Analyse | Parteien / Wahlanalysen - Rosalux International - Krieg / Frieden - Libanon / Syrien / Irak Ein erster Schritt auf einem langen Weg

Die Wahl Joseph Aouns zum libanesischen Präsidenten und Wege aus der Krise des Libanon

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9. Januar 2025: Stabschef und neuer Präsident Joseph Aoun wird nach der Vereidigung im Parlament in Beirut mit einer offiziellen Zeremonie im Baabda-Palast empfangen. Er schreitet eine Reihe von Soldaten ab.
9. Januar 2025: Stabschef und neuer Präsident Joseph Aoun wird nach der Vereidigung im Parlament in Beirut mit einer offiziellen Zeremonie im Baabda-Palast empfangen.  Foto: picture alliance / Anadolu | Houssam Shbaro

Anlässlich der Wahl von General Joseph Aoun zum Präsidenten am 9. Januar 2025 gratulierte der ehemalige Premierminister Saad Hariri: «Mabrouk [dt. etwa: Herzlichen Glückwunsch] dem Staat Libanon und seinem Volk» (Hariri, Facebook, 9.1.2025). Die Wahl von General Joseph Aoun sei ein Zeichen der Hoffnung auf die Wiederbelebung der verfassungsmäßigen Ordnung und ihrer Institutionen, um die anstehenden großen Herausforderungen zu bewältigen, so Hariri. Die Wahl sei ein kleiner Schritt auf einem langen Weg und es werde nicht einfach werden, den failed state Libanon wieder zum Leben zu erwecken und in dem neuen regionalen Umfeld langfristig zu stabilisieren.

Die gescheiterten Wahlen und die Tage vor der erfolgreichen Wahl

Die Wahl Aouns beendet das länger als zwei Jahre andauernde Machtvakuum, das durch den Rücktritt von Präsident Michel Aoun[1] im Jahr 2022 und zwölf gescheiterte Versuche, einen neuen Präsidenten zu wählen, entstanden war. Doch schon zuvor war die Lage im Land besorgniserregend. Seit Oktober 2019 befindet sich der Libanon in einer schweren Krise. Die Legitimität des Staates wurde durch eine breite Protestbewegung im Herbst 2019 infrage gestellt (Dingel, 2019). Trotz der Proteste auf der Straße gegen die Regierung konnte sich das politische Establishment bei den Wahlen 2022 bis auf wenige Ausnahmen jedoch wieder durchsetzen.

Bernhard Hillenkamp ist Islamwissenschaftler und Politologe. Er war Landesdirektor des forumZFD in Beirut von 2015 bis 2020. Das forumZFD engagiert sich für die Unterstützung lokaler Akteure der Zivilgesellschaft, die sich für zivile Konflikttransformation einsetzen.

Der UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut, Olivier de Schutter, hatte bereits nach seinem Besuch im November 2021 darauf hingewiesen, dass sich der Libanon «in einer der schlimmsten Wirtschafts- und Finanzkrisen seiner Geschichte» befinde: «Die Zerstörung der Landeswährung, die exorbitanten Preissteigerungen und der Zusammenbruch des Bankensektors haben zu einer allgemeinen Verarmung der Bevölkerung inmitten einer sektiererischen politischen Stagnation geführt.» (De Schutter, 11.4.2022) Verantwortlich dafür sei die Politik, der libanesische Staat einschließlich der Zentralbank, so de Schutter. Der Libanon müsse seinen Kurs ändern. Die internationale Gemeinschaft könne und solle helfen, aber diese Hilfe werde nur dann Wirkung zeigen, wenn strukturelle Reformen beschlossen würden, um den Prozess der Verarmung zu stoppen und den failed state Libanon zu reformieren.

Die Präsidentschaftswahlen im libanesischen Parlament in den Jahren 2022 und 2023 scheiterten an der politischen Blockade verschiedener Parteien. Die tiefen Differenzen zwischen den Blöcken, insbesondere zwischen der von der Hisbollah angeführten Allianz und der Opposition, führten in zwölf Wahlgängen, elf zwischen September 2022 und Januar 2023 und einem weiteren im Juni 2023, zu einer politischen Pattsituation (New York Times, 9.1.2025). Im Januar 2023 erklärte Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah, ein Präsident müsse jemand sein, der, wie er sagte, «den Widerstand nicht verrät» (National News Agency, 8.3.2023). Mit dieser scharfen Botschaft signalisierte er, dass die Hisbollah ihr politisches Kapital einsetzen würde, um unliebsame Kandidaten zu blockieren. Mehreren prominenten Kandidaten, darunter der ehemalige Finanzminister Jihad Azour und der Assad nahestehende Abgeordnete Suleiman Frangieh, gelang es nicht, sich die notwendige Unterstützung zu sichern. Ohne Präsident blieb das Land politisch gelähmt.

Nach dem Massaker der Hamas im Süden Israels und den heftigen militärischen Vergeltungsschlägen der israelischen Armee im Oktober 2023 eskalierte auch die Situation im Libanon. Die Hisbollah startete Angriffe auf Israel und die Südgrenze des Libanon wurde zum Kriegsschauplatz. Damit schwand jede Hoffnung auf eine Lösung der politischen Krise im Libanon (Hillenkamp, 21.12.2023). Die neue Prioritätensetzung vor allem der Hisbollah-nahen Gruppen, die Konfrontation mit Israel und die Solidarität mit der Hamas prägten das politische Handeln und lähmten den innenpolitischen Prozess.

Dies änderte sich jedoch mit der israelischen Eskalation gegen die Hisbollah. Vor allem nach dem gezielten Angriff auf die Führungselite der Hisbollah im September 2024, den Pager- und Walkie-Talkie-Angriffen des israelischen Geheimdienstes, dem Tod des Generalsekretärs der Hisbollah, Hassan Nasrallah, und der massiven Zerstörung der von Schiit*innen bewohnten Gebiete kippte die innenpolitische Situation (Los Angeles Times, 23.10.2024). Unter internationaler Vermittlung und Druck wurde ein Waffenstillstandsabkommen mit Israel geschlossen und im November 2024 ein 60-tägiger Waffenstillstand ausgehandelt. Als Teil des Abkommens und als langfristige Perspektive sollte die Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats, die 2006 den Krieg zwischen der Hisbollah und Israel beendet hatte, vollständig umgesetzt werden. Die Resolution soll als Blaupause für einen langfristigen Frieden dienen und sieht die Stationierung der libanesischen Armee südlich des Flusses Litani zur Ausübung der territorialen Souveränität des libanesischen Staates, die Entwaffnung militanter Gruppen, also der Hisbollah, und die Übertragung des Gewaltmonopols auf den libanesischen Staat sowie ein umfassendes Waffenembargo zur Unterbindung von Waffenlieferungen an die Hisbollah und andere bewaffnete Gruppen im Libanon vor (BBC, 24.11.2024).

In der eskalierenden Situation wurde der Ruf nach erneuten Präsidentschaftswahlen immer lauter. Der schiitische Parlamentssprecher Nabih Berri vertagte dies auf die Zeit nach dem Krieg. Mit dem Sturz Assads in Syrien veränderte sich die Situation in der Region allerdings zusätzlich zu Ungunsten der pro-syrischen und Pro-Hisbollah-Kräfte. Diese grundlegend veränderte regionale Konstellation eröffnete der libanesischen Innenpolitik neue Handlungsoptionen. Mit dem Ende der Kampfhandlungen sollten die Wahlen nun Anfang 2025 stattfinden (The New Arab, 17.10.2024).

Die Wahl Joseph Aouns

Noch eine Woche vor dem Wahltag glaubten viele, dass die Wahl scheitern könnte. In den Talkshows der arabischen Medienhauptstadt Beirut wurde spekuliert und kein*e Politiker*in oder Medienvertreter*in wollte sich festlegen. Einen Tag vor der Wahl des 14. libanesischen Präsidenten titelte die Tageszeitung Al-Akbhar, die Opposition werde Jihad Azour als Alternative vorschlagen (Al-Akbhar, 8.1.2025). Zu diesem Zeitpunkt schien die politische Blockade durch verstärkten internationalen Druck, vor allem der USA und Saudi-Arabiens, überwunden. Vor dem Wahltag hatten der US-Gesandte im Libanon, Amos Hochstein, und der saudische Gesandte, Yezid bin Farhan, zwischen den libanesischen Parteien vermittelt und einen Konsens für Aoun erzielt (Yahya, 10.1.2025).

Als die Hisbollah am Wochenende vor der Wahl ankündigte, kein Veto gegen Joseph Aoun einzulegen, zogen sich immer mehr Präsidentschaftskandidaten zurück. Am Tag vor der Wahl verzichtete auch der Hisbollah-Kandidat Suleiman Frangieh (Assad nahestehend) in einem Interview auf seine Kandidatur. Damit war der Weg frei. Am Wahltag titelte Al-Akhbar entsprechend: «Das Ausland befiehlt: Der Befehlshaber [der Armee] ist euer Präsident – der saudisch-amerikanische Befehl» (Al-Akbhar, 9.1.2025).

General Joseph Aoun erhielt am 9. Januar 2025 im zweiten Wahlgang 99 von 128 Stimmen. Im ersten Wahlgang hatte er nur 71 Stimmen erhalten, da die 30 Abgeordneten der Hisbollah und der mit ihr verbündeten Amal-Bewegung leere Stimmzettel abgegeben hatten. Ein Treffen vor dem letzten Wahlgang zwischen Vertretern der beiden Fraktionen und dem Armeechef brachte den Durchbruch. Eine Quelle des schiitischen Duos erklärte gegenüber dem Fernsehsender Al-Jadeed, man habe sich nach einem «exzellenten Treffen» mit Aoun, bei dem «alle Fragen der Politik, der Sicherheit und des Wiederaufbaus» besprochen worden seien, für ihn entschieden (NahNet, 9.1.2025).

General Joseph Aoun und seine Antrittsrede

General Joseph Aoun (*1964) ist seit 2017 Oberbefehlshaber der libanesischen Streitkräfte. Er stammt aus Sin el-Fil, einem Vorort von Beirut, absolvierte eine Ausbildung an der libanesischen Militärakademie und nahm anschließend an internationalen Ausbildungen, unter anderem in den USA und Frankreich, teil. Er diente in verschiedenen Einheiten der libanesischen Armee. Von vielen wird Aoun für seine Neutralität gelobt, insbesondere während der politischen Krisen und Proteste im Libanon seit 2019. So gelang es ihm, die Armee als Institution aus den konfessionellen und politischen Zerwürfnissen herauszuhalten, die das Land zerreißen.

Traditionell hält der neue Präsident unmittelbar nach seiner Vereidigung eine Rede, in der er seine Visionen für die Amtszeit darlegt. Die Inhalte der Parlamentsansprache Aouns am 9. Januar waren interessant, sehr ambitioniert und konnten nicht alle der 128 Parlamentarier*innen erfreuen (L’Orient Today, 9.1.2025). Er sprach davon, dass «heute eine neue Phase in der Geschichte des Libanon beginnt» und von einer «positiven Neutralität». Er versprach, rasch eine neue Regierung zu bilden, die internationalen Resolutionen umzusetzen, die internationalen Grenzen zu respektieren, Schmuggel und Terrorismus zu bekämpfen, eine israelische Aggression zu verhindern, die staatlichen Institutionen zu reformieren und alle Libanes*innen in diesen Prozess einzubeziehen.

Der Libanon ist aber keine Präsidialrepublik, sondern das Produkt eines konfessionellen Systems, das jeder Regierungsfraktion bestimmte Mitbestimmungsmechanismen und damit auch Blockadepotenziale einräumt: Der Staatspräsident muss der maronitischen Kirche angehören; der mit weitreichenden Rechten ausgestattete Premierminister muss Sunnit, der Parlamentspräsident Schiit sein. Das komplexe Patronagesystem des libanesischen Staates beschränkt sich jedoch nicht auf diese drei Ämter. Alle hohen Posten in der Verwaltung unterliegen dem konfessionellen Proporz. Das hat zur Folge, dass sich Korruption und auch Inkompetenz im politischen und administrativen Apparat ausbreiten können. Dennoch wurden die Wahlen als Meilenstein auf dem Weg zur Bewältigung der zahlreichen Krisen im Libanon gewertet. In der Hauptstadt Beirut feierten die Menschen das Ergebnis (BBC, 9.1.2025).

Libanesischen Quellen zufolge werden in Kürze hochrangige Vertreter aus den Golfstaaten in Beirut erwartet, um den neuen Präsidenten zu treffen. Außerdem plant General Aoun einen offiziellen Besuch in Saudi-Arabien auf Einladung von Kronprinz Mohammed bin Salman, der ihm persönlich zu seiner Wahl gratulierte. Dass der erste Auslandsbesuch des neu gewählten Präsidenten nach Saudi-Arabien geht, hat eine große symbolische Bedeutung. Auch die iranische Botschaft in Beirut begrüßte die Wahl Joseph Aouns zum libanesischen Präsidenten und brachte die Hoffnung auf eine enge Zusammenarbeit beider Länder zum Ausdruck. Ebenso äußerte sich auch die israelische Regierung positiv zur Wahl.

Der Wahlerfolg und die Antrittsrede Aouns spiegeln auch eine Verschiebung der Machtverhältnisse in der Region wider. Das Wort «Widerstand» kam in Aouns Rede nicht vor. Das ist zwar kein «Verrat» am Widerstand, doch mit Begriffen wie «positive Neutralität» setzt sich Aoun klar von seinen Vorgängern ab, was den Pro-Hisbollah-Vertreter*innen sicher nicht gefällt. Auch die Erwähnung der Resolution 1701 ist ein deutlicher Hinweis auf die neue Prioritätensetzung im internationalen Kontext.

Der Blick nach vorn – die unmittelbaren Bewährungsproben Aouns

Aoun steht nun vor mehreren Herausforderungen: Erstens muss er einen Premierministers ernennen, um eine für die Legislative akzeptable Regierung zu bilden (Haboush, 7.1.2025). Bereits wenige Tage nach der Wahl gab der Mufti des Libanon seine Zustimmung zu den Kandidaten, während die Opposition einen Sunniten aus dem Nordlibanon präsentierte.

Mit dem Sturz Assads ist (wahrscheinlich) ein externer Akteur aus der libanesischen Politik verschwunden. Im Vorfeld des Zusammentreffens zwischen Übergangs-Premierminister Najib Mikati und dem syrischen De-facto-Staatschef Ahmed al-Sharaa in Damaskus am 11. Januar 2025 – Mikati war damit der erste libanesische Regierungschef, der Damaskus seit mehr als zehn Jahren besuchte –, sagte der neue libanesische Präsident, es gebe eine historische Gelegenheit für einen «ernsthaften und gleichberechtigten Dialog» mit Syrien (Reuters, 10.1.2025). Während der fünfzigjährigen Herrschaft der Assad-Familie hatte Syrien immer wieder Einfluss auf das Nachbarland Libanon genommen und versucht, die Innenpolitik des Landes zu manipulieren. Nach diesem Besuch und den Äußerungen der neuen syrischen Führung scheint die Einmischung des syrischen Staates in die libanesische Innenpolitik gebannt zu sein.

Zweitens muss General Aoun die Stationierung der libanesischen Armee im Süden des Landes sicherstellen, um den Waffenstillstand zwischen Israel und der Hisbollah zu stabilisieren, und drittens für die Übergabe aller militärischen Hisbollah-Einrichtungen an den libanesischen Staat sorgen, um das Waffenmonopol der libanesischen Armee durchzusetzen, von dem er in seiner Antrittsrede sprach. Aouns Bemühungen werden sich viertens auch auf den vollständigen Rückzug der israelischen Streitkräfte von libanesischem Territorium gemäß dem Waffenstillstandsabkommen konzentrieren müssen. Fünftens wird die Reform der (Verfassungs-)Institutionen und der Verwaltung mit dem Ziel, Korruption zu bekämpfen und Effizienz zu steigern, ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Hier ist mit zahlreichen Widerständen zu rechnen.

Die nächsten libanesischen Parlamentswahlen finden im Mai 2026 statt. Bis dahin wird das Parlament noch nicht nach den neuen Regeln arbeiten, die sich durch die geänderten Machtkonstellationen in der Region und im Libanon ergeben haben. Doch schon bald werden sich die Akteure im Libanon neu gruppieren und auch die Zivilgesellschaft hofft auf eine neue Freiheit. Der iranische Einfluss wird zurückgehen, aber neue externe Kräfte wie Saudi-Arabien und die Golfstaaten werden sich formieren. Akteure wie Saad Hariri werden unter Umständen in den Libanon zurückkehren. Viel wird zudem vom Wiederaufbau des Südens und der südlichen Vororte Beiruts abhängen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit der Iran den Wiederaufbau im Südlibanon mitfinanziert und wie es der Hisbollah gelingt, ihre Institutionen unter den neuen regionalen und nationalen Rahmenbedingungen zu rehabilitieren und weiterhin Wähler*innen an sich zu binden. 

Es wird nun stärker in den Händen der Libanes*innen liegen, den Libanon nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Ob der heutige failed state Libanon wieder mehr Stabilität, funktionierende staatliche Institutionen, eine neue Struktur und mehr Selbstbestimmung im Sinne der Antrittsrede von Aoun erlangen wird, ist noch offen. Der erste Schritt auf einem langen Weg ist getan, viele müssen folgen. Mabrouk, Libanon! Die Hoffnung richtet sich auf einen wirklichen Strukturwandel im Sinne des UN-Sonderberichterstatters de Schutter, nicht auf einen Austausch von Eliten und Abhängigkeiten.


[1] [Michel und Joseph Aoun sind nicht miteinander verwandt, Anm. d. R.]