kosten für die Bevölkerung verbunden. Da – zumindest auf dem Papier – keine Armut existierte und der Staat Beschäftigung garantierte, gab es auch keine armutsbezogene Einkommensunterstützung. Postsozialistische Länder mussten erst neue Institutionen schaffen, um dem dramatischen Anstieg von Armut und Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, was auch tiefgreifende Veränderungen in der Sozialpolitik erforderte. Auch die Sozialsysteme im postsowjetischen Zentralasien blieben von diesen Veränderungen nicht unberührt.
Um ihre Volkswirtschaften für ausländische Investitionen und Handel zu öffnen und den Aufstieg einer neuen Unternehmerklasse zu fördern, setzten Kasachstan und Kirgisistan auf drastische marktliberale Reformen. Trotz unterschiedlicher wirtschaftlicher Voraussetzungen verringerten beide Länder Schritt für Schritt die Rolle des Staates in der Sozialpolitik. An die Stelle des staatlich gewährleisteten universellen Wohlfahrtssystems traten beitragsfinanzierte Programme und zielgerichtete Sozialhilfe mit Bedürftigkeitsprüfungen, die die Familie ins Zentrum der sozialen Absicherung rückten. Betrachtet man den Wandel im politischen Diskurs und die Entwicklung gezielter Sozialhilfeprogramme in Kasachstan und Kirgisistan, so lässt sich in beiden Ländern eine zunehmende Betonung des vertraglichen Charakters der Sozialleistungen feststellen, die die Arbeitsbereitschaft der Empfänger*innen und ihre Motivation, ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern, in den Vordergrund stellt.
Diskurswandel in Zentralasien
Kasachstans Entwicklung hin zum Workfare-System, das auf Zielgruppenorientierung, Bedürftigkeitsprüfungen und Aktivierung setzt, wurde bereits in den späten 1990er Jahren in Regierungsdokumenten thematisiert. Die 1997 veröffentlichte Strategie «Kasachstan 2030» sieht vor, dass der Staat sich nur noch verpflichtet, die vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen zu unterstützen, während für den Rest der Bevölkerung günstige Bedingungen geschaffen werden sollen, um für sich selbst zu sorgen. In der 2012 entworfenen Strategie «Kasachstan 2050» zeichnet sich dieser Trend noch deutlicher ab. Nach dem dort eingeführten Konzept der individuellen Unterstützungswürdigkeit sollten Sozialleistungen ausschließlich Personen gewährt werden, die sich auch aktiv um eine Verbesserung ihrer sozioökonomischen Lage bemühten. Der Staat, so schrieb der damalige Präsident Nursultan Nasarbajew in einem Artikel, müsse vom «unerschöpflichen Geber» zu einem «Partner» werden und die Weichen zu einer «Gesellschaft universeller Arbeit» stellen, in der nur Erwerbstätigkeit ein gutes Leben garantiert. Die Kernfunktion des Wohlfahrtsstaats der Zukunft sollte nicht mehr in der sozialen Absicherung der Bevölkerung liegen, sondern vielmehr in dem, was er als «sozialen Fortschritt» bezeichnete.
Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2019 verfolgt auch Nasarbajews Nachfolger Kassym-Schomart Tokajew das Ideal einer «Gesellschaft der universellen Arbeit» und betont die zentrale Rolle von Lohnarbeit im Kampf gegen Armut. Wiederholt erklärte er die Notwendigkeit eines «Neustarts» der Sozialpolitik mit einer verstärkten Zielgruppenorientierung und übte offen Kritik am bestehenden System der gezielten Sozialleistungen, das seiner Ansicht nach die «Abhängigkeitspsychologie» fördert. Stattdessen plädierte er für eine Anpassung der Zuteilungsmechanismen und eine stärkere Motivation der Menschen zur Arbeit.
Um nach den Unruhen im Januar 2022 das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen, richtete Tokajew seine Sozialpolitik neu aus und stellte dabei die Prinzipien der Gerechtigkeit, Verantwortung und harten Arbeit in den Mittelpunkt. Der «verantwortungsvolle Bürger», so Tokajew, zeichne sich durch harte und ehrliche Arbeit aus. Diese neue Sozialpolitik mündete 2023 in der Verabschiedung eines Sozialgesetzes, in dem die Grundsätze eines neuen, auf individueller Verantwortung beruhenden Sozialvertrags dargelegt sind. Tokajew selbst erklärte dazu: «Im Kern geht es darum, dass der Staat die Erfüllung der erneuerten sozialen Verpflichtungen garantiert und die Bürger*innen Kasachstans ihrerseits anfangen, über ihre Zukunft nachzudenken und Verantwortung und Pflichten zu übernehmen.»
Mit der Verabschiedung des neuen Sozialgesetzes war die Transition von der passiven sozialen Unterstützung hin zu einem Aktivierungsmodell vollendet: Das Ziel der Sozialleistungen in Kasachstan besteht nun an erster Stelle darin, Menschen mit geringem Einkommen zur Arbeit zu motivieren und verantwortungsbewusstere und unternehmerischere Subjekte zu formen.
Sowohl Kasachstan als auch Kirgisistan haben sich, wenn auch unter Anwendung unterschiedlicher Bedingungen und in unterschiedlichem Tempo, schrittweise in Richtung Aktivierung bewegt, wobei sie die moralischen Verpflichtungen der Leistungsempfänger*innen betonten.
Wie in Kasachstan vollzog sich in Kirgisistan in den 1990er Jahren mit der Einführung von Bedürftigkeitsprüfungen und Zielgruppenorientierung die Abkehr vom universellen Wohlfahrtssystem der Sowjetunion, um angesichts der damaligen gravierenden Wirtschaftskrise und des begrenzten Staatshaushalts den Bedürftigsten Sozialleistungen zu gewähren. Im darauffolgenden Jahrzehnt ging die Optimierung der Zielgruppenorientierung mit einer zunehmenden Betonung der Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Bürger*innen für ihre wirtschaftliche Lage einher. Es zeichnete sich ein neues Verständnis der Rolle des Staates in der Sozialpolitik ab, das sich vom paternalistischen Modell des Sowjetstaates entfernte.
Mit ihrer Strategie zur sozialen Absicherung für 2012–2014 betonte die Regierung die Notwendigkeit, eine «staatliche Vormundschaft» in der Sozialpolitik zu vermeiden, durch die sie die wirtschaftliche Freiheit der Bürger*innen eingeschränkt sah. Stattdessen stellte das Papier ein neoliberales Subjekt in den Vordergrund und meinte, dass staatliche Unterstützung für erwerbsfähige Menschen, die aus der Bedürftigkeit auf eigenen Wunsch herauskommen wollten, vorrangig an die Bedingung geknüpft sein sollte, einer Arbeit nachzugehen. Die Nationale Entwicklungsstrategie für 2018–2040 stellte einen tiefen Wandel in der Rolle des Staates im Sozialsektor dar. Diese sieht eine Gesellschaft vor, in der sich alle bewusst sind, dass ihr Wohlstand nicht nur vom Staat abhängig ist, sondern auch und vor allem von ihrer eigenen Leistung: «Die Rolle des Staates im Sozialsektor entwickelt sich von der derzeitigen Funktion als Hauptdienstleister hin zu der eines Regulators.»
Die Strategie sah zudem umfassende Maßnahmen zur Armutsbekämpfung auf der Grundlage von Sozialverträgen vor, in denen die individuelle Eigenverantwortung bei der Überwindung von Notlagen an erster Stelle stand und die gegenseitige Verpflichtungen zwischen den Bürger*innen und dem Staat regelten. Das Nationale Entwicklungsprogramm bis 2026 entwickelt den Sozialvertragsmechanismus für einkommensschwache Haushalte weiter, um sie unabhängiger aus der Armut zu führen, und plädiert gleichzeitig für eine gezieltere Ausrichtung der Sozialleistungen auf die bedürftigsten Bürger*innen.
Sowohl Kasachstan als auch Kirgisistan haben sich, wenn auch unter Anwendung unterschiedlicher Bedingungen und in unterschiedlichem Tempo, schrittweise in Richtung Aktivierung bewegt. Sie betonen dabei die moralischen Verpflichtungen der Leistungsempfänger*innen und streben eine neue vertragliche Beziehung zwischen den Bürger*innen und dem Staat an, in der Letzterer eine begrenzte Verantwortung hat und sich hauptsächlich gegenüber erwerbsunfähigen Gesellschaftsgruppen (Kindern, Menschen mit Behinderungen und Senior*innen) verpflichtet. Für alle anderen führt der Staat Workfare-Programme ein und beschränkt seine Transferleistungen auf diejenigen, die ihre Unterstützungswürdigkeit durch eine proaktive Arbeitseinstellung unter Beweis stellen und diese als Hauptmittel im Kampf gegen Armut anerkennen. In beiden Ländern baut die Anwendung des «Sozialvertrags»-Ansatzes in der Sozialpolitik auf diesen Grundsätzen auf.
Arbeit als erste Priorität
Die gezielte Sozialhilfe gehört in Kasachstan zu den drei Hauptinstrumenten der Armutsbekämpfung. Seit ihrer Einführung im Jahr 2002 werden Haushalte unterstützt, deren Pro-Kopf-Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt, die prozentual aus dem Existenzminimum errechnet wird und derzeit bei 43.407 Tenge (etwa 81 Euro) liegt. Die Beträge werden für alle Haushaltsangehörigen individuell ermittelt und ergeben sich aus der Differenz zwischen dem jeweiligen Einkommen und der Armutsgrenze. Im Jahr 2023 betrug die durchschnittliche monatliche Zahlung 7.968 Tenge (etwa 15 Euro).
Nachdem Mütter mit mehreren Kindern im Jahr 2019 in spontanen Protesten eine Erhöhung der Sozialleistungen forderten, wurde die Armutsgrenze, die über den Anspruch auf gezielte Sozialhilfe entscheidet, von 50 auf 70 Prozent des Existenzminimums angehoben. Mit der Erhöhung der Anspruchsgrenze stieg auch die Zahl der Leistungsempfänger*innen: Im Jahr 2019 gab es mehr als 2 Millionen Sozialhilfeempfänger*innen, fast doppelt so viele wie in den Folgejahren 2020 und 2021, in denen die Zahl auf rund eine Million sank. Dies veranlasste das Ministerium für Arbeit und Soziale Entwicklung, die Zielsetzung zu überarbeiten und ein Workfare-Element einzuführen, indem mit arbeitsfähigen Familienmitgliedern ein Sozialvertrag unterzeichnet wurde. Der damalige Arbeitsminister erklärte: «Sie haben einen Sozialvertrag unterschrieben: Wenn Sie arbeiten können, müssen Sie auch arbeiten. Wenn Sie nicht arbeiten, erhalten Sie keine Leistungen.»
Im Jahr 2019 führten Gesetzesänderungen eine Unterscheidung zwischen an Bedingungen geknüpfter und bedingungsloser Sozialhilfe ein. Für Haushalte mit mindestens einem körperlich gesunden bzw. erwerbsfähigen Mitglied war der Erhalt gezielter Sozialhilfe an die Unterzeichnung eines sechsmonatigen Sozialvertrags geknüpft. In diesem verpflichteten sich die Unterzeichnenden, an Maßnahmen zur Arbeitsförderung teilzunehmen, einschließlich Ausbildung und Umschulung, der Teilnahme an staatlichen Arbeitsprogrammen oder der Gründung eines Kleinunternehmens. Bei Nichteinhaltung der im Sozialvertrag festgelegten Verpflichtungen wurden nicht nur der erwerbsfähigen Person die Leistungen verweigert, sondern dem gesamten Haushalt, unabhängig vom Status oder Alter seiner Mitglieder.
Obwohl die Regierung den Sozialvertrag als ihre erfolgreichste Aktivierungsmaßnahme zur Armutsbekämpfung anpreist, haben Expert*innen einige Bedenken geäußert.
Die Reform des kirgisischen Sozialsystems fand zwischen 1995 und 1998 statt, als das Gesetz über Sozialleistungen verabschiedet wurde. Dieses Gesetz führte eine einheitliche Monatsleistung ein, die sogenannte «Familienhilfe», eine Form der gezielten Sozialhilfe für Haushalte, deren Einkommen das garantierte Mindesteinkommen unterschreitet. Die Familienhilfe ist das größte Sozialhilfeprogramm des Landes und richtet sich an Haushalte mit Kindern, in denen das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen (Rentenzahlungen und andere Leistungen ausgenommen) unter dem garantierten Mindesteinkommen von 1.000 Som (etwa 11 Euro) im Monat liegt. Im Vergleich zu 2022 ist die Zahl der Kinder, die diese Leistung erhalten, zurückgegangen und liegt nun bei 278.000.
Um diese soziale Unterstützung zu beantragen, müssen Haushalte detaillierte Angaben zu ihrem Einkommen, der Zusammensetzung des Haushalts sowie zu ihren Vermögenswerten wie Land, Vieh und Fahrzeugen machen. Familienmitglieder im arbeitsfähigen Alter müssen entweder angestellt oder als arbeitslos gemeldet sein oder ihre Arbeitsunfähigkeit nachweisen können. Wenn ein körperlich gesundes Haushaltsmitglied über 16 Jahren weder arbeitet noch studiert, wird es bei der Berechnung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Gesamteinkommens der Familie nicht berücksichtigt, was dazu führen kann, dass die Familie ihren Anspruch auf Sozialhilfe verliert. Die Bedingungen sollen, wie aus den Richtlinien des Ministeriums hervorgeht, die Leistungsempfänger*innen dazu anregen, eine Anstellung zu finden oder eine selbständige Tätigkeit aufzunehmen.
Erst kürzlich kündigte das Ministerium für Arbeit, Sozialhilfe und Migration (MASM) eine Verlagerung hin zu Aktivierungsmaßnahmen in der Sozialhilfe an, um durch die Einführung von Sozialverträgen die Zahl der Familienhilfeempfänger*innen zu reduzieren. Der Sozialvertrag wurde 2021 mit Unterstützung des Welternährungsprogramms getestet und 2022 auf das gesamte Land ausgeweitet. Er stellt eine Vereinbarung zwischen einem einkommensschwachen, Familienhilfe beziehenden Haushalt und dem örtlichen MASM-Büro dar. Mit der Unterzeichnung des Vertrags verpflichten sich die Mitglieder des Haushalts, einen Businessplan umzusetzen, während der Staat einen Pauschalbetrag von 100.000 Som (etwa 1.100 Euro) zur Gründung und Entwicklung eines Kleinunternehmens beisteuert. Als Bedingung müssen die Empfänger*innen zustimmen, drei Jahre lang auf Kindergeld zu verzichten. Laut Programmbeschreibung müssen die Empfängerfamilien ein nachweisbares «Arbeits- und Vermögenspotenzial» haben, und der Geschäftsplan muss von einer örtlichen Kommission genehmigt werden. Im Zeitraum von zwei Jahren erhielten 12.800 Familien den Betrag von 100.000 Som, und für 2024 waren weitere 20.000 Verträge geplant.
Laut Regierungsvertreter*innen soll der Sozialvertrag die Eigenverantwortung stärken, Familien dazu anregen, schwierige Lebenssituationen aktiv zu meistern, sie motivieren, ihren Lebensstandard zu verbessern und sich vom Sozialversicherungssystem zu emanzipieren. Darüber hinaus soll er das Kleinunternehmertum stärken und neue Arbeitsplätze schaffen. Obwohl die Regierung den Sozialvertrag als ihre erfolgreichste Aktivierungsmaßnahme zur Armutsbekämpfung anpreist, haben Expert*innen einige Bedenken geäußert und auf mögliche Verstöße gegen Gesetze hingewiesen, die Kindern aus einkommensschwachen Familien staatliche Unterstützung garantieren. Kritisiert wird die Maßnahme auch für ihre mangelnde Transparenz, denn das Fehlen öffentlich zugänglicher Daten erschwert auch eine fundierte Beurteilung der Wirksamkeit des Projekts.
Ein neuer Sozialvertrag?
Die sozialpolitischen Reformen in Kasachstan und Kirgisistan sind Ausdruck einer zunehmenden Fokussierung auf Aktivierungsmaßnahmen und Workfare-Programme, bei denen die Teilnahme am Arbeitsmarkt zur zentralen Voraussetzung für den Erhalt staatlicher Unterstützung wird. Diese Reformen etablieren Eigenverantwortung, Motivation und harte Arbeit als wesentliche Eigenschaften eines idealen Staats- bzw. Arbeitssubjekts.
In den letzten Jahren hat die kasachische Sozialpolitik dezidiert auf die Reduzierung der Abhängigkeit von Staatshilfen in der Bevölkerung hingearbeitet. Die Einführung gezielter Sozialhilfeprogramme und Sozialverträge spielte dabei eine zentrale Rolle. Sie sollten – im Einklang mit dem Ideal einer aus fleißigen, verantwortungsbewussten und ehrlichen Bürger*innen bestehenden «Gesellschaft universeller Arbeit»– die Arbeitsmoral und Eigeninitiative der Bürger*innen fördern.
Die sozialpolitische Wende brachte jedoch auch die Stigmatisierung einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen mit sich, die oft als faul und unselbstständig dargestellt werden. Bedürftigkeitsprüfungen, Auflagen sowie die zunehmende Eigenverantwortung bei der Einschätzung und Bewältigung sozialer und finanzieller Risiken, aber auch die Stigmatisierung von Sozialhilfeempfänger*innen haben zur Folge, dass viele Anspruchsberechtigte keine Sozialhilfe beantragen. Zudem müssen immer wieder neue Anträge gestellt werden, was für Leistungsempfänger*innen einen zusätzlichen bürokratischen Aufwand bedeutet. Ein Bericht von Human Rights Watch aus dem Jahr 2022 zeigt, dass deshalb viele hilfsbedürftige Menschen faktisch ausgeschlossen werden.
Der neue Fokus auf Eigenverantwortung soll zwar die Abhängigkeit der Bevölkerung von staatlicher Unterstützung minimieren, wirft dabei aber auch ethische Bedenken hinsichtlich der Behandlung von Bürger*innen auf, die sich in einer finanziellen Notlage befinden.
In Kirgisistan zielt das Sozialvertragsprogramm darauf ab, einkommensschwache Familien zur Unternehmensgründung zu motivieren. Die begrenzten Mittel, die zur Verfügung gestellt werden, führen jedoch in Verbindung mit unzureichender Ausbildung der Leistungsempfänger*innen und begrenzten Marktchancen insbesondere in ländlichen Regionen dazu, dass vor allem risikoarme Tätigkeiten wie die Tierhaltung aufgenommen werden. Nach Angaben des Arbeitsministers entfielen 2023 59 Prozent der bewilligten Businesspläne auf den Landwirtschaftsbereich, insbesondere Viehzucht und Pflanzenbau. Weitere 24 Prozent betrafen das verarbeitende Kleingewerbe, vor allem Näharbeiten, während zehn Prozent der Leistungsempfänger*innen dienstleistungsorientierte Gewerbe, wie Taxidienste, Schönheitssalons und Kfz-Werkstätten, ins Leben riefen. Nur sieben Prozent wagten sich in den Handel.
Präsident Sadir Dschaparow betonte, dass mehr als 77 Prozent der Sozialvertrags-Unterzeichner*innen bis zu 5.000 Som (um die 53 Euro) und über 22 Prozent bis zu 10.000 Som in der Woche einnehmen. Er präsentierte dies als ein positives Ergebnis. Angesichts der Tatsache, dass viele der Leistungsempfänger*innen mehrere finanziell abhängige Angehörige haben, ist es jedoch wahrscheinlich, dass diese Beträge nicht ausreichen, um den Haushalt aus der Armut zu führen, geschweige denn, das neu gegründete Unternehmen auszubauen. Darüber hinaus berücksichtigt das Projekt nicht in ausreichendem Maße die mangelnden finanzwirtschaftlichen Kenntnisse oder unternehmerischen Kompetenzen der Teilnehmenden. Es erhöht somit das Risiko, dass geförderte Projekte scheitern und die finanzielle Notlage der Leistungsempfänger*innen sich noch weiter verschärft. Zu guter Letzt stellt die Auflage, über längere Zeit auf Kindergeld zu verzichten, eine Gefahr für das Wohlergehen der Kinder dar.
Der neue Fokus auf Eigenverantwortung soll zwar die Abhängigkeit der Bevölkerung von staatlicher Unterstützung minimieren, wirft dabei aber auch ethische Bedenken hinsichtlich der Behandlung von Bürger*innen in einer finanziellen Notlage auf. Kürzlich kündigte die Regierung an, die bisherige Methode der Weltbank zur Feststellung von Armut aufzugeben und eine eigene Methode einzuführen, die sich am chinesischen Modell orientiert. Dabei sollen alle Familienmitglieder, ihre Wohnungen und Autos fotografiert werden und diese Informationen öffentlich zugänglich gemacht werden. Derzeit arbeitet das MASM an einer interaktiven Karte der Leistungsempfänger*innen, die neben der Anschrift, der Anzahl der Kinder und der Dauer und Höhe der bezogenen Leistungen auch ein Foto der Empfänger*innen vor ihrem Haus zeigt. In beiden Ländern kann die Beschuldigung und Bloßstellung der Sozialhilfeempfänger*innen für ihr «Abhängigkeitsverhalten» und ihre angebliche Faulheit zu sozialer Ausgrenzung führen, soziale Spaltung verschärfen und die mit Armut verbundene Stigmatisierung noch weiter vorantreiben.
Auch wenn die neuen Sozialvertrag-Maßnahmen in Kasachstan und Kirgisistan unterschiedliche Anwendungsbereiche und Funktionsweisen aufweisen, lässt sich in beiden eine ähnliche Tendenz hin zu einer Workfare-Politik erkennen, die Armut als Folge persönlicher Versäumnisse betrachtet und den Verdienst durch harte Arbeit zur zentralen Voraussetzung für den Erhalt von Sozialleistungen macht. Dies entspricht auch dem generellen Streben, sich sozialpolitisch von einem bedürfnis- oder rechtebasierten Ansatz abzuwenden und zunehmend die Unterstützungswürdigkeit und Erwerbstätigkeit der Leistungsempfänger*innen zu priorisieren. Die Aufgabe sollte jedoch vielmehr darin bestehen, eine Politik zu schaffen, die Einzelne stärkt, ohne sie zu stigmatisieren oder zu marginalisieren und auf diese Art und Weise eine integrativere Gesellschaft zu fördern.
Übersetzung von Charlotte Thießen und André Hansen für Gegensatz Translation Collective