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Die Spekulation mit Nahrungsmitteln muss beendet werden. Von Jan Urhahn

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Jan Urhahn,

Eingang zum Chicago Board of Trade, der globalen Leitbörse für Mais, Weizen und Hafer. Rechts und links vom Eingang steht eine Frauen-Statue, links mit Agrarwerkzeugen und rechts mit Weizenernte.
Die älteste Futures- und Optionsbörse der Welt, das Chicago Board of Trade (CBOT), ist die globale Leitbörse für Mais, Weizen und Hafer. CC BY-SA 2.0, Vernaccia, via Flickr

In den letzten Jahren sind die Preise für Nahrungsmittel in immer neue Höhen gestiegen – doch muss das wirklich so bleiben? Jahrzehntelang bestimmten ein Überangebot an Agrarprodukten und stabile Preise den Weltmarkt. Doch seit Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt sich ein dramatischer Wandel: Lebensmittelpreise steigen und schwanken zunehmend, was in den globalen Lebensmittelpreiskrisen der Jahre 2007-2008, 2011-2013 und 2020-2023 kulminierte. Welche Rolle spielt hierbei die Spekulation mit Nahrungsmitteln, und was bedeutet das für uns?

Bereits zwischen Februar 2005 und Februar 2008 stiegen die Weizenpreise um 181 Prozent. Die Preisexplosion führte laut Schätzungen der Weltbank dazu, dass weltweit 100 Millionen Menschen zusätzlich unter Hunger litten. Nur wenige Jahre später, von 2019 bis 2022, kletterte der Nahrungsmittelpreisindex der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) von 98,1 auf 144,7. Im Gegensatz zur Ernährungskrise 2007-2008 aber reichten die weltweite Nahrungsmittelproduktion und die Lagerbestände in diesen Jahren aus, selbst ohne die Produkte aus Russland und der Ukraine.

Jan Urhahn leitet das Programm Ernährungssouveränität der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Sitz in Johannesburg, Südafrika.

Dennoch sorgte der Krieg in der Ukraine für einen drastischen Preisanstieg: Innerhalb weniger Tage nach Kriegsbeginn stiegen die Preise für Mais und Weizen um 50 Prozent. Besonders Länder in Afrika und Westasien, die stark auf Getreideimporte aus diesen beiden Ländern angewiesen sind, mussten auf alternative Lieferquellen umschwenken.

Parallel dazu verschärften inflationsbedingte Zinserhöhungen die ohnehin hohe Schuldenlast des globalen Südens. Die öffentliche Auslandsverschuldung der Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen erreichte 2023 über 3.000 Milliarden US-Dollar – das ist doppelt so viel wie noch 2010. Rund zwanzig Länder sehen sich mittlerweile einer gleichzeitigen Schulden- und Ernährungskrise gegenüber.

Die Furcht vor Getreideknappheit löste zudem spekulative Finanzinvestitionen auf den Warenterminmärkten – das sind spezialisierte Börsen für Rohstoffe – aus, sodass die Preise für Nahrungsmittel sich immer mehr vom Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage entkoppelten. Davon wiederum profitierten die Finanzspekulant*innen.

Spekulant*innen investierten während der jüngsten Nahrungsmittelpreiskrise auffallend viel Geld. 4,5 Milliarden US-Dollar flossen Marktstudien zufolge weltweit allein in der ersten Märzwoche 2022 in Fonds, die mit Agrarrohstoffen spekulieren – sonst ist dies der Zufluss eines ganzen Monats. In die zwei größten Agrarfonds, den Teucrium-Weizenfonds und den Invesco DB Agriculture Fund, steckten Anleger in den ersten vier Monaten desselben Jahres 1,2 Milliarden Euro – im Vorjahr waren es, verteilt über zwölf Monate, «nur» 197 Millionen US-Dollar gewesen. Damit hielten die beiden Fonds zusammen Futures-Kontrakte für Weizen, also standardisierte Vereinbarungen, Weizen in der Zukunft zu einem festgelegten Preis zu kaufen oder zu verkaufen, in der Höhe von mehr als der Hälfte des jährlichen britischen Mehlverbrauchs.

Spekulation mit Nahrungsmitteln nimmt zu

Noch bis Ende der 1990er Jahre folgten die Preise an den Warenterminmärkten vorwiegend den Wetternachrichten, dem Umfang der zu erwartenden Ernten und der konjunkturellen Nachfrage nach Öl. Warenterminmärkte für Nahrungsmittel wurden ursprünglich geschaffen, um Landwirt*innen und Händler*innen über den Handel mit standardisierten Verträgen eine Absicherung gegen Preisrisiken zu ermöglichen. Sie waren jedoch von Anfang an vor allem ein Instrument für Großproduzenten und große Nahrungsmittelkonzerne, nie für kleinere und mittelständische Betriebe. Damit unterstützen sie insbesondere die industriellen Strukturen der Massenproduktion und -verarbeitung von Nahrungsmitteln, wie sie in Europa und den USA vorherrschen.

Mit Beginn der 2000er Jahre erlebten die Rohstoffmärkte eine radikale Veränderung. Nach einem globalen Börsenboom, der die Aktienkurse in nie gekannte Höhen getrieben hatte, führten das Platzen mehrerer Spekulationsblasen und die Finanzkrise ab 2008-2009 zu einem Vertrauensverlust in klassische Anlagen wie Aktien, Staatsanleihen oder Immobilien. In diesem Kontext begann die Finanzbranche, Rohstoffe – einschließlich Nahrungsmittel – als neue Anlagemöglichkeit zu vermarkten. Den Grundstein dafür hatte die Investmentbank Goldman Sachs bereits 1991 mit dem Goldman-Sachs-Commodity-Index gelegt, der die Entwicklung der Future-Preise von 25 Rohstoffen – von Aluminium bis Zucker – abbildete. Mit der Einführung von Indexfonds für Rohstoffe konnten institutionelle Anleger (wie Banken und Versicherungen) erstmals Wetten auf Rohstoffpreise abschließen.

Möglich wurde diese Entwicklung durch die fortschreitende Liberalisierung der Finanzmärkte, etwa die Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen, die Lockerung von Regularien für Banken und die Schwächung der Finanzmarktaufsicht. Für Agrarrohstoffe markierte insbesondere der in den USA im Jahr 2000 verabschiedete Commodity Futures Modernization Act einen Wendepunkt, da das Gesetz den Handel mit Rohstoffderivaten zwischen Finanzinstitutionen erheblich erleichterte. Innerhalb weniger Jahre wandelten sich die Rohstoffmärkte grundlegend: Zum ersten Mal in ihrer 150-jährigen Geschichte wurden Rohstoff-Futures nicht mehr ausschließlich zur Preisfindung und Absicherung genutzt. Stattdessen etablierte die Finanzbranche sie als eigenständige Anlageklasse, die in Krisenzeiten eine Diversifizierung und Absicherung für Vermögensportfolios bieten sollte.

Gerade mit Indexfonds haben Banken ein Anlageprodukt geschaffen, dessen Wert sich am aktuellen Stand eines bestimmten Rohstoff-Indexes orientiert. Diese Indizes spiegeln in der Regel die Preisbewegungen von Futures wider. Oft umfassen Rohstoff-Indexfonds eine Mischung aus unterschiedlichen Rohstoffgruppen, wobei Nahrungsmittel wie Weizen und Mais gemeinsam mit Rohstoffen wie Öl, Metallen und Mineralien in einem Korb gebündelt werden. Die Investoren setzen darauf, dass die Rohstoffpreise insgesamt langfristig steigen, und profitieren so von Preissteigerungen auf den Märkten. Diese Fonds werden hauptsächlich von großen Investmentbanken verwaltet und vermarktet. Das oft unkritische Investieren in der Erwartung kontinuierlich steigender Preise führt jedoch häufig zu Spekulationsblasen, die die Märkte destabilisieren können.

Fünf große Agrarkonzerne – die sogenannten ABCCDs (Archer Daniels, Bunge, COFCO, Cargill und Louis Dreyfus) – kontrollieren 70 bis 90 Prozent des weltweiten Getreidehandels.

Auch wenn Indexfonds eine zentrale Rolle spielen, sind sie nicht allein verantwortlich für die exzessive Spekulation mit Nahrungsmitteln. Als Marktkenner setzen Hedgefonds je nach Trend auf steigende oder fallende Preise, um kurzfristige Profite zu erzielen. Zudem werden sie für die zunehmende Korrelation zwischen Währungs-, Aktien- und Rohstoffmärkten mitverantwortlich gemacht. Ein weiterer Faktor ist der Hochfrequenzhandel, bei dem computergesteuerte Systeme in Sekundenbruchteilen Wertpapiere kaufen und verkaufen, was durch kurze Haltefristen und hohe Umsätze gekennzeichnet ist. Diese Praxis kann extreme und schnelle Preisbewegungen auslösen oder Preistrends verstärken.

Besonders problematisch wird es, wenn Akteure sowohl auf den Warenterminmärkten als auch auf den realen Agrarmärkten aktiv sind, da sie Preistrends gezielt manipulieren können, um auf beiden Märkten Gewinne zu erzielen. Beispielsweise können Banken oder Getreidehändler Rohstoffe physisch horten, während sie gleichzeitig auf steigende Preise an den Börsen wetten. Dies ist vor allem in den hoch konzentrierten Getreidemärkten problematisch: Denn fünf große Agrarkonzerne – die sogenannten ABCCDs (Archer Daniels, Bunge, COFCO, Cargill und Louis Dreyfus) – kontrollieren 70 bis 90 Prozent des weltweiten Getreidehandels und üben damit erheblichen Einfluss auf die Preisbildung aus.

Warenterminmärkte und reale Märkte

Die an den Warenterminmärkten ausgehandelten Preise haben erheblichen Einfluss auf die Nahrungsmittelpreise für Verbraucher*innen, die Erzeugerpreise für Landwirt*innen und die Rohstoffpreise für Verarbeitungsbetriebe wie Mühlen, Bäckereien und Lebensmittelhersteller. Obwohl Agrarrohstoffe nur selten direkt an den Warenterminmärkten gehandelt werden, orientieren sich Händler*innen weltweit bei der Preisfindung an den dort festgelegten Tageskursen. Für lager- und transportfähige Güter wie Getreide oder Soja bestimmt oft eine einzige Leitbörse den Weltmarktpreis.

Es gibt zwar Warenterminmärkte auf allen Kontinenten, doch die wichtigsten Agrarbörsen befinden sich in den USA und in Europa. Die erste und bis heute bedeutendste bleibt die 1848 gegründete Chicago Board of Trade (CBOT). Sie ist die globale Leitbörse für Mais, Weizen und Hafer. In Europa spielt die Pariser Börse MATIF eine wichtige Rolle im Handel mit Weizen und Mais, wobei ihre Future-Kurven aber in der Regel den Kursen der CBOT folgen.

Die heutigen Agrarmärkte sind global vernetzt, und Preisentwicklungen in verschiedenen Regionen der Welt stehen in enger Abhängigkeit zueinander. Internationale Handelspreise für bestimmte Nahrungsmittel orientieren sich an den Preisen auf den Warenterminmärkten. Globale Preisbewegungen spiegeln sich zudem direkt in den nationalen Nahrungsmittelpreisen wider.

Viele Länder des globalen Südens sind heute stark von Nahrungsmittelimporten abhängig – eine Folge der lange beispielsweise von Weltbank und Internationalem Währungsfonds propagierten Strategie, auf den Weltmarkt zu setzen und Initiativen zur Förderung der Selbstversorgung zu vernachlässigen. So wurden 2018 etwa 85 Prozent der Lebensmittel in Afrika importiert. Insbesondere arme Menschen in den Ländern des globalen Südens sind den Preisschwankungen und Preisspitzen oft nahezu schutzlos ausgeliefert. Während in Deutschland durchschnittlich etwa zehn Prozent des Einkommens für Nahrungsmittel ausgegeben werden, müssen Familien in ärmeren Ländern bis zu 80 Prozent ihres Budgets dafür aufwenden. Steigende Nahrungsmittelpreise haben dort gravierende Folgen: In Ländern mit niedriger Kaufkraft und hoher Importabhängigkeit führt selbst ein kleiner Preisanstieg schnell zu Ernährungsunsicherheit. Für viele Menschen wird Nahrung schlicht unerschwinglich, oder sie sehen sich gezwungen, ihr geringes Einkommen so umzuschichten, dass Ausgaben etwa für Gesundheitsversorgung oder Bildung stark reduziert werden.

Nach Schätzungen des Bundeszentrums für Ernährung sind aktuell in Deutschland rund drei Millionen Menschen von materieller Ernährungsarmut betroffen.

Aber auch in Deutschland sind etwa 17 Millionen Menschen von Armut bedroht. Besonders Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status sind von den steigenden Lebenshaltungskosten betroffen und können sich eine ausgewogene und gesunde Ernährung nicht mehr leisten. Nach Schätzungen des Bundeszentrums für Ernährung sind aktuell rund drei Millionen Menschen von materieller Ernährungsarmut betroffen.

Die hohe Preisvolatilität bei Nahrungsmitteln ist nicht nur für Verbraucher*innen, sondern auch für Erzeuger*innen verheerend. Langfristig stabile und berechenbare Preise sind essenziell, damit Landwirt*innen ihre Produktion planen und ihre Lebensgrundlagen sichern können. Insbesondere für mittelständische und kleinere Erzeuger*innen machen starke Preisschwankungen jedoch jede Investition zu einem Risiko: Wenn die Preise zum Zeitpunkt der Ernte massiv fallen, können Bauern und Bäuerinnen ihre Kredite oft nicht mehr bedienen. Dies gefährdet nicht nur ihre wirtschaftliche Existenz, sondern verstärkt auch strukturelle Unsicherheiten in der Landwirtschaft.

Spekulation mit Nahrungsmitteln beenden

Es gibt viele Faktoren, die die Nahrungsmittelpreise beeinflussen, wobei die Spekulation einen wesentlichen Beitrag zu Preisspitzen und -schwankungen leisten kann. Diese Schwankungen ermöglichen Spekulant*innen Profite, haben jedoch katastrophale Auswirkungen auf arme Menschen und Erzeuger*innen. Um diese negativen Folgen zu verhindern, muss die Spekulation mit Nahrungsmitteln beendet werden. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre, Positionslimits an den Warenterminmärkten zu verschärfen – also die Menge an Terminkontrakten, die ein Händler oder Investor zu einem bestimmten Zeitpunkt halten oder handeln darf. Dies würde eine hohe Marktkonzentration verhindern und exzessiver Spekulation entgegenwirken.

Mit großer Wahrscheinlichkeit ist ein erheblicher Teil der Störungen in der Preisbildung und der hohen Preisvolatilität mit Indexfonds verbunden, weshalb diese verboten werden sollten. Darüber hinaus sollte es bestimmten Akteuren, die keinerlei direkte Verbindung zum Agrarsektor haben, wie etwa Versicherungen, Pensionsfonds oder reinen Investmentfonds, untersagt werden, an den Warenterminmärkten zu handeln. Zudem ist mehr Transparenz im Handel mit Agrarrohstoffen erforderlich, um die Informationsvorteile der fünf führenden Agrarhandelskonzerne zu begrenzen. Diese Unternehmen sollten zudem wie Banken reguliert werden.

Es gilt zudem, alternative Absicherungsinstrumente zu entwickeln, die es Landwirt*innen und anderen Akteur*innen im Ernährungssystem ermöglichen, sich unabhängig von den Warenterminmärkten gegen Preisschwankungen abzusichern. Eine Möglichkeit hierfür sind Genossenschaften, in denen sich Landwirt*innen zusammenschließen, um sich wechselseitig gegen Preisrisiken abzusichern. Eine weitere Option wären langfristige Verträge zwischen Erzeuger*innen und Händler*innen, in denen Produkte zu festen Preisen abgenommen werden. Dies würde für beide Seiten hohe Planungssicherheit schaffen. Außerdem könnten staatlich festgelegte Preiskorridore für bestimmte Nahrungsmittel geschaffen werden, die Termingeschäfte zur Preisabsicherung unnötig machten.

Es gibt zahlreiche Vorschläge zur Beendigung der Spekulation mit Nahrungsmitteln – nun kommt es auf ihre Umsetzung an.