
Die formale Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung erfolgte 1923, im Jahr darauf wurde es eröffnet. Vor dem Hintergrund dieses Jubiläums hat der Historiker Philipp Lenhard eine neue, umfassende Darstellung über die Geschichte des Instituts vorgelegt. Um es vorwegzunehmen: Das Buch ist gut geschrieben, die Lektüre sei uneingeschränkt empfohlen, auch im Vergleich zur diesbezüglichen klassischen Darstellung von Rolf Wiggershaus schneidet es mit vielen neuen Erkenntnissen gut ab.1
Der Autor kann auf reichhaltige neue Forschungsliteratur zurückgreifen, nicht zuletzt auch auf die vom ihm verfasste und 2019 erschienene, ebenso lesenswerte Biografie über den Instituts-Mitbegründer Friedrich Pollock. Auch die Entstehungsphase dessen, was zur Kritischen Theorie und später zur Frankfurter Schule werden sollte, ist durch mehrere Titel in den letzten Jahren und Jahrzehnten ausgeleuchtet worden. Jüngst hervorzuheben sind hier vor allem die Biografie über Felix Weil von Hans Gruber2 und die Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie von Christian Vollmer.3 Ferner zieht Lenhard die verschiedenen veröffentlichten Schrifteneditionen heran, daneben arbeitet er mit Archivmaterial aus verschiedenen Institutionen hauptsächlich in Deutschland und den USA.
Jeder der sechs Teile beginnt mit einem kurzen Text, die das jeweilige Thema einleitet und atmosphärisch einfängt, in diesem Falle also ein gelungenes Stilmittel. Lenhard gewinnt dem Gesamtthema eine neue Perspektive ab: Er schreibt gewissermaßen (auch) eine Geschichte der Gebäude, allen voran des eigentlichen Instituts, in denen die Kritische Theorie entwickelt wurde. Durch seine Schilderungen gewinnt man einen guten Eindruck von der jeweiligen Arbeitsatmosphäre und vom Gebäude selbst. Das Institut wird, wie einleitend versprochen, als «konkretes Gebäude», «Treffpunkt für Wissenschaftler» und als «Forschungseinrichtung» erfasst, ebenso als sich «permanent verändernde Idee» (S. 8) vorgeführt. Was seine Darstellung noch von anderen Titeln entscheidend unterscheidet, ist der Umstand, dass er den vielen Mitarbeiter_innen und engen wie losen Weggefährten bis hin zu Studenten und verwaltenden Angestellten jenseits der wichtigen Akteure rund um Felix Weil, Friedrich Pollock, Max Horkheimer und später Theodor W. Adorno Platz einräumt. Die alltäglichen Routinen geraten so in den Blick, der Ort des Instituts – in den 1920er Jahren landläufig auch als «Café Marx» bezeichnet – als solcher wird ganz konkret vor Augen geführt. Auch die finanziellen Verhältnisse und Arbeitsabläufe werden dargestellt. Es hätten gern noch mehr Fotos eingebunden werden können, was die Anschaulichkeit noch erhöht hätte, zumal der Autor an einigen Stellen auf von ihm auch beschriebene Aufnahmen verweist, diese selbst aber nicht inkludiert sind.
Die Darstellung beginnt mit dem Ersten Weltkrieg und dem Zustand marxistischen Denkens rund um das Jahr 1918 und in den frühen 1920er-Jahren. Alle folgenden Stationen werden chronologisch dargestellt: von der Gründung des Instituts durch Felix Weil und Kurt Albert Gerlach, über die Institutsführung durch Carl Grünberg, der folgenreichen Richtungsänderung durch Marx Horkheimer ab 1930 und der langen, beschwerlichen Exilzeit in den Vereinigten Staaten bis hin zur Rückkehr nach Frankfurt. Endpunkt des Buches ist der Tod Horkheimers 1973. Die hieran anschließende Zeit bis in unsere Gegenwart wird in einem kurzen sechsten Teil nur gestreift. Das ist auch wohl begründet: «Was in den sechziger Jahren als Frankfurter Institut galt, ist weder mit der Kritischen Theorie noch mit der gesamten Ideengeschichte des Instituts für Sozialforschung identisch» (S. 513) – gehört also nicht zum Kern der Darstellung. Wie wichtig diese Differenzierung ist, macht Lenhard mit seiner gelungenen Darstellung deutlich.
Zur besseren zeitlichen Übersicht und Orientierung wäre es schön gewesen, hätten die vielen auftauchenden Personen jenseits der bekannten Persönlichkeiten durch die Angabe der jeweiligen Lebensdaten (sofern ermittelbar) eine bessere Einordnung erhalten. Einige Schicksale werden eindrücklich geschildert. Eine weitere Lücke ist die fehlende Auswertung der Seminaraufzeichnungen Adornos, die seit 2021 gedruckt in vier Bänden vorliegen.4
Was leider ebenfalls fehlt, ist ein Gesamtverzeichnis der verwendeten Literatur. So wird im Nachhinein die Suche nach spezifischen Titeln erschwert: Jedes Kapital verfügt über eigene Endnoten, nur bei erstmaliger Nennung wird der volle Titel der verwendeten Literatur angegeben. Auch hätte die Orientierung am Klassiker Wiggershaus an einem Punkt gutgetan: Die Auflistung des literarischen Schaffens der Hauptakteure der Kritischen Theorie samt der abgeschlossenen und neuen Editionen und Briefwechsel wurde hier leider versäumt. Es gibt ein Personenverzeichnis, dem zumindest die erwähnte Nennung der Lebensdaten gutgetan hätte.
Es wäre erfreulich und ist sehr für die internationale Debatte zu wünschen, wenn dieses Buch schnellstmöglich ins Englische übersetzt werden würde, würde doch dann so einigen Vorurteilen, die sich in der Metapher des «Grand Hotel Abgrund» bündeln, entgegengearbeitet werden können.
Lenhard gelingt es in sorgfältiger Detailarbeit, dem Themenkomplex Kritische Theorie neue Erkenntnisse und Aspekte hinzuzufügen und dem Kanon ein weiteres Grundlagenwerk hinzuzufügen. Wem nach einer Fortsetzung zumute ist, der greife auf «Adornos Erben»» von Jörg Später5 zurück.
Philipp Lenhard: Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule, C.H. Beck, München 2024, 624 Seiten, 34 Euro
1 Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München 1986.
2 Hans-Peter Gruber: «Aus der Art geschlagen». Eine politische Biografie von Felix Weil (1898–1975), Frankfurt am Main/New York 2022, vgl. die Rezension von Sebastian Klauke.
3 Christian Voller: In der Dämmerung. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie, Berlin 2022. Siehe hierzu die Besprechung: Sebastian Klauke: Wenn die Eulen fliegen, nd.de, 16.12.2022, .
4 Die Frankfurter Seminare Theodor W. Adornos. Gesammelte Sitzungsprotokolle 1949–1969, Bd. 1–4, hrsg. v. Dirk Braunstein, Berlin/Boston 2021.
5 Jörg Später: Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik, Berlin 2024.
Diese Rezension erschien zuerst in der Ausgabe 1/2025 von Arbeit-Bewegung-Geschichte. Zeitschrift für historische Studien.